Ende Oktober war ich auf dem St. Cuthbert’s Way unterwegs. Sechs Tage zu Fuß von Melrose in den Scottish Borders nach Lindisfarne in Northumberland. Auf den Spuren des großen angelsächsischen Heiligen aus dem siebten Jahrhundert, der Novize in Melrose war und später Prior und Bischof von Lindisfarne.
Ich bin den Weg ganz bewusst allein und als Pilgerweg gegangen. Und hatte mir als Motto einen Gedanken von Friedrich Nietzsche eingepackt:
So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.
Nach einem Tag Anreise mit der Bahn (trotz Sturmtief über Europa hatten alle Umstiege geklappt) von Nürnberg nach Durham stand ich am nächsten Morgen auf, ging in der Morgensonne ein Stück am River Wear entlang und dann hinauf in die Kathedrale. Samstags um halb neun war es dort noch ganz still und leer, nur hinter dem Hochaltar hatte sich eine kleine Gruppe zum Morgengebet am Grab von St. Cuthbert eingefunden. Einen schöneren Einstieg ins Pilgern hätte ich mir kaum vorstellen können.
Geschichte unter den Füßen
Die Bahn brachte mich dann über Edinburgh Waverley in die Scottish Borders. Dort am River Tweed wartete die erste der insgesamt vier Border Abbeys, die die schottischen Könige im 12. Jahrhundert erbauen ließen. Das keltische Vorgängerkloster lag ein bisschen weiter flussabwärts. Der St. Cuthbert’s Way führt aber dort nicht vorbei (es gibt auch nichts mehr zu sehen), sondern über die Vulkankegel der Eildon Hills nach St. Boswells – benannt nach dem Iren Boisil, Lehrer und Mentor des jungen Cuthbert. Auf den ersten Etappen sind drei der vier Border Abbeys zu sehen: Melrose, Dryburgh und Jedburgh. Für die letzte muss man ein paar Kilometer vom eigentlichen Weg abweichen. Nur Kelso bleibt buchstäblich links liegen. Alle Border Abbeys sind Ruinen. Wenn es nicht die Kriege zwischen England und Schottland waren, dann die Reformation.
Ich befinde mich auf geschichtsträchtigem Boden. In den Eildon Hills gab es eisenzeitliche Befestigungen, in Melrose stand das Römerlager Trimontium und einige Kilometer des Pilgerwegs verlaufen auf der Route einer Römerstraße. Im Alltag mache ich mir das selten bewusst, wer da alles schon vor mir unterwegs war und wie lange. Der Weg verbindet über die lange Zeit hinweg. Ich folge in den Fußstapfen vieler anderer, auch wenn ich ganz allein unterwegs bin. Die Geschichte, die mich dabei am meisten interessiert, ist die des jungen Angelsachsen Cuthbert. Mary Low weiß in ihrem Buch über den St. Cuthbert’s Way für jeden Abschnitt des Weges etwas zu erzählen.
Wind und Wetter um die Ohren
Es liegt nahe, den Weg von West nach Ost zu gehen. Die Chronologie passt zur vorherrschenden Windrichtung. Und Ende Oktober ist es ein großer Unterschied, ob der Wind mich schiebt oder mir ins Gesicht bläst. Natürlich war ich auch auf Regen eingestellt, aber am Ende waren die wasserdichten Sachen nur am zweiten Tag nötig, sonst war es ganz überwiegend trocken und oft auch sonnig. Die Tage wurden kurz, die Sonne ging gegen halb fünf schon unter, für ausgedehnte Pausen oder größere Umwege war kaum Zeit. Aber die Beschränkung der Zeit fokussiert auch – der Blick geht konsequenter als sonst nach vorn, auf den Weg.
Mein wunder Punkt
Ab dem dritten Tag wurde das Etappenziel auch aus einem weiteren Grund immer wichtiger: Ich stellte fest, dass meine Beine 25 km am Tag locker wegsteckten und dass mein mit viel Bedacht gepackter Rucksack gut zu tragen war. Was ich nicht erwartet hatte, waren die wunden Füße. Meine alten, eingelaufenen Wanderstiefel entpuppten sich als zu eng. Über Nacht erholten sich die Füße immer ein bisschen, die erste Hälfte des Tages ging einigermaßen, aber dann schmerzte jeder Schritt – bergab immer noch etwas mehr als bergauf. Die Landschaft war immer noch wunderschön, aber der Genuss war getrübt und die Gedanken wollten auch zu keinen größeren Höhenflügen mehr ansetzen. Außer der nicht ganz unwichtigen Einsicht, dass ich es für völlig selbstverständlich gehalten hatte, dass mich meine Füße den ganzen Weg tragen. Aber das war es nicht, ich hatte sie zu sehr strapaziert. Am vierten Tag bog ich für das letzte Drittel vom Weg durch die Cheviot Hills ab und nahm den Bus nach Wooler. Es fühlte sich ein bisschen nach Niederlage an. Aber ich wusste: Es war richtig, Rücksicht zu nehmen und die Grenze zu respektieren, die der Schmerz markierte.
Das Finale
Nach Hoły Island, da muss man barfuß gehen, sagte eine Einheimische zu mir am Morgen vor dem letzten Stück Weges. Ich hatte das letztes Jahr schon mal gemacht, aber das war Anfang Juni gewesen und mit unversehrten Füßen. Aber irgendetwas sagte mir, dass ich den Rat befolgen sollte. An der Nordsee angekommen, zog ich die Schuhe aus und lief den Pilgerweg über den nassen Sand barfuß. Lindisfarne ist eine Gezeiteninsel. Als ich ankam, hatte ich sämtliche Blasenpflaster verloren. Das Meerwasser tat der Haut gut. Ich schrubbte den nassen Sand ab, zog Socken und Stiefel wieder an und ging zur Priory, der letzten und wichtigsten Klosterruine auf diesem Pilgerweg. Es waren Herbstferien und der Ort voller Ausflügler. Etwas abseits sind auf einer Erhebung die Grundmauern der Kirche des keltischen Klosters zu sehen. Man kann schön nach Bamburgh hinüberschauen, wo die Könige von Northumberland residierten. Es war kühl und hinter den Wolken sank die Sonne dem Horizont entgegen. Ich entschloss mich, den Rückweg noch einmal barfuß zu gehen. Diesmal war ich ganz allein. Auf einer Sandbank in der Nähe konnte ich im schwächer werdenden Licht eine Gruppe Kegelrobben sehen. Der Wind trug ihren mehrstimmigen Gesang herüber über die stille Meerenge. Ich war, von ein paar Seevögeln abgesehen, in diesem Konzert der einzige Zuhörer. Nach einer Weile verlor sich der Gesang in der Ferne. Aber der Zauber dieses Abschieds begleitete mich in die anbrechende Nacht.
Die innere Unruhe, die ich am Grab des Cuthbert noch mit mir herumgetragen hatte, war verschwunden. Eine große Dankbarkeit war an seine Stelle getreten.
Der Advent beginnt mit einer Kerze. Und je dunkler die Tage werden, desto mehr festliche Lichter kommen dazu. Leuchtende Kinderaugen, Süßigkeiten, Geschenke. So weit, und hoffentlich so gut. Schön, dass bald Weihnachten ist. Aber davon wird die Welt ja nicht automatisch besser. Das Gute in meinem Leben und in der Welt kennt leider weder Kalender noch Jahreszeiten. Es hält sich an überhaupt keinen Fahrplan. Krisen und Katastrophen beherrschen nach wie vor die Schlagzeilen. Fast drei Viertel der Deutschen gehen wenigstens zeitweise den Nachrichten aus dem Weg. So viele waren es noch nie. Und ich kann das gut verstehen. Es ist schwer auszuhalten.
Da hilft nicht einmal Urlaub. Selbst im idyllischen Irland haben stoplere ich dieses Jahr über die eindringlichen Mahnmale der großen Hungersnot. Das erste gleich auf dem Weg vom Hafen in die Innenstadt von Dublin, das andere tags darauf ganz im Westen am Fuß des Croagh Patrick, des Heiligen Berges der Iren. In Irland brach 1845 die Kartoffelfäule aus. Eine Million Iren verhungerten, auch weil die englischen Grundherren keinen Finger krumm machten. Seit sieben, acht Generationen arbeiten sich die Iren an ihrem nationalen Trauma ab. Der Anblick erinnert mich sofort wieder an himmelschreiendes Elend heute, vor allem den Hunger der Menschen in Gaza und im Sudan. Und ich frage mich: Wie lange wird der dunkle Schatten auf den Kindern und Kindeskindern derer liegen, die das jetzt alles durchmachen?
Was kann ich von Gott erwarten? Einen Hinweis darauf habe ich in einer Geschichte aus der Bibel entdeckt, die vor fast dreitausend Jahren spielt. Sie erzählt dramatisch von Hunger, Krieg und Tragödien; aber sie steckt auch voll rebellischem Humor. So, dass ich das Gefühl habe: Nicht ich lese diese Geschichte, sondern diese Geschichte liest mich und meine Gegenwart.
Von Feinden umzingelt
Wir befinden uns in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Auch da gibt es Krieg und Hungersnot (2. Könige 6,24-7,20): Die feindlichen Aramäer haben einen Belagerungsring um die Stadt Samaria gezogen. Es herrscht Hyperinflation bei Lebensmitteln, schließlich gehen sie ganz aus. Die Leute schwanken zwischen Resignation und Panik. Ein Fall von Kannibalismus sorgt für Aufsehen. Und mittendrin der König von Israel, der erschüttert die aussichtslose Lage besichtigt.
Als der König … auf der Mauer entlangging, sah das Volk, dass er ein Bußgewand auf dem bloßen Leib trug. Er rief: Gott soll mir dies und das antun, wenn Elischa … bis heute Abend seinen Kopf behält.
Bevor er verhungert oder kapituliert und vermutlich getötet wird, hat der König noch eine alte Rechnung zu begleichen. Sein treuester Kritiker, der Prophet Elischa, ist auch in der Stadt. Immer wieder hat Elischa den selbstherrlichen Monarchen die Leviten gelesen, ihr Unrecht angeprangert und vor den Folgen gewarnt. Ihn sterben zu sehen, würde die Gefahr zwar nicht abwenden, aber dem König ein bisschen Genugtuung verschaffen. Und die Illusion aufrechterhalten, dass er ein mächtiger und tatkräftiger Mann ist – wenigstens noch ein paar Stunden lang.
Und ich, der fast 3.000 Jahre später davon liest, staune nicht schlecht über die Parallelen: Damals wie heute leiden die großen und kleinen Despoten unter einem Belagerungssyndrom. Alles, was ihnen nicht unterwürfig genug ist, deuten sie als Generalangriff und Majestätsbeleidigung. Kritik im Inneren wird, wenn der Druck von außen zunimmt, nur um so brutaler bekämpft. Und nicht selten versuchen diese Machthaber, ihre Racheakte und Rechtsbrüche religiös zu bemänteln. Sie benutzen Gott, um ihre Willkür zu legitimieren. Aber sie pfeifen auf sein Recht, das die Schwachen schützt.
