Seit ein paar Tagen ist es offiziell: Ich werde nach gut sechs Jahren Zabo zum Jahreswechsel verlassen und nach St. Johannis gehen.
Der Hintergrund ist schnell und nüchtern erklärt: Hier in Zabo fällt eine halbe Stelle weg. Das ist auch ganz plausibel: Die Gemeinde ist, wie fast überall, im Lauf der Jahre geschrumpft. Und parallel dazu das Budget der Landeskirche wie auch die Zahl der Pfarrer:innen und Hauptamtlichen.
Arbeit wäre noch genug da. Und in den letzten Jahren war (und wurde) sehr vieles sehr gut. Wir sind hier ganz wunderbar aufgenommen worden und viele haben mir geholfen, in die Rolle des Gemeindepfarrers hineinzufinden. Das macht den Abschied schwer, aber mit dem Blick auf die Segensspuren auch tröstlich.
Zabo, das Dorf in der Großstadt, hat schon eine Art Auenland-Vibe. Ganz buchstäblich, weil hier ein großes Stück naturnaher Auwald liegt, aber es wohnen auch viele gemütliche und gesellige Halblinge hier.
Wir freuen uns zugleich, dass es uns nicht in ferne Gefilde verschlägt, sondern in einen lebendigen, zentrumsnahen Stadtteil und eine große Kirchengemeinde, die dort fest verwurzelt und gut vernetzt ist. auf fitte und freundliche Kolleg:innen – und nicht zuletzt auf einen kurzen Weg zu unserem Enkelkind, das in St. Johannis zur Welt kam und dort mit seinen Eltern wohnt.
Es ist auch objektiv ein guter Zeitpunkt zum Wechseln. Alle Kirchenvorstände werden bis zum Sonntag in einer Woche neu gewählt, und so kann ich zu Beginn der neuen Amtsperiode mit einsteigen – und mein:e Nachfolger:in in Zabo etwas später, aber auch noch in der Phase, wo sich alles einruckelt.
Nach vielen Wochen des Wartens, was aus dieser Bewerbung wohl werden würde, geht nun alles ganz schnell.
Gut, schon der gute alte Bilbo Beutlin wusste ja:
The Road goes ever on and on,
Down from the door where it began.
Now far ahead the Road has gone,
And I must follow, if I can,
Pursuing it with eager feet,
Until it joins some larger way
Where many paths and errands meet.
And whither then? I cannot say.
Die Straße gleitet fort und fort
Weg von der Tür, wo sie begann,
Weit überland, von Ort zu Ort,
Ich folge ihr, so gut ich kann.
Ich lauf ihr müden (?) Fußes nach,
Bis sie sich groß und weit verflicht
Mit Weg und Wagnis tausendfach.
Und wohin dann? Ich weiß es nicht.
Die gute Nachricht: Das Deutschlandticket bleibt erhalten, aber – und das ist die schlechte Nachricht – es wird teurer. Das hat große Wellen geschlagen. Ich habe selber eins seit einigen Monaten, und nutze es immer wieder für längere oder kürzere Fahrten.
Dabei habe ich Ecken von Deutschland gesehen, in die ich nicht gekommen wäre, wenn ich extra einen Fahrschein hätte lösen müssen. Ich habe auch viel über die Menschen in Deutschland gelernt: In den Regionalzügen fährt das bunte Deutschland. Und oft auch das nicht so wohlhabende Deutschland. Ich höre in den Öffis jedesmal, wirklich jedesmal, ganz unterschiedliche Sprachen.
Was mich ganz besonders berührt, das sind die Gespräche zwischen Menschen verschiedener Herkunft, die sich auf Deutsch verständigen. Manchmal etwas mühsam, manchmal auf einem ganz beachtlichen Niveau. Und dann fühle ich mich ein bisschen beschämt und ein zugleich beschenkt, weil da jemand, dessen Sprache ich nicht verstehe, sich so viel Mühe gegeben und meine Sprache gelernt hat.
Manche Unterhaltungen kann man ja nicht überhören, auch wenn man gern würde. Ich sitze im Zug und habe keine Kopfhörer dabei. Hinter mir erzählt einer etwas seinem Gegenüber, und jeder zweite oder dritte Satz lautet: Weißt du, was ich meine?
Seltsamerweise wartet er die Antwort seines Gesprächspartners gar nicht ab, sondern redet sofort weiter. Um prompt wieder: Weißt du, was ich meine? Aber er wartet gar nicht, ob es der andere weiß.
Ich weiß nicht, ob Ihr gerade wisst, was ich meine. Dazu müsstet Ihr mir sagen, was ihr verstanden habt. Und ich müsste dann bestätigen, dass ich das gemeint hatte. Oder nochmal von vorn anfangen und es anders erklären. Dann hätten wir eine Chance, uns zu verständigen.
Aber dieses Zuhören kostet Zeit und macht Mühe. Und oft reicht ja auch eine grobe Ahnung davon, was gemeint sein könnte. Doch es tut gut, wenn ich Menschen treffe, die das mit dem Zuhören und Nachfragen drauf haben.
Ich weiß übrigens auch nicht, was ihr gerade denkt. Hinterlasst gern einen Kommentar…
Ich bin zum ersten Mal im Guggenheim in Bilbao. Touristen schieben sich dicht gedrängt durch die Flure und Ausstellungsräume. Manche fotografieren eifrig – es gibt ja auch wirklich viel zu sehen. Ich mache auch hier und da ein Bild, dann vertiefe ich mich wieder in den Anblick und die Erklärungen.