Für den König von Israel ist Elischa, der ihm ständig widerspricht, ein Verräter. Doch Elischa ist erstens ein Prophet, und er kennt den König zweitens gut genug, um dessen Mordgedanken vorauszuahnen. Die Tür ist fest verbarrikadiert, als der König mit Leibgarde vor seinem Haus aufkreuzt. Er steht draußen – frustriert, dass er seinen Kontrahenten nicht zu fassen kriegt.
Und da entfährt ihm der vermutlich ehrlichste Satz seit Langem:
„Dieses Elend kommt vom Herrn. Was soll ich noch vom Herrn erwarten?“
Was soll ich noch vom Herrn erwarten? Das haben sich damals vermutlich alle in Samaria gefragt. Mit dieser Frage bin auch ich heute am ersten Advent garantiert nicht allein. Was kann ich von Gott erwarten angesichts der harschen, bitteren Realitäten im Advent 2025? Die ungelöste Klimakrise, die wackeligen Demokratien, die wachsende Armut und Ungleichheit, die Rückkehr des Faustrechts in die Weltpolitik – und von den persönlichen Krisen und Tragödien in meiner Umgebung haben wir noch gar nicht geredet. Hat Gott sich aus der Welt zurückgezogen und überlässt uns unserem mal mehr, aber oft auch weniger verdienten Schicksal? Wer kann sich ohne rosa Brille einen Advent – Gottes Ankunft in der Welt, dieser Welt – vorstellen?
Was kann ich von Gott erwarten? Wenn irgendwer auf diese Frage eine Antwort weiß, dann vermutlich der Prophet. Und tatsächlich hat Elischa dem König etwas zu sagen. Es kommt schroff und unverblümt heraus wie immer, wenn er spricht, aber diesmal sind es unverschämt gute Neuigkeiten:
Elischa entgegnete: Hört das Wort des Herrn! So spricht der Herr: Morgen um diese Zeit kostet am Tor von Samaria ein Eimer Feinmehl nur noch einen Schekel und auch zwei Eimer Gerste kosten nur noch einen Schekel.
Der Adjutant, auf dessen Arm sich der König stützte, antwortete dem Gottesmann: Selbst wenn der Herr Schleusen am Himmel anbrächte, könnte das nicht geschehen. Elischa erwiderte: Du wirst es mit deinen eigenen Augen sehen, aber nicht davon essen.
Elischa ist vielleicht die einzige Person in der Stadt, die nicht am Belagerungssyndrom leidet. Der nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starrt oder blind um sich schlägt, wenn er nicht weiter weiß. Aber was er da von sich gibt, ist für den König und seine Offiziere einfach zu gut um wahr zu sein. Der Stabschef winkt ab. Das letzte, was er jetzt brauchen kann, ist so ein vollmundiges Versprechen, das die Enttäuschung nur noch verschlimmern könnte, falls es nicht in Erfüllung geht. Besser den Ball flach halten…
Hier bricht das Gespräch zwischen König und Prophet ab. Es gibt nichts mehr zu sagen und zu tun. Alle warten ab, was als nächstes geschieht. Und als es dann geschieht, bekommt es erst einmal niemand mit.
Vor dem Eingang des Stadttors saßen vier aussätzige Männer. Sie sagten zueinander: Warum sitzen wir hier, bis wir sterben? Wollten wir in die Stadt gehen, in der Hungersnot herrscht, dann sterben wir in ihr. Bleiben wir draußen, dann sterben wir auch. Kommt, wir gehen in das Lager der Aramäer hinüber! Wenn sie uns am Leben lassen, bleiben wir am Leben. Wenn sie uns töten, so sterben wir.
Draußen vor dem Tor, im Niemandsland zwischen Freund und Feind, sitzen die vier Aussätzigen. In der Stadt sind sie unerwünscht, weil die Leute drinnen Angst haben, sich anzustecken. Und weil manche finden, sie schaden dem Stadtbild. Hunger und Krieg treffen die Kranken, Schwachen und Fremden immer als erste und am härtesten. Aber bei den Vieren ist erstaunlich viel Lebenswille vorhanden. Und der Mut der Verzweiflung: Mehr als umbringen können sie uns nicht. Wir haben nichts mehr zu verlieren. Aber einen letzten Versuch haben wir noch. Mit den letzten Sonnenstrahlen im Rücken wagen sie sich vorsichtig ans Heerlager heran. Schlafen die alle schon, oder warum ist es so ruhig? Nein, der Ort sieht verlassen aus. Und der Erzähler weiß auch warum: Die Aramäer hatten in der Dämmerung verdächtige Geräusche gehört und waren in Panik verfallen, weil sie dachten, die Ägypter oder eine andere benachbarte Großmacht käme dem König von Israel zu Hilfe. Hatte es alles schon gegeben. Also – nichts wie weg!
Als nun die Aussätzigen in den Bereich des Lagers kamen, gingen sie in ein Zelt, aßen und tranken, nahmen Silber, Gold und Kleider und entfernten sich, um die Beute zu verstecken. Dann kamen sie zurück, gingen in ein anderes Zelt, machten auch hier ihre Beute und entfernten sich wieder, um sie zu verstecken. Dann aber sagten sie zueinander: Wir handeln nicht recht. Heute ist ein Tag froher Botschaft. Wenn wir schweigen und bis zum Morgengrauen warten, trifft uns Schuld. Kommt also; wir gehen und melden es im Palast des Königs.
Nichts zu verlieren
Über Nacht werden die Aussätzigen zu den Hauptpersonen dieser Geschichte. Menschen, die eine infektiöse Hautkrankheit von einem Tag auf den anderen aus ihrem gewohnten Leben herausgerissen hat. Sie halten sich in einer Art Quarantäne-WG unter freiem Himmel über Wasser. Abgeschoben an den Rand, ausgeschlossen vom sozialen Leben, ohne Perspektive auf Rückkehr. Die Gesunden machen einen Bogen um sie und tuscheln hinter ihrem Rücken: Die Krankheit sei bestimmt die Strafe für irgendeine böse Tat, man wisse nur nicht, was genau. In heutigen Kategorien hieße das: Chronisch krank, erwerbsunfähig, geduldet ohne Aufenthaltserlaubnis. Die Gescheiterten, von denen niemand mehr etwas erwartet.
Die Szene erinnern mich an die Antihelden der Streaming-Serie „Slow Horses“. In dem schwarzhumorigen Spionagethriller nach der Buchvorlage von Mick Herron retten ein paar ausgemusterte Agenten des britischen MI5 ihr Land und die Welt vor Verbrechern und Terroristen. Und zwar gerade weil niemand mit den verkrachten Existenzen mehr rechnet. Mick Jagger hat mit Strange Game den Titelsong dazu geschrieben: „Losers“ und „Misfits“ nennt er die Slow Horses: Sonderlinge, die nirgendwo hineinpassen. Aber in diesem merkwürdigen Spiel haben sie die blutige Nase vorn.
Die Misfits von Samaria stehen auch mit einem Schlag im göttlichen Rampenlicht. Sie haben eine Entdeckung gemacht, die über Leben und Tod all der Gesunden und Gesettelten entscheidet.
Verlierer und Abgeschriebene erinnern mich auch an Sätze aus dem Neuen Testament über Glaube und Nachfolge. An die Worte von Jesus, der sagt:
Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. (Mt 16,25)
Paulus umschreibt das ein paar Jahre später in einem Brief und sagt sinngemäß: „Als Jesus damals gekreuzigt wurde, da bin ich, ohne dass ich es wusste, mitgestorben. Eigentlich bin das gar nicht mehr ich, der hier spricht und handelt. Sondern er – Christus.“ Und eben darin findet er die Freiheit, alle möglichen Gefahren und Strapazen auf sich zu nehmen, um von diesem Leben aus Gott zu erzählen. Das da erst richtig anfängt, wo man denkt, alles geht zu Ende. Manchmal spüre ich das auch: Wie ich am Ende meiner Kräfte, meiner Geduld oder meiner Weisheit nicht zusammenklappe und ins Bodenlose falle. Mit einem Mal ist da eine Kraft und ein Wille, der nicht aus mir selbst kommt. Egal, was ich gerade verliere, Gott hat mich nicht verlassen. Ein Freund erinnerte mich passend dazu diese Woche an den Satz von Kris Kristofferson: „Freedom’s just another word for nothing left to lose.“
Belagert im Kopf
Von ihrer aberwitzigen Entdeckung, dass niemand mehr da ist im feindlichen Lager und dass es dort genug zu essen und zu trinken gibt, wollen auch die Aussätzigen erzählen: Nach halb durchzechter Nacht und mit vollen Taschen und Bäuchen legen sie sich also nicht schlafen. Sie gehen zurück zur Stadt. Aber der König will ihre Wahrheit nicht hören. Er verbreitet eine andere.
Da schlugen die Wächter Lärm und man meldete es drinnen im Palast des Königs. Noch in der Nacht stand der König auf und sagte zu seinen Leuten: Ich will euch erklären, was die Aramäer gegen uns planen. Sie wissen, dass wir Hunger leiden, und haben das Lager nur verlassen, um sich auf dem freien Feld zu verstecken mit dem Hintergedanken: Wenn sie die Stadt verlassen, nehmen wir sie lebendig gefangen und dringen in die Stadt ein.
Auch das ist Advent: Da erscheint Gott auf der Bildfläche in Gestalt der vier Aussätzigen und bringt die ersehnte Hilfe, aber er bekommt kein fröhliches „Macht hoch die Tür“ zu hören. Stattdessen Rolladen runter, Misstrauen und Verschwörungserzählungen. Die Belagerung im Kopf ist noch in vollem Gange. Ich kenne das aus den Erzählungen der Kriegskinder vor 80 Jahren. Als die Amerikaner kamen, um den Frieden und das Recht wiederherzustellen, verschenkten sie auch Orangen und Schokolade. Nicht selten unkten die propagandahörigen Alten: „Geht bloß nicht hin. Die vergiften euch!“ Die Schwarzmaler, die jedes Geschenk für eine Falle halten, sitzen allzu oft selbst in der Falle – in der Falle ihrer Ängste und Albträume. Die Belagerung im Kopf ist immer noch da, als die äußere Belagerung schon längst vorbei ist.
In Samaria finden sie schließlich eine pragmatische Lösung: Ein paar schnelle Pferdegespanne werden zur Erkundung vorgeschickt. Als die Bestätigung eintrifft, dass die Feinde tatsächlich abgezogen sind, gibt es kein Halten mehr am Stadttor. Und weil der skeptische Stabschef des Königs nicht schnell genug Platz macht, rennt ihn die hungrige und aufgeregte Menge kurzerhand über den Haufen.
Im Advent 1986, vor fast 40 Jahren, habe ich in Amsterdam einen Gottesdienst besucht. Der ist mir seither nicht aus dem Sinn gegangen. Ein Pfingstprediger aus Amerika spricht über die Aussätzigen von Samaria. Davon, dass die Kirche sein könnte wie diese „Misfits“, diese Außenseiter, die einfach mal was riskieren. Aber damit nicht genug: Plötzlich redet er davon, dass der eiserne Vorhang in Kürze fallen wird und die Türen der Länder des damaligen Ostblocks offen stehen. Gott habe ihm das gezeigt.
Das ist der Punkt, wo ich innerlich aussteige. Ich bin als Kind ganz nah an der innerdeutschen Grenze aufgewachsen. Bei jedem zweiten Sonntagsausflug war irgendwo das bedrohlich schwarze Band des Todesstreifens zu sehen. Der bange Blick auf Wachtürme, Minenfelder, Stacheldraht, Selbstschussanlagen. „Der weiß nicht, wie das ist“, denke ich. „Der hat das nur mal auf der Durchreise gesehen. Das geht nicht von heute auf morgen einfach weg.“
Drei Jahre später, im November 89, sitze ich sprachlos vor dem Fernseher. Jubelnde Menschen fluten den Checkpoint Charlie. Wie damals das Stadttor von Samaria, nur dass hier niemand im Weg steht. Es wird nicht geschossen, niemand wird daran gehindert, die Brücken und Mauern zu überqueren.
Der Prophet war wirklich einer! Er hatte Recht und ich, ich hab’s nicht kommen sehen. Mein Kopf und mein Herz waren belagert.
Ich finde, Samaria ist kein schlechtes Bild für unsere Gegenwart: Wir werden umzingelt von allerlei Feinden, die wir selbst stark gemacht haben.
Von Despoten, deren Aufrüstung wir mit Öl- und Gasgeschäften möglich gemacht haben.
Von Multimilliardären, die Regierungen erpressen, die Staatskasse plündern und die öffentliche Meinung manipulieren.
Drinnen bei uns, den Belagerten, werden die Vorräte knapper und die Verteilungskämpfe härter. Vermeintlich starke Männer poltern wütend herum. Sündenböcke werden durchs Dorf getrieben. Und wenn jemand laut über Lösungen nachdenkt, ertönt der dumpfe Chor derer, die immer eine Falle wittern und sagen, die Schokolade ist bestimmt vergiftet.
Prophetische Vorstellungskraft
Was kann ich noch vom Herrn erwarten? Sehhilfen zum Beispiel: Prophetinnen und Propheten sind selten populär, aber es gibt immer wieder welche. Manchmal sind sie von Traumtänzern nur schwer zu unterscheiden. Jane Goodall zum Beispiel, die am 1. Oktober gestorben ist, sah etwas, was außer ihr niemand sah. Mit ihrem leidenschaftlichen und unermüdlichen Einsatz hat sie nicht nur zum Schutz von Gorillas und Schimpansen beigetragen, sondern vielen Menschen einen neuen Blick auf unsere Mitgeschöpfe ermöglicht – voller Wärme, Staunen und Respekt.
Im Zweifelsfall hilft zur Unterscheidung ein Blick auf einen anderen adventlichen Text, den prophetischen Lobgesang der Maria:
Er stürzt die Machthaber vom Thron und hebt die Unbedeutenden empor. Er füllt den Hungernden die Hände mit guten Gaben und schickt die Reichen mit leeren Händen fort. (Lukas 1,52-53)
Wer den Mächtigen nach dem Mund redet und die Niedrigen verachtet, ist garantiert kein Prophet. Echte Propheten erinnern uns daran, dass Gottes Uhr gegen die Despoten und Diktatoren läuft. Vor gerade mal einem Jahr brach die Gewaltherrschaft von Baschar al-Assad in Syrien zusammen. Kaum jemand hatte damit gerechnet. Es ist auch noch lange nicht alles gut. Aber der Schlächter ist weg. Warum vergesse ich das immer wieder so schnell?
Wie komme ich Gott auf die Spur? Am ehesten, wenn ich bei denen nachsehe, die zwischen allen Stühlen sitzen. Bei den Aussätzigen von Samaria, bei den Hirten von Bethlehem, bei der jungen Familie im Stall. Es gibt keine Garantie und es kann eine Weile dauern.
Aber was habe ich schon zu verlieren? Ich könnte ja einfach mal hingehen und nachsehen.
Letzte Woche war ich auf dem St. Cuthbert’s Way unterwegs durch die Cheviot Hills in Northumberland. Der kräftige Westwind schob immer mal wieder eine Wolke heran, aus der etwas Sprühregen fiel. Dann kam die Sonne wieder heraus, und der Wechsel wurde mnachmal von einem Regenbogen begleitet. Ich blieb stehen, machte ein Foto, und ließ mich dann weiterpusten.
Zeitgleich bewegte sich der Hurrikan „Melissa“ mit unfassbaren 300 km/h Windgeschwindigkeit auf die Bahamas zu. Inzwischen hören wir von „apokalyptischen“ Verwüstungen, die in dem ohnehin schon armen Land stattgefunden haben.
Das haben fast alle mitbekommen. Weniger schlagzeilenträchtig war die Nachricht, dass – ebenfalls zeitgleich – in der vietnamesischen Stadt Hue 1.085 mm Regen innerhalb von 24 Stunden fielen. Über tausend Liter pro Quadratmeter! Zum Vergleich: Nürnberg hat einen Schnitt von 832 mm im Jahr.
Während ich den Regenbogen anschaue, geht an zwei anderen Orten die Welt unter. Nicht die ganze Welt, klar, aber die Welt der Menschen, die dort leben, eben schon. Und heute, am 2. November lesen wir aus dem Buch Genesis, wie Gott verspricht:
Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
Wir haben neulich einen Schulgottesdienst gefeiert mit einer improvisierten Arche, vielen, vielen Stofftieren und darüber einem Tuch in Regenbogenfarben. Eine der Mitwirkenden sagte nachdenklich: Schon grenzwertig, wie wir das entschärfen. Aber es sind ja Kinder…
In diesem Satz aus der Sinflutgeschichte spiegeln sich die Lebensbedingungen des Holozän wider, der letzten 12.000 Jahre. Relativ stabile klimatische Muster, mit nur wenigen Schwankungen. Das ist inzwischen vorbei, und die Ereignisse der vergangenen Woche unterstreichen das erneut. Das Anthropozän hat begonnen, oder noch etwas präziser: das Kapitalozän. Das Zeitalter der „Männer, die die Welt verbrennen“, um mal einen aktuellen Buchtitel zu zitieren, oder des „Petromaskulinismus“ – auch eine treffende Bezeichnung. Erobern und ausplündern ist die Devise. Mit Konzernen, die mehr Kohle haben als mancher Nationalstaat. Jemand schlug vor, Wirbelstürme künftig nach Firmen zu benennen – Gazprom, Aramco oder Exxon. Und mit Superreichen, die ihr Jahresbudget an Emissionen dieses Jahr schon am 11. Januar verbraucht haben und seither ökologisch auf Kosten aller anderen leben.
Kann man in dieser Situation ersnthaft davon ausgehen, dass Gott das Ruder noch herumreißt und mit unsichtbarer Hand den globalen Thermostat herunterdreht? Die Erzählung von der Sintflut legt nahe, dass wir damit nicht rechnen können:
Erstens geht es in der Zusage Gottes ja explizit darum, dass er die Erde nicht zerstört. Dass wir Menschen das tun würden, ist für die Verfasser dieser Texte gar nicht denkbar gewesen.
Und zweitens greift Gott in der Bibel nicht über die Köpfe hinweg ein, sondern durch Menschen. Immer. Noah, Abraham, Mose, die Prophetinnen und Propheten. Manchmal dauert es, bis er jemand findet. Schließlich wird er selbst Mensch, um sich unübersehbar auf die Seite der Leidenden und Schwachen zu stellen und die Saat für eine neue Weltordnung zu legen, in der es nicht mehr ums Erobern und Ausplündern geht. Nicht über die Köpfe hinweg, sondern durch menschliche Köpfe, Herzen und Hände hindurch bewirkt Gott diese Veränderung der Welt. Und deshalb ist sie oft so unscheinbar und verletzlich.
Unmittelbar vor der Sintflut ist eine Notiz über Göttersöhne und Riesen eingefügt. Die Göttersöhne nehmen sich Menschenfrauen – heißt auch: Es gibt keine Göttertöchter. Göttersöhne sind keine biologische Spezies, sondern eine soziale Klasse: Die Großkönige der Antike – die Superreichen von damals, die sich ihre Gesetze schreiben lassen, die die Öffentlichkeit manipulieren, für die alles zum Objekt wird, bei Frauen angefangen und weiter über alle, die schwächer sind als sein selbst. Hatte die Sintflut also auch den Sinn, diese Übermächtigen aus dem Spiel zu nehmen?
Wenn wir vom ersten ins letzte Buch der Bibel springen, dann finden wir eine mögliche Antwort auf diese Frage. In Offenbarung 11 sind die sieben Siegel geöffnet und die siebte Posaune ist erschallt. Im himmlischen Thronsaal erklingt fröhlicher Gesang. Er hat damit zu tun, dass Gott im Tumult der Weltgeschichte seine Herrschaft aufrichtet und Gerechtigkeit schafft. Der entscheidende Satz in diesem Zusammenhang lautet:
»Und wer die Erde zugrunde richtet, wird selbst zugrunde gehen.«
Nicht die Welt geht unter in der Offenbarung, wohl aber geht die Zeit derer zu Ende, die sie verwunden und zerstören. Es ist nicht das Ende aller Dinge, sondern es sind die Geburtswehen einer neuen, besseren Welt. Aber die existiert bisher nur ganz punktuell. Daher brauchen wir Propheten, die sie uns ausmalen, und Lieder, die das tief in unser Herz und unseren Geist hineintragen.
Der Songpoet Jackson Browne schrieb im Jahr 1974 ein prophetisches Lied: Before the Deluge – Vor der Flut. Er veröffentlichte das im Jahr der Ölkrise und zwei Jahre, nachdem der Club of Rome mit bemerkenswertem Weitblick auf die Grenzen des Wachstums hingewiesen hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen Texten aus dieser Zeit haben Browns eindringliche Worte nichts an Aktualität verloren. Es ist einer der ersten ökologischen Protestsongs und eine apokalyptische Warnung.
Er singt von Idealismus, Scheitern und Resignation im Bemühen, ein stimmiges Verhältnis von Mensch und der übrigen Natur zu erreichen. Schließlich wehrt die sich selbst und zeigt den Menschen ihre Grenzen auf.
Some of them were angry At the way the earth was abused By the men who learned how to forge her beauty into power And they struggled to protect her from them Only to be confused By the magnitude of her fury in the final hour
Im Kollaps und danach bleiben dann die kleinen Dinge: Kinder und Bedürftige schützen, Musik machen und alles andere, was uns tröstet und Mut gibt, durchzuhalten.
Now let the music keep our spirits high And let the buildings keep our children dry Let creation reveal its secrets by and by, by and by When the light that's lost within us reaches the sky
Im Singen und Klagen, im Hören und Helfen können wir schon mal anfangen, uns darauf einzustellen, dass manches weniger wird und vieles schwerer. Aber dass zugleich auch das Ende der modernen Riesen und das Gericht über ihre Maßlosigkeit und Dominanz kommt.
Damit wir dann handeln können und nicht hadern müssen.
Meine Joggingrunde neigt sich dem Ende zu, eine große Straße muss ich noch überqueren. Endlich ist frei, ich laufe los. Von der anderen Seite kommt mir eine Frau entgegen. Ich denke zuerst, sie will links an mir vorbei, aber dann sehe ich, es ist wohl eher rechts. Ich ziehe also nach links. Aber da hat sie auch schon gemerkt, dass ich das anders eingeschätzt hatte, und ändert ihrerseits die Richtung.
Inzwischen stehen wir uns fast gegenüber, als würden wir da in der Straßenmitte einen kleinen Tanz aufführen. Nochmal ein kleiner Sidestep, und wir schaffen es unfallfrei aneinander vorbei. Wir lachen beide und sie sagt „Entschuldigung“. Aber ich denke mir: Wofür? Es hat doch wunderbar geklappt. Und die spontane Tanzeinlage war super elegant.
Es wäre doch toll, wenn das auch in anderen Zusammenhängen funktionieren würde. Statt die eigene Position stur zu behaupten, einfach mal leichtfüßig federnd den Standort wechseln. Dazu gern noch lächeln, und im Zweifelsfall auch mal „Entschuldigung“ sagen. Und dann schauen, was geht.
Es kommt nicht oft vor, dass Nachrichten so passgenau zusammentreffen. Neulich erfahre ich: Das Europaparlament hat mit den Stimmen der Unionsparteien beschlossen, dass vegetarische Produkte nicht mehr „Wurst“, „Burger“ oder „Schnitzel“ heißen dürfen. Wäre ja tragisch, wenn jemand nichtsahnend gesundes Gemüse futtert.
Am nächsten Morgen beim Frühstück fällt mein Auge auf auf die Schlagzeile, dass Zeckenbisse jetzt auch Allergien gegen Fleisch und Milchprodukte verursachen können. Ich reibe mir die Augen: Beantwortet die ausgebeutete Natur den Schachzug der Fleischlobby mit einer neuen Strategie?
Amüsiert stelle ich mir vor, wie Markus Söder in den Wald geht und als Vegetarier wieder rauskommt. Werden Schweinemäster und Wurstfabrikanten demnächst Warnschilder in Wald und Flur sponsern oder teure Impfstoffe entwickeln lassen?
Man könnte glatt auf die Idee kommen, dass da gerade eine höhere Intelligenz Regie führt. Ja, ich weiß, sehr speckulativ, aber hey…
Ich brauche einen neuen Rucksack. Also – erst mal die Tests in Outdoor-Magazinen lesen. Dabei stolpere ich über eine seltsame Überschrift: „Was gehört in einen Fluchtrucksack?“.
Ich will ja nur Wandern, nicht flüchten. Trotzdem, meine Neugier ist geweckt: Wozu soll das gut sein? Es gehe darum, heißt es da, auf das Unvorhersehbare vorbereitet zu sein. Und für den Fall, dass ich meine Wohnung Knall auf Fall verlassen muss, brauche ich Nahrung, Wasserfilter, Kleidung, Licht, Verbandszeug – solche Sachen.
Naja, denke ich mir. Unwahrscheinlich, dass ich das in absehbarer Zeit brauche. Jahaa, sagt eine Stimme in meinem Hinterkopf, das haben schon viele gedacht. Das ist ja das Problem mit dem Unvorhersehbaren: Man sieht es nicht kommen.
Vielleicht sollte ich tatsächlich einen Fluchtrucksack packen, denke ich mir. Als dauerhafte Erinnerung daran, dass der Unterschied zwischen mir und den vielen Menschen, die irgendwo aus dem Rucksack oder Koffer leben, nur etwas Unvorhersehbares ist.
Ein paar Tage später stehe ich in der Outdoor-Abteilung eines großen Sportgeschäfts. Neben mir unterhalten sich eine Verkäuferin und eine Kundin: Wie groß soll der Rucksack denn sein, fragt die Verkäuferin. Die Kundin weiß es nicht genau. Und dann sagt sie, zu meiner größten Überraschung, dass sie einen Notrucksack packen möchte. Damit er griffbereit ist, wenn etwas passieren sollte.
Was genau das ist, das sagt sie nicht. Aber sie empfindet offenbar ein latentes Unbehagen. Die Verkäuferin sagt nachdenklich, sie hätte noch keinen Fluchtrucksack. Aber ich frage mich, ob nicht viel mehr Menschen im Stillen dieses Unbehagen auch spüren.
Auf dem Weg durch die Stadt komme ich an einem Straßencafé vorbei. Eine Angestellte pustet gerade mit einem elektrischen Laubbläser den Dreck zwischen Tischen und Stühlen weg. Auf die andere Seite vom Gehsteig, da bleibt er liegen – und sie verschwindet.
Es ist ein windiger Tag und es wird wohl nicht lange dauern, bis alles wieder genauso aussieht wie vorher. Den Schmutz richtig zu beseitigen hatte sie offenbar gar nicht vor.
Manchmal greife ich ja auch zu Laubbläser-Lösungen: Schmerztablette einwerfen statt den Arzt mal draufschauen zu lassen. Hin und wieder funktioniert das auch. Oft aber tut es hinterher erst recht weh.
Dann denke ich an Jesus, der gesagt hat: Die Wahrheit wird euch frei machen. Geht den Dingen auf den Grund. Am Anfang ist es unbequem, aber dann kann sich wirklich was zum Guten verändern.
Ich stehe auf einer kleinen Brücke mitten im Knoblauchsland. Rings um mich her Gemüsefelder, unter mir kreuzt der Bucher Landgraben die kleine Straße. Ich bin hergeradelt, um nachzusehen, wie es den Bächen da draußen geht. In den letzten 14 Tagen hatten wir gut 100 mm Regen. Alles, was der Juni gelbbraun gefärbt hatte, ist nun wieder grün. Und auch die Gräben füllen sich wieder.
Bei Rob McFarlane in „Is A River Alive?“ habe ich gelesen, dass schon Leonardo da Vinci die großen und kleinen Wasserläufe in der Landschaft mit den Adern des menschlichen Körpers verglichen hat. Das gilt nicht nur für die Struktur, die sich immer feiner verästelt, sondern auch für die Funktion: Alles Leben hängt von Ihnen ab. Deshalb ist es mir so wichtig, wenigstens die Namen der Bäche hier zu kennen. Sie waren vor uns Menschen da, und auch wenn heute vieles verändert und überbaut ist, sie haben dem Land, auf dem ich lebe, seine Gestalt gegeben.
Im Bucher Landgraben, der begradigt zwischen den Äckern eingezwängt verläuft, fließt wieder klares Wasser. Zwei Rotschwänzchen führen einen kleinen Tanz auf unter einem Busch am Ufer. Seine Zweige ragen über das Wasser, und plötzlich schießt da ein kleiner Vogel im Tiefflug den Graben entlang. Er fliegt unter der Brücke durch und taucht ein paar Meter weiter pfeilschnell ins Wasser. Sein Gefieder schimmert in leuchtenden Blau und Türkis: Es ist ein Eisvogel.
Er taucht auf dem aus dem Wasser, bleibt kurz sitzen und folgt dann dem weiteren Verlauf des Grabens. Ich bleibe noch eine Weile stehen, aber er kommt nicht wieder zurück. Ein Feldhase beäugt neugierig das Gemüsefeld. Ich wende mein Fahrrad Richtung St. Johannis. Auch der Poppenreuther und der Wetzendorfer Landgraben führen wieder Wasser. Eine Woge der Dankbarkeit schwappt über mich hinweg.
Und der Eisvogel – das war ein Augenzwinkern vom Himmel.
Ganz im Westen Irlands liegt der Croagh Patrick, der heilige Berg der Iren. Ich habe den Gipfel erreicht und genieße den spektakulären Ausblick. Gerade will ich ein Foto machen, da spricht mich jemand an und sagt: „Das ist so schön, das lässt sich gar nicht einfangen“. Ich gebe ihm Recht und sage: „Ja, der mühsame Aufstieg hat sich wirklich gelohnt!“
Er antwortet: „Während ich hier hochgekraxelt bin, war ich mir da nicht so sicher.“ Und ich antworte: „So ist das, wenn man sich auf einen Pilgerweg macht. Da gibt es keine Gewissheiten, nur die Sehnsucht.“
Die Bergkapelle ist verschlossen, ein paar Amerikaner in Guinness-T-Shirts unterhalten sich laut gegen den Wind. Der Zauber verfliegt und ich steige wieder ab. War ich Gott und dem Heiligen Patrick hier jetzt besonders nahe?
Und dann verstehe ich es: Ich war ihm nahe in meiner Sehnsucht und auf dem langen, steilen Weg. Der Gipfel war nur die Zugabe. Und jetzt, wo ich es weiß, kann ich das eigentlich überall.
Bis in den Frühsommer hinein waren die Futtersäulen an unserem Eibisch und der Felsenbirne immer prall gefüllt. Für die Vögel: Meisen, Rotkehlchen und Eichelhäher fanden sich ein; und im ihrem Gefolge eine wachsende Anzahl Spatzen und Tauben. Meine Frau musste immer öfter nachfüllen. Auch deshalb, weil neben all den gefiederten Gästen die Eichhörnchen aus der Nachbarschaft den Futterplatz entdeckt haben. Akrobatisch schaukeln sie mit den Hinterbeinen an einem Ast und angeln mit den Vorderpfoten die Kerne aus dem kleinen Loch am unteren Rand des Behälters. Sie stopfen sich genüsslich den Mund voll und verschwinden mit ihrer Beute. Ab und zu werfen sie uns einen neugierigen Blick aus ihren Knopfaugen zu oder wackeln mit dem buschigen Schwanz.
Wir haben die Futterperiode verlängert, weil im Frühjahr alle ihre Jungen versorgen müssen. Vielleicht bleibt es uns auch deshalb so gut im Gedächtnis, als wir lesen, dass Eichhörnchen ein ganz bemerkenswertes Verhalten an den Tag legen: Wenn ein Eichhörnchen unbeaufsichtigte Junge in einem anderen Nest findet, beobachtet es den Ort eine Weile lang. Zeigt sich länger kein Elterntier, holt das Eichhörnchen die Waisen zu sich und zieht sie mit den eigenen Jungen zusammen auf. Das ist eine kleine Besonderheit im Tierreich, die zeigt: Eichhörnchen können mitfühlen mit ihren Artgenossen. Und sie sorgen für die, die sich selbst nicht helfen können. Seither, liebe Hörerinnen und Hörer, habe ich die niedlichen Geschöpfe noch viel mehr ins Herz geschlossen.
Das biblische Wort für dieses Mitgefühl ist „Barmherzigkeit“. Die Not und das Leid anderer geht mir „an die Nieren“. Aber es bleibt nicht bei einer emotionalen Betroffenheit. Ich tue, was ich kann, um dem oder der anderen zu helfen.
Not, die an die Nieren geht
Zusammen mit Juden und Muslimen beschreiben wir Christen Gott als den Barmherzigen. Da sind wir uns an einem ganz zentralen Punkt alle einig. Wenn wir von dem barmherzigen Gott reden, dann sagen wir: Gott geht es an die Nieren, wenn Menschen in Not geraten. Ob sie das selbst verschuldet haben oder nicht, spielt dabei keine große Rolle. Wenn unsere Kinder schmerzhafte Fehler machen, leiden wir menschlichen Mütter und Väter ja auch unwillkürlich mit. Den wenigsten gelingt es, sich aus dem Schlamassel herauszuhalten. Und genau darin sind wir, zusammen mit den Eichhörnchen, Gott ähnlich.
„Gut so!“ würde wohl Jesus dazu sagen. Es ist gut für die Welt, dass Gott das oft unermessliche Leid seiner Menschenkinder nicht kalt lächelnd geschehen lässt. Gut, dass er sich einmischt und eine Bewegung der Liebe und Barmherzigkeit in der Welt in Gang gesetzt hat. Und selbst wenn die manchmal deprimierend schwach und klein daherkommt angesichts der gigantischen Zerstörung auf unserem Planeten – sie ist auch 2000 Jahre später noch ziemlich lebendig. Sie fängt mit Jesus selbst an, aber sie bleibt da nicht stehen.
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6,36)
Gleich zu Beginn ihres gemeinsamen Weges sagt Jesus das zu seinen Nachfolger:innen. So erzählt es der Evangelist Lukas.
Es hängt nicht an der Sprache, nicht am Intellekt, nicht an der Fähigkeit, sich der Welt zu bemächtigen. Dass ich Gott ähnlich bin, zeigt sich darin, dass ich andere in ihrem Schmerz und ihrer Verwundbarkeit wahrnehme. Dass ich mich berühren lasse von ihrem Schicksal und mir eingestehe, dass es mich etwas angeht. Dass ich sie nicht als lästige Bittsteller und Sozialfälle abstempele, für die ich nicht zuständig bin. Ich gehe nicht auf Distanz, sondern bleibe an ihrer Seite.
Anders gesagt: Schmerz, Not und Bedürftigkeit trennen uns nicht, sie verbinden uns. Es kann jeder und jedem passieren. Und allen tut es gut, wenn dann jemand da ist und Anteil nimmt. Wie die Sisters of Mercy aus dem gleichnamigen Lied: „Die barmherzigen Schwesternwarten auf dich, wenn du glaubst, dass du nicht mehr weiter kannst. Sie schenken Trost und ein Lied wie dieses hier.
Barmherzigkeit.
Barmherzigkeit entsteht aus Empathie, aus Mitfühlen und Betroffenheit. Ich lasse zu, dass mir etwas an die Nieren geht. Das ist wichtig. Das Gefühl muss dann aber auch einen praktischen Ausdruck finden – geduldiges Dasein und anerkennendes Zuhören, das tröstende und aufmunternde Wort, ein Taschentuch, ein Stück Schokolade oder noch viel handfestere Formen von Hilfe. Und oft müssen da viele zusammenhelfen. Wenn vor mir auf der Straße jemand stürzt, kann ich der Person auf die Beine helfen. Vielleicht braucht sie aber auch einen Arzt, dann kann ich sie dahin begleiten. Sobald aber ein größeres Unglück passiert, braucht es Organisationen und Netzwerke, die helfen. Viele einzelne, die koordiniert anpacken. Erdbebenhilfe, Seenotrettung, Pflegeheime, Kliniken. Persönliches und gemeinschaftliches Handeln lässt sich kaum voneinander trennen. Und selbstverständlich ist es auch ein Akt der Barmherzigkeit, wenn wir verhindern, dass Menschen und Mitgeschöpfe überhaupt in Not geraten.
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Im Matthäusevangelium liest sich das ein bisschen anders, da steht: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Ein Satz, bei dem ich mich immer etwas beklommen gefühlt habe, wenn ich ihn las. Dass Gott vollkommen ist – geschenkt. Aber ich kleiner Mensch mit meinen Macken bin meilenweit entfernt von jeglicher Vollkommenheit. Deshalb klingt diese Erwartung in meinen Ohren überzogen, unerfüllbar – und letztlich auch unbarmherzig.
Doch jetzt sehe ich: Für Jesus sind Barmherzigkeit und Vollkommenheit ein und dasselbe. Vollkommen zu sein, bedeutet einfach nur, barmherzig zu sein. Da geht es gar nicht um irgendeine Art von Perfektion oder Höchstleistung. Sondern darum, dass ich großzügig über die Unvollkommenheit anderer hinwegsehe, ihnen ihre Fehler nicht ständig unter die Nase reibe, und mit unserer mächtig ramponierten Welt behutsam und fürsorglich umgehe. Und dabei – das gehört unbedingt dazu – auch barmherzig mit mir selbst bin. Mich nicht immer weiter reinstresse, wenn ich längst schon spüre, dass ich nicht mehr kann. Ich bin nicht Gott. Ich werde müde und meine Kraft ist endlich.
In einem Meditationskurs hat unser Kursleiter nach fast jeder Anweisung immer noch gesagt: „So gut’s grad geht.“ Ich habe das Jahre später immer noch im Ohr: „So gut’s grad geht.“ Es hilft mir. Ich darf barmherzig sein – so gut’s grad geht.
Heilsame Tränen
Kürzlich war ich mit einer Gruppe von Aktivist:innen zusammen, die sich für Klimagerechtigkeit engagierten. Eine lebenswerte Welt für alle Menschen, besonders für die Armen bei uns und im globalen Süden, die sich (anders als die Reichen) kein Hitzefrei nehmen oder an andere Orte umziehen können. Leute, die sich berühren lassen von dem millionenfachen Leid, das die Plünderung des Planeten schon mit sich gebracht hat und noch bringt. Sie haben sich eingesetzt und große Opfer gebracht. Zeit und Kraft sind in Aktionen und Projekte geflossen. Der Idealismus war riesig.
Aber statt dass die Dinge sich zum Guten wenden, haben sich die Krisen verschärft. Vieles, was sie den Regierungen mit immenser Mühe abgerungen haben, wird gerade wieder über den Haufen geworfen. Etliche erzählen an diesem Tag, wie sie an einen Punkt kamen, an dem nichts mehr ging. Und immer wieder fließen Tränen. Ich sitze ganz still da und spüre, wie sich der Schmerz der anderen mit meinem eigenen verbindet. Und wie nah wir einander sind, obwohl wir uns kaum kennen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf kam – in der Mittagspause am gleichen Tag lese ich ein Gedicht von Rumi, dem großen persischen Weisen. Das tut mir gut:
Es schießt das Kraut, wo immer Bäche fließen, -
Erbarmen sprießt, wo Tränen sich ergießen.
Dem Wasserrade gleich, im Tränentau
Klage, bis frisch ergrünt der Seele Au!
Weinende tröste, wenn du Tränen liebst,
Denn Gnade wird dir, wenn du Gnade übst.
Tränen und Traurigkeit zulassen. Bei mir selbst und bei anderen. Im Weinen erholt sich die Seele. Der Tau der Tränen, sagt Rumi, benetzt sie. Wie eine Wiese in einem schattigen Tal wird sie wieder grün und fruchtbar. Erbarmen sprießt aus dem befeuchteten Boden. Mir hilft diese wunderschöne Beschreibung zu verstehen: Wenn ich keine Angst vor den eigenen Tränen habe, kann ich auch andere trösten. Wer Trost spendet, der wird auch Trost finden, wenn er ihn braucht. Erbarmen sprießt, wo Tränen sich ergießen, sagt Rumi. Und Jesus: „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.“ „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“
Trösten und Barmherzigkeit sind keine Einbahnstraße. Wenn ich sie finden will, muss ich auch bereit sein, sie anderen zu schenken. Diese Wechselseitigkeit spielt bei Jesus eine entscheidende Rolle.
„Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.“ (Lukas 6,37-38)
Kompromisslose Güte
Du hast die Wahl, scheint Jesus zu sagen: Wenn Du Menschen abstempelst, sie vor anderen schlecht machst und ihnen ihre Fehler und Versäumnisse unablässig unter die Nase reibst, dann musst du damit rechnen, dass es dir früher oder später genauso ergeht. Wenn du dagegen großzügig bist, wenn du das Gute in anderen siehst und auf ihren Unzulänglichkeiten nicht herumreitest, dann werden andere, ja dann wird Gott selbst diesen wohlwollenden Maßstab auch bei dir anlegen.
Entweder funktioniert die Welt im tiefsten Inneren nach dem Prinzip der Barmherzigkeit. Oder es gewinnt der Stärkere, Skrupellosere und Abgestumpftere. Ich entscheide, auf welche Seite ich mich stelle und welches Prinzip in meiner Welt gilt. Gott hat sich für die Barmherzigkeit entschieden. Jetzt sind wir dran.
Das klingt alles ziemlich krass und kompromisslos, wie Jesus das sagt. Für Jesus ist klar, dass die Initiative von Gott ausgeht. Aber sie darf da nicht stehenbleiben. Sie ist als Kettenreaktion gedacht, die Kreise zieht. Und ja, natürlich kann ich nicht mit allen Menschen auf einmal weinen und trauern, nicht alle gleichzeitig schützen, unterstützen und verarzten. Aber das darf andererseits nicht dahin führen, dass ich meine, mir kein Mitgefühl mehr leisten zu können.
Ich kann in diese Frage offenbar nicht neutral bleiben. Denn Gleichgültigkeit ist für die Opfer von Unrecht und Gewalt genauso schlimm wie der Mutwille und die Aggression der Ausbeuter und Unterdrücker. Martin Luther King schrieb einmal, dass er das Schweigen der Freunde noch viel schlimmer fand als den Hass der Feinde. Das ist auch heute für viele Helfer:innen und Aktivist:innen so. Immer mehr Menschen verhalten sich immer gleichgültiger. Und die Zahl derer, die sich reinhängen und verantwortlich fühlen, geht zurück. Das tut weh und raubt vielen die Kraft.
Die Insel der Unseligen
Vor drei Wochen war ich, eher zufällig, an einem der Drehorte von „The Banshees of Inisherin“. Den Film, der für 9 Oscars nominiert wurde, spielt im Jahr 1923 auf einer Insel vor der Küste Irlands. Während auf dem „Festland“ gegenüber noch der Bürgerkrieg tobt, sind die Insulaner sehr darauf bedacht, sich herauszuhalten. Das Leid ihrer Landsleute sehen sie lieber aus der Ferne. Auch die beiden unzertrennlichen Freunde Pádraic und Colm. Abend für Abend sitzen sie im Pub, trinken einträchtig ihr Bier und schauen, Irland im Rücken, auf den Ozean hinaus.
Keem Beach, Acaill Island, Co. Mayo, Irland
Aber dann zerbricht die Freundschaft aus heiterem Himmel. Colm zieht sich komplett zurück und Pádraic versteht die Welt nicht mehr. Das Beziehungsdrama eskaliert in immer groteskeren, verstörenderen Szenen. Freunde und Verwandte sind ratlos. Was ist geschehen?
Auf Inisherin spielt sich eine Art Bruderkrieg ab. Pádraic ist so verletzt, dass er Colm keine Ruhe lässt. Und Colm versucht, sich Pádraic mit allen Mitteln vom Leib zu halten. Vom Festland weht unterdessen der Wind den Kanonendonner und Rauch eines anderen Bruderkrieges übers Meer herüber. Mit dieser Gegenüberstellung stellt der Film die Frage: Ist es überhaupt möglich, sich von den Konflikten der Welt abzukoppeln? Oder fressen sich die verdrängten Spannungen schließlich und auf absurdeste Weise in die abgeschirmte Idylle hinein und zersetzen sie von innen heraus? Inseln der Seligen im Ozean der Tränen zu bewohnen, das könnte mit allerhand versteckten Kosten verbunden sein.
Umstrittene Tugend
Vor ein paar Wochen hat Elon Musk mit einer Aussage großes Aufsehen erregt. Da bezeichnet er Empathie, Mitgefühl, als Schwäche, als eine Art Programmierfehler unserer Kultur. Sie drohe, sagt er, selbstmörderisch zu werden für die westliche Zivilisation. Damals war er schon längst dabei, die staatliche Entwicklungs- und Katastrophenhilfe für arme Länder gnadenlos einzustampfen. Er ließ es freilich so klingen, als seien die USA insgesamt am Rande eines lebensbedrohlichen Burnouts, weil sie sich im Einsatz für andere total verausgabt hätten. Sie müssten sich jetzt erst mal um sich selber kümmern. Das stellt die wahren Verhältnisse auf den Kopf. Gerade bei den Superreichen wäre genug Geld da, um das Leben und die Zukunftsaussichten der Armen im eigenen Land wie auch in anderen Weltregionen sofort zu verbessern. Verrückt: Die stärkste Volkswirtschaft der Welt verabschiedet sich aus der Verantwortung für Schwächere und behauptet, das sei Notwehr.
Musk behauptet, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft würden ausgenutzt. Wie viele andere Rechte unterstellt er den Bedürftigen Faulheit, Gier und Unverschämtheit. Sie sind für ihn Parasiten. Und er erweckt den Eindruck, man müsse die Anständigen (sprich: die Wohlhabenden) vor dieser Bedrohung schützen. Barmherzigkeit droht zum Schimpfwort zu werden im Zeitalter der unverblümten Machtpolitik, des Narzissmus und der dominanten Männlichkeit. Als würde ich die eigene Leute verraten, wenn ich anderen gegenüber barmherzig bin.
Der Opfer-Trick Das ist natürlich eine astreine Täter-Opfer-Umkehr:
„Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.“ (Lukas 6,41-42)
Ich hatte diese Worte von Jesus bisher immer nur als Anweisung verstanden, in persönlichen Konflikten erst mal vor der eigenen Tür kehren. Nicht mit zweierlei Maß zu messen, und nicht an anderen herumzudoktern, ohne mir meiner eigenen blinden Flecke bewusst zu werden. Aber das sind ja alles Peanuts im Vergleich zu der Dreistigkeit, mit der Menschen ihr unbarmherziges Verhalten anderen gegenüber rechtfertigen. Wie sie irgendetwas suchen, das sie an ihnen aussetzen können, irgendeinen Splitter, um jeden Anspruch auf menschenwürdige Behandlung dann abzulehnen. Geflüchtete, so raunen die einen, ließen sich auf unsere Kosten das Gebiss teuer sanieren. Bürgergeldempfänger:innen, behaupten andere, lachen sich ins Fäustchen, während sie gemütlich in der (Achtung: Unwort!) „sozialen Hängematte“ schaukeln. Solche böswilligen Verdrehungen machen mich traurig und wütend.
Und dann fallen mir die Eichhörnchen wieder ein, und ich denke: Wie gut, dass es dieses positive Beispiel gibt!
Eichhörnchen beherrschen den Perspektivwechsel. Sie versetzen sich in die Lage anderer hinein. Damit sind sie zum Beispiel auch in der Lage, ihre Artgenossen auszutricksen. Manchmal tun sie unter den Augen der anderen so, als würden sie Futter an einem bestimmten Ort verbuddeln. In Wahrheit warten sie, bis sie unbeobachtet sind, und verstecken ihren Vorrat woanders. Aber wenn Barmherzigkeit gegenüber fremdem Jungtieren gefragt ist, gibt es keine Tricksereien, kein Vortäuschen falscher Tatsachen, keine Klage über die Zumutungen, die das mit sich bringt. Dann kümmern sie sich, ohne Wenn und Aber.
Wir müssen uns wohl oder übel darauf einstellen, dass Barmherzigkeit immer öfter nicht nur als naiv, sondern als störend und ärgerlich empfunden wird. Darauf, dass nicht nur das Helfen Kraft kostet, sondern dass wir uns dafür auch noch mühsam rechtfertigen und verteidigen müssen. Die Versuchung, sich neutral zu verhalten und sich in achselzuckende Gleichgültigkeit zu flüchten, nimmt zu. Viel wird davon abhängen, ob junge Menschen echte Barmherzigkeit bei anderen erleben und sich ein Beispiel an ihnen nehmen. Und sich dann auf die Seite von Jesus schlagen. Und die der Eichhörnchen.
Lass dich von der Barmherzigkeit leiten – Let Mercy Lead. Das singt der Musiker Rich Mullins für ein kleines Kind. Und ich wünsche mir das für jedes Kind: Die heilsame Kraft der Barmherzigkeit soll dir begegnen. Sie soll dir richtig Lust darauf machen, dich dieser Bewegung anzuschließen, die Gott in die Welt gebracht hat. Weder durch Enttäuschungen noch Einschüchterungen sollen dich aufhalten. Pack‘ fröhlich überall da an, wo es nötig ist. So gut’s grad geht. Let Mercy Lead – folge der Spur der Barmherzigkeit.
Vorletzte Woche standen wir am Blacksod Lighthouse auf der Belmullet Peninsula im irischen County Mayo. Eine Tafel erinnert dort an den 4. Juni 1944. Der Leuchtturm war damals, vor 81 Jahren, auch Wetterstation.
Die 21jährige Maureen Flavin hatte in diesen Tagen Dienst in Blacksod. Sie meldete die Wetterdaten regelmäßig an die vorgesetzte Stelle von Met Éireann. Aber plötzlich kamen mehrere telefonische Nachfragen aus England. Maureen beantwortete alle nach bestem Wissen und Gewissen. Ein Sturmtief war aus Nordwesten gekommen und zog weiter Richtung Kanalküste.
Erst viele Jahre später erfuhr sie: Ihre Auskunft hatte dazu geführt, dass Eisenhower die Operation Overlord (die Landung der Alliierten in der Normandie) um zwei Tage verschob. Im Sturm wäre die Aktion mit großer Sicherheit gescheitert. Aber die deutsche Wehrmacht in Frankreich wusste auch nicht, dass sich gleich nach dem Sturm das Wetter wieder beruhigen würde. Sie war wettertechnisch blind. So ergab sich mit der Landung am 6. Juni ein zusätzlicher Überraschungseffekt für die 150.000 Mann starken Invasionstruppen. Es war einer der drei großen Wendepunkte im Zweiten Weltkrieg.
Die Einheimischen erzählen übrigens auch, dass Maureen Flavin nur deshalb am Telefon war, weil ihr Kollege und späterer Ehemann Ted Sweeney im Pub war.
Sie selbst sagte im Rückblick:
They could arrange everything but they couldn’t pre-arrange the weather!
They had it all worked out to the nearest detail, but our weather report put the first spoke in the wheel.
They would have gone ahead and the invasion would have been a complete disaster. There they were with thousands of aircraft and they couldn’t tolerate low cloud. We’re delighted we put them on the right road. We eventually had the final say!
Als Blacksod allmählich im Rückspiegel verschwand, dachte ich mir: Wenn die Entscheidungsträger doch heute noch die Größe hätten, sich von den Meteorolog:innen und Klimawissenschafter:innen etwas sagen zu lassen. Stattdessen hat die Trump-Administration die Mittel für die Klimaforschung drastisch zusammengestrichen. Das bedeutet, dass die Welt zunehmend blind wird für das, was sich in den Ozeanen und der Atmosphäre zusammenbraut.
Obwohl sie wussten, dass das System bereits gekippt war und nicht mehr funktionierte, und obwohl sie voneinander wussten, dass sie das wussten, agierten sie, als glaubten sie weiterhin an die Zukunft des Gewohnten.
Zu Millionen führten sie täglich die Scharade der Normalität auf – unter anderem deswegen, weil sie sich keine Vorstellung von einer Alternative machen konnten und deshalb vor dem Gedanken an radikale Veränderung zurückscheuten.
Heute ist das wieder so. Es ist offensichtlich, dass es nicht so weitergehen kann. Dass ein radikales Umsteuern erforderlich ist. Aber die Radikalität, in der unser Lebensstil durch die Krise in Frage gestellt wird, macht Angst. Also flüchten unsere Gesellschaften in die Verdrängung, statt sich ihrer Möglichkeiten bewusst zu werden, rechtzeitig noch etwas zu ändern.
Es wäre mal interessant, Maureen Sweeney oder Dwight D. Eisenhower dazu zu hören.
Der wahrscheinlich meistfotografierte Baum der Welt steht am Hadrian’s Wall, der seit der Römerzeit die Grenze zwischen Nordengland und Schottland markiert. In einer Senke zwischen zwei runden Hügeln, der Sycamore Gap. Es ist ein 200 Jahre alter Bergahorn.
Seit dort 1991 eine Szene aus „Robin Hood, König der Diebe“ gedreht wurde, hat er sich zu einem beliebtes Ziel für Wanderer und Ausflügler entwickelt. Sogar etliche Heiratsanträge gab es in seinem Schatten.
2023 kamen dann zwei Typen mit einer Motorsäge und fällten den Baum, mitten im Nationalpark. Sie nannten keinen Grund dafür. „Ist doch nur ein Baum“, sagte der eine. Der öffentliche Aufschrei war riesig. Warum macht jemand so etwas? Die Antwort ist: Weil er kann. Und weil es Aufmerksamkeit einbringt.
Der Baumstumpf treibt inzwischen wieder neu aus. Dieser Baum war nie nur ein Baum; er war ein Wahrzeichen für die Schönheit von Gottes Schöpfung. Jetzt ist er ein Mahnmal gegen menschlichen Irrsinn.
Ab und zu komme ich am Nürnberger Flughafen vorbei. An beiden Enden der Start- und Landebahn verläuft ein Zaun. Oft – fast immer – parken da Autos. Leute sitzen drin und schauen aufs Handy oder in die Gegend, bis wieder ein Flieger abhebt oder landet.
Ich könnte mir jetzt lauschigere Plätzchen vorstellen als den Flughafenzaun, aber er scheint viele magisch anzuziehen. Treibt das Fernweh sie her, die Sehnsucht nach der großen weiten Welt? Weckt der Kerosingeruch wohlige Erinnerungen an den letzten Urlaub? Und spielt das Autoradio „Über den Wolken“, während die Wärme über der Rollbahn flimmert? Oder doch eher „Take Me on Your Mighty Wings“ aus dem Soundtrack von Top Gun?
Vielleicht braucht man das manchmal. Diese Vorstellung: Ich könnte jederzeit weg von hier. Ein großer Vogel nimmt mich mit und alles, was mich stresst, bleibt da. Eskapismus (die Flucht aus der Wirklichkeit in die Phantasie) ist auch gar nichts Neues. In Friedrich Rückerts Gedicht „Vom Büblein, das überall hat mitgenommen sein wollen“ hießt es wieder und immer wieder: „Wenn nur was käme und mich mitnähme!“
Die Menschen zu biblischen Zeiten kannten das Gefühl erdrückender Enge auch. Aber mir scheint, dass sie sich in solchen Situationen nicht wegträumten – jedenfalls nicht alle. In den Psalmen heißt es über Gott: „ Er führte mich hinaus in die Weite (…), denn er hatte mich lieb!“ Es gibt ja solche Begegnungen und Beziehungen, in denen ich Freiheit und Klarheit finde.
Raus aus der Enge und dem Druck – das geht auch ganz ohne Flughafen.
Die Mauersegler sind wieder da. Über 10.000 Kilometer weit sind sie geflogen, um hier Nester zu bauen und ihre Jungen aufzuziehen. Jetzt ziehen sie ihre Kreise über meiner Straße und ich höre ihre schrillen Rufe.
Ich freue mich, sie zu sehen – und staune, wie diese kleinen Vögel diese gewaltige Entfernung zurücklegen, Jahr um Jahr. Ende Juli fliegen die ersten schon wieder zurück. Seit tausenden von Jahren ziehen sie ihre Bahnen am Himmel. Da ist noch etwas in Ordnung – ein uraltes, lebensfreundliches Muster.
Es ist durchaus ein Kompliment (und ein tröstliches Signal), dass die gefiederten Stammgäste uns immer noch jedes Jahr besuchen kommen. Klimakrise und Insektensterben machen es ihnen ja nicht leichter. Und doch halten sie uns die Treue.
Vielleicht liegt es an dieser Treue, dass ich mir wünsche, wir wären Ihnen auch gute Gastgeber. Sie brauchen ja nicht viel: Geeignete Nistplätze an den Häusern, weniger Schadstoffe in Luft, Böden und Wasser.
Ich bin überzeugt, wenn wir dafür sorgen, tun wir nicht zuletzt uns selbst einen Gefallen. Ich hoffe, die neue Bundesregierung versteht das eines baldigen Tages auch noch. Bisher scheint sie Arten- und Klimaschutz eher als lästigen Kostenfaktor für die (Agrar-)Industrie zu verstehen. Sie sollte den Bestand der Mauersegler in ihre Kennzahlen aufnehmen und in ihre Entscheidungen einbeziehen.
Genau drei Wochen sind es ab heute noch bis Ostern. Der größere Teil der Passions- und Fastenzeit ist geschafft. In diesem Jahr überschneidet sie sich mit dem Fastenmonat Ramadan. Der geht morgen zu Ende. Wir Christen feiern heute erst mal eine Art „Bergfest“.
Fast vorbei das Fasten. Fast vorbei das freiwillige Verzichten in allen möglichen Formen. Es geht dabei nicht um heldenhafte Anstrengung. Niemand, den ich kenne, fastet zwischen Aschermittwoch und Ostern in dem Sinne, dass sie oder er auf jede Nahrung verzichtet. So etwas geht vielleicht mal für ein paar Tage, wenn man den normalen Alltag noch bewältigen muss.
Aber viele verzichten auf einen bestimmten Genuss: Schokolade, Fleisch, Rauchen, Soziale Medien, Netflix – solche Dinge. Meine Frau fastet diesmal Alkohol, und weil es alleine weniger als halb so schön ist, ein Feierabendbier zu trinken, mache ich mit. Am Sonntag, also heute, unterbrechen wir das Fasten. So sieht es schon die alte christliche Regel vor. Da gönnen wir uns dann ein Glas Wein. Und was soll ich sagen – letzten Sonntag haben wir beide zusammen beim ersten Schluck festgestellt: Der Wein schmeckt intensiver, gerade weil er nicht alltäglich ist. Auch Genießen kann sich offenbar abnützen.
Verliebt ins Leiden?
Fasten wäre also missverstanden, wenn wir so eine Art religiösen Hungerstreik draus machen würden. Es geht gerade nicht darum, möglichst elend daherzukommen, damit Gott etwa Mitleid mit mir bekommt oder beeindruckt ist von meiner Härte gegen mich selbst und mich entsprechend belohnt. Nein, der Lohn des Fastens, wenn es einen gibt, der liegt im Fasten selber: Ich stelle fest, es geht auch ohne. Und nicht einmal schlecht. Und auf einmal ist da auch mehr Platz für einen anderen Hunger, den Hunger nach Gott und das Mitfühlen mit anderen Menschen.
Mitfühlen ist wichtig. Und dran. Statt Fastenzeit sagen wir Evangelischen zu diesen sieben Wochen vor Ostern: Passionszeit. Die Leidensgeschichte Gottes mit seiner Welt rückt ins Zentrum. Der Leidensweg von Jesus. Wir lesen die Geschichten von Jesus, der klammheimliche, aber auch wütende Ablehnung erlebt – wie viele Menschen vor und nach ihm. Ein aufgebrachter Mob wünscht ihm den Tod an des Hals, er wird verhaftet, misshandelt, er erlebt einen unfairen Prozess und wird brutal hingerichtet. Fast alle seine Leuten verlassen ihn.
Die Geschichten vom leidenden Christus sind und bleiben eine Zumutung. Ebenso wie die Geschichten, die mich über die Nachrichten erreichen: Krieg, Ausbeutung, Hass, Gewalt. Und natürlich auch die Schicksalsschläge in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis. Manchmal habe ich das Gefühl, gleich erdrückt mich das alles. Es schnürt mir die Luft ab und raubt mir die Kraft.
Dann will ich mich daran erinnern lassen: Gott steht nicht abseits und sieht ungerührt zu, wie Menschen leiden und trauern. Gott ist denen nahe, die ein zerbrochenes Herz haben – so heißt es in der Bibel. Der Schmerz aller Lebewesen geht ihm zu Herzen, auch mein ganz persönlicher. In Jesus stellt er sich unmissverständlich auf die Seite der Opfer. Ich glaube, wenn das nicht wäre, wäre die Welt wirklich zum Verzweifeln.
In diesem Jahr spüre ich aber auch noch ein anderes Bedürfnis. Ich will mich nicht überwältigen lassen von all dem, was entsetzlich ist. Das ist ein bisschen wie das eine Glas Wein am Sonntagabend: Es sorgt dafür, dass das Fasten keine griesgrämige Geschichte wird. Ich brauche zwischendurch schöne und fröhliche Momente. Nichts Großes und Aufwändiges. Aber genug, um alle eigene und mitempfundene Traurigkeit, Sorge und Ohnmachtsgefühle für eine Weile etwas aufzuhellen und zu lindern. In der Hoffnung, dass ich dann wieder in der Lage bin, dem Bedrückenden nicht auszuweichen und es nicht zu verdrängen. Und ganz offensichtlich bin ich mit diesem Wunsch nicht allein. Lange vor mir haben andere das auch schon gespürt. Und deshalb haben sie diesen Bergfest-Sonntag „Laetare“ genannt. Das ist Lateinisch – auf Deutsch heißt es: „Freut euch“.
Und was könnte der Freude besser auf die Sprünge helfen als fröhliche Musik? Die Musiker:innen um Amy Grant haben mit einer alten Melodie ein bisschen gespielt. Es wird schwer, die Füße stillzuhalten. Riverdance meets Johann Sebastian Bach: „Jesu bleibet meine Freude“.
Das Bankett auf der Baustelle
Das Buch Nehemia in der Bibel erzählt von der Rückkehr der Juden in das zerstörte Jerusalem vor zweieinhalbtausend Jahren. Vielleicht geht es heute in Gaza, in Aleppo oder Odessa ganz ähnlich zu. Die Leute machen sich mit dem wenigen, was sie haben, an den Wiederaufbau. Manchmal geht es nur schleppend voran, aber dann endlich steht die Stadtmauer wieder. Und bevor in ihrem Schutz die Wohnhäuser drankommen, feiern sie – ein Bergfest. Der Priester Esra sagt zu den Israeliten:
„Nun geht, haltet ein festliches Mahl und trinkt süßen Wein! Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben; denn heute ist ein heiliger Tag zur Ehre des Herrn. Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ (Nehemia 8,10)
Anschließend wird eine ganze Woche gefeiert. Bis die Strapazen der vorangegangenen Wochen nicht mehr allen in den Knochen stecken und die Köpfe so weit frei sind, dass alle Bewohner Jerusalems wieder über das hinausschauen, was alles noch fehlt und was jetzt sofort und unbedingt getan werden muss. Nach dieser Woche geht es wieder weiter. Es ist noch einmal ein Kraftakt, der auf Esra & Co zukommt. Sie werden die Ärmel hochkrempeln, Balken und Steine schleppen und abends kaputt ins Bett fallen. Tag für Tag, Woche für Woche.
Ich frage mich, wie das damals wohl ankam. Vielleicht waren einige dabei, die – so wie ich ab und zu auch – die Arbeit nicht unterbrechen wollen. Lieber durchziehen. Zähne zusammenbeißen und weiter. Auch wenn’s auf Kosten der guten Stimmung oder der Gesundheit geht. Bestimmt haben einige gesagt: Feiern können wir, wenn wir fertig sind, wenn alles gut ist. Wenn unsere Familien wieder alle ein Dach über dem Kopf haben, wenn die Gärten wieder angelegt sind, wenn es auf dem Markt wieder etwas zu kaufen gibt. Wir wollen keine kostbare Zeit verlieren.
Esra ist der Meinung: Das können wir uns nicht leisten. Nicht feiern können wir uns nicht leisten. Natürlich ist noch nicht alles gut und fertig. Aber wenn wir uns nicht mehr an dem freuen, was schon jetzt gut und schön ist, dann geht uns irgendwann die Puste aus. Auch wenn bloß der erste Bauabschnitt fertig ist und das Ergebnis nicht besonders beeindruckend. Aber das ist ja auch gar nicht der Grund für das festliche Essen, Musik und Gesang. Nicht die Freude am Erfolg ist die Kraftquelle, aus der ich schöpfen kann. Die Freude am Herrn ist eure Stärke!
Vergesst die nicht vor lauter Durchhalten und Schuften.
Zu Gast bei Feinden
Das Fest im Rohbau erinnert mich an ein Gespräch vor einigen Jahren. In der Zeit hatte es uns familiär ziemlich gebeutelt und dann kommen auch in der Arbeit Enttäuschungen und Konflikte dazu. Alles ist mit allem ungut verknotet. Ich wache mitten in der Nacht auf und fange an, Probleme zu wälzen. Also habe ich mir ein paar Tage Auszeit genommen. Aber auch das scheint erst mal nicht zu helfen. Die Stimmen von Streit und Kritik, Sorge und Zweifel stecken mir immer noch im Kopf. Ich kann sie nicht abschütteln oder stumm schalten. Im Gegenteil – wenn weder Arbeit noch Zerstreuung mich ablenken, werden sie erst richtig laut. Und dann dieses Gespräch. Mein geistlicher Begleiter fragt, wie es mir geht. Ich sage: „Ich fühle mich gerade wie im 23. Psalm – der Herr ist mein Hirte –, wo es heißt: Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“ Mein Gegenüber lächelt und sagt: „Dann lade sie doch ein!“
Ich bin erst einmal sprachlos. Aber dann … – klar: Einladen. Kommt, setzt euch. Das hier ist ein sicherer Ort mit genug Platz für uns alle. Ich muss die Feinde, das Ungelöste nicht erst verjagen, um Gottes Nähe zu spüren. Die Sturköpfe und Nervensägen, die mich so viel Kraft gekostet haben, tauchen immer noch in meinen Gedanken auf. Aber jetzt fange ich nicht mehr an, in Gedanken mit ihnen zu diskutieren – mich zu rechtfertigen, ihnen Vorwürfe zu machen oder zu verhandeln. Stattdessen denke ich: „Oh, du bist auch da. Nimm Platz. Hier ist es schön. Sei ein bisschen still mit mir. Vielleicht möchtest du dich auch an Gott freuen.“ Und dann fühlt es sich an, als würden diese Schatten schrumpfen und alles Bedrohliche verlieren. Nach und nach verstehe ich, was ich jetzt tun kann. Ich finde den Weg aus der Krise. Raus aus der dunklen Nacht der Seele.
Von dieser „Dark Night of the Soul“ singt die Folkpoetin Eliza Gilkyson. Ich finde, wie sie das tut, klingt alles andere als bedrückend oder düster. Sie verharmlost nichts, sie spielt nichts herunter. Sie nimmt ernst, was ist – dass die Welt Kopf steht.
„Lass dein Licht brennen,“ singt sie, „und gelobe, dass du weiterkämpfst in der dunklen Nacht der Seele. Hör’ nicht auf zu tanzen und zu singen. Lass die Glocken der Freiheit erklingen, bis die Mauern einstürzen.“
Ich weiß nicht, ob Eliza ein religiöser Mensch ist. Auf jeden Fall hat sie hat den Titel ihres Songs aus der christlichen Mystik geborgt. Und ich erkenne eine ganze Reihe von biblischen Motiven in ihrem Text: Jesus, der in der Bergpredigt sagt: Lasst euer Licht leuchten. Oder die mächtigen Mauern von Jericho, die Gott urplötzlich zerbröseln lässt.
Nur noch Angst, Wut und Triumph?
Eliza Gilkyson hat „Dark Night of the Soul“ erst im Februar veröffentlicht. Zwischen den Zeilen höre ich die kritische Situation in den USA heraus – die Demontage von Rechtsstaat und Demokratie, deren Schockwellen auch uns erschüttern und mächtig auf die Stimmung drücken. Ein Kommentator zitierte kürzlich aus George Orwells düsterem Klassiker „1984“ den Chefindoktrinator, der sagt, dass es keine anderen Gefühle als Angst, Wut und Triumph mehr geben soll. Wenn ich auf die letzten paar Wochen zurückblicke, dann scheint diese Strategie zu wirken. Angst, Wut und Triumph sind unglaublich ansteckend. Und wo sie herrschen, da wird das Leben zur Hölle.
Ich will in diesen Zeiten nicht aufhören zu singen, zu tanzen und zu feiern. Mich erinnern: Die Freude am Herrn ist eure Stärke!
Denn sonst hätten die Feinde, die „Hater“, von denen Gilkyson auch singt, schon gewonnen. Ich möchte noch viel besser darin werden, das Gute und Schöne zu hegen und zu pflegen, wo immer es mir begegnet. In mir selbst und um mich herum. Damit es an möglichst vielen Stellen die Zerstörungen überdauert, die wir gerade erleben. Ich brauche keine Fröhlichkeit, die davon lebt, dass sie das Schwere ausblenden muss. Ich brauche eine Fröhlichkeit, die alles im Licht einer noch viel größeren Liebe und Güte sieht.
Freude finden – Freude schenken
Gut unterwegs in schweren Zeiten, das trifft auch Madeleine Delbrêl zu. Für alle, die sie nicht kennen: Madeleine lebte im frühen 20. Jahrhundert in Frankreich. In jungen Jahren gewann sie mit einem Gedichtband einen Literaturpreis. Man merkt das ihren Gebeten und Tagebucheinträgen immer noch an. Sie ist als Atheistin aufgewachsen, findet aber in einer großen Lebenskrise zu einem lebendigen Glauben. Im Jahr 1933 zieht sie mit zwei Gefährtinnen nach Ivry, einem Arbeitervorort von Paris, und übernimmt dort eine Sozialstation. Bei den „Leuten von der Straße“, wie sie es nennt.
Kurz darauf organisiert Madeleine Delbrêl ein antifaschistisches Bündnis zwischen Christen und Kommunisten. Während der Besatzung durch die Nazis koordiniert sie Sozialdienste rundum Paris. Die Gegend ist arm, dann die Bomben, viele müssen evakuiert werden oder vor einer Verhaftung in Sicherheit gebracht werden. Es geht ihr nicht einfach nur um Wohltätigkeit, sie will verändern. Und noch was: Sie will ein fröhliches Leben für alle Menschen.
Schon mit 22 Jahren schreibt sie an eine Freundin:
Andererseits bin ich davon überzeugt, dass es in unserer Zeit Menschen braucht, die sich der Freude widmen. Wenn kaum jemals eine Epoche vielleicht rauschhafter vergnügt war als die unsere, so frage ich mich doch, ob es nicht auch jemals eine gab, der die echte Freude so sehr fehlte. Diejenigen, die diesen Mangel am tiefsten spüren oder die am meisten darum gekämpft haben, haben die Aufgabe, sie den anderen zu schenken.
Madeleine kämpft und geht ihren ganz eigenen Weg. Sie trägt (zeitlebens) bunte Kleider, trinkt gerne Rotwein und raucht Gauloises. Fröhlich leben. Wie schafft sie das?
Beim Blättern in ihren Schriften komme ich dem Geheimnis ihrer Freude auf die Spur. Madeleine will Gott durch sich wirken lassen. Und so arbeiten, Gutes tun, helfen, was verändern.
Keine großen spektakulären Dinge, sondern viele kleine, banale und alltägliche Sachen – was das jeweilige Gegenüber eben gerade so braucht. Unter so vielen armen Leuten sind die Frauen aus der kleinen Lebensgemeinschaft in Ivry damit auch mehr als gut beschäftigt. Aber die viele Arbeit war nicht das eine und Gott das andere. Sondern das eine mitten im anderen, Gott mitten in den vielen Handgriffen und Berührungen, die Nächstenliebe mit sich bringt. Die Freude am Herrn ist eure Stärke!
Wenn wir wirklich Freude an dir hätten, o Herr,
Könnten wir dem Bedürfnis zu tanzen, nicht widerstehen,
das sich über die Welt hin ausbreitet…
Denn ich glaube, du hast von den Leuten genug,
Die ständig davon reden, dir zu dienen – mit der Miene von Feldwebeln,
Dich zu kennen – mit dem Gehabe von Professoren,
Zu dir zu gelangen nach den Regeln des Sports
Und dich zu lieben, wie man sich in einem alten Haushalt liebt.
Eines Tages, als du ein wenig Lust auf etwas anderes hattest,
Hast du den heiligen Franz erfunden
Und aus ihm einen Gaukler gemacht.
An uns ist es, uns von dir erfinden zu lassen,
Um fröhliche Leute zu sein, die ihr Leben mit dir tanzen.
Allmählich fange ich an zu begreifen: Für Madeleine Delbrêl entspringt die Freude an Gott aus der Freude Gottes über uns. Darin besteht dieser Tanz. Gott freut sich über mich und ich freue mich –überwältigt von der Entdeckung, dass ich ihm ein Lächeln aufs Gesicht zaubern kann. Und das taucht alles, auch das Widrige und Gewöhnliche, in einen festlichen Glanz.
Lehre uns, jeden Tag die Umstände unseres Menschseins anzuziehen.
Wie ein Ballkleid, das uns alles an ihm lieben lässt
um deinetwillen, wie unentbehrlichen Schmuck.
Gib, dass wir unser Dasein leben […]
Wie ein Fest ohne Ende, bei dem man dir immer wieder begegnet,
Wie einen Ball,
Wie einen Tanz
In den Armen deiner Gnade,
Zu der Musik allumfassender Liebe,
Herr, komm und lade uns ein.
Das ist mein Lätare-Fest: Klar, dass mich so einiges bedrückt – aber zugleich ist da eine Quelle der Freude, die nie aufhört zu sprudeln. Schon bald feiern wir Ostern, den Anfang vom Ende des Todes und der dunklen Nacht der Seele. Auch wenn es gerade ganz schön verrückt klingt: Die Welt ist schon über den Berg.
(Foto: Senjutu Kundu auf unsplash.com | Zitate aus: Madeleine Delbrêl, „Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße“, hg. von Annette Schleinzer, München/Zürich/Wien 2014, S. 46, 118 und 120.)
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