Nach einer Weile fallen mir immer mehr Leute auf, die Selfies vor den Kunstwerken machen. Allein, zu zweit, zu dritt… Sie marschieren durch die Säle immer auf der Suche nach einem geeigneten Hintergrund. Das hat ein bisschen was von sich vordrängeln – schaut her, hier bin ich…
Ob Kunst oder Natur – ich finde gerade das Umgekehrte reizvoll: Mich mal verlieren im Anblick von etwas Schönem und Großartigen. Zu merken, Gottes weite und bunte Welt dreht sich nicht um mich, und das ist wunderbar entlastend: Ich darf klein sein, einen Schritt zurück treten und mich über diesen wunderbaren Ort freuen. Der ist, was er ist, ganz ohne mich.
Ein umstrittenes Unternehmen aus China wirbt mit dem Slogan „Shoppen wie ein Milliardär“. Natürlich schenken sie mir nicht einen Cent. Stattdessen drücken sie den Verdienst bei den Lieferanten und tricksen bei Zoll und Steuern, um ihre Ware zum Spottpreis anbieten zu können. So entsteht die Illusion, dass Geringverdiener und Normalos wenigstens hier ihren Euro nicht dreimal umdrehen müssen, sondern einen Augenblick reuelos im Überfluss schwelgen können.
Mit ihren Spott-Preisen verspotten sie freilich uns alle: Uns Käufer, weil viele Produkte mangelhaft oder gesundheitsschädlich sind. Die Hersteller, die kaum von ihrem Verdienst leben können. Die Mitbewerber, die Steuern und faire Löhne zahlen wollen. Milliardäre – das werden nur die Chefs und die Investoren.
Echten Überfluss gäbe es durchaus bei uns nebenan: In der herbstlichen Natur, unter Menschen mit einem weiten Herzen für andere und überall sonst, wo Gottes schöpferische Liebe Werbung macht für ein reiches Leben.
Erinnern Sie sich noch an die Eröffnung der Olympiade in Paris? Ich weiß noch genau, wie ich mittendrin die Übertragung einschalte und mir schon nach ein paar Minuten schwindlig wird von all den Szenen, die am Bildschirm vorbeiziehen. Gut erinnern kann ich mich an eine singende blaue, nicht so furchtbar appetitliche Gestalt, die auf einem Teller liegt, der sich wiederum auf einer Art Laufsteg befindet, an dem ein schrilles Publikum sitzt. Mir schießt durch den Kopf: Da hat sich die queere Community von Paris versammelt, um den sittenstrengen Despoten in Moskau oder Teheran eine lange Nase zu drehen! Aber das ist auch gleich wieder vergessen, weil es sofort weitergeht mit Akrobatik, Tanz, Kostümen und rätselhaften Symbolen.
Gott und seine streitbaren Verteidiger
Am nächsten Tag falle ich aus allen Wolken. Da schreibt ein frommer Freund auf Facebook, die Urheber des olympischen Spektakels hätten das christliche Abendmahl verspottet, sie hätten Jesus mit Dionysos, dem griechischen Gott der Fruchtbarkeit und Gelage, vertauscht, und die heiligen Apostel mit Transvestiten. Zwei Bildschnipsel dienen als Beweis. Der eine zeigt das berühmte Abendmahlsgemälde von Leonardo da Vinci – der lange Tisch, alle mit dem Gesicht zum Betrachter, und Jesus genau in der Mitte. Das andere ist einen Bildausschnitt aus der Eröffnung. Man kann, wenn man will, eine grobe Ähnlichkeit behaupten.
Die Kulturszene zieht das, was uns heilig ist, in den Schmutz, kommentiert mein Freund sinngemäß. Und fügt ein bisschen säuerlich hinzu: Sie haben uns ja noch nie gemocht und die widerspenstige Welt hat nie aufgehört, Gott abzulehnen.
Huiuiui – was ist denn da los?
„Hast Du das gelesen?“ sage ich und zeige den Post meiner Frau. „Wir haben das doch zusammen angeschaut. Hättest du das so aufgefasst wie unser Freund?“ „Nein, sagt sie. Komisch – ich weiß auch nicht, was er hat.“
Wenige Stunden später läuft das halbe Internet Amok wegen der vermeintlichen Gotteslästerung. Katholische Bischöfe, fromme Influencer und die Krawallpresse reden und schreiben sich in Rage. Alle trampeln auf uns Christen herum, klagen die einen. Bei den Muslimen hätten sie sich das nicht getraut, tönen andere verschnupft, aber mit uns kann man’s ja machen. Viele, denen es gerade zu bunt wird, haben die Szene aus Paris gar nicht selbst gesehen. Sie kennen nur den einen Bildschnipsel, der dem Da-Vinci-Abendmahl ähneln soll. So verbreiten sie ein bereits fertiges negatives Urteil ungeprüft weiter.
Die angegriffenen Künstler erklären glaubhaft, dass sie keineswegs gegen die Kirchen stänkern wollten. Und selbst wenn, sagen andere – eine Anspielung auf ein religiöses Kunstwerk wäre doch noch lange keine Gotteslästerung. Da Vincis Bild kursiert längst in hunderten von Abwandlungen aller Art. Kein Grund, sich aufzuregen.
„Wer mich beleidigt, entscheide immer noch ich.“ Das hat mein Freund Michael mal gesagt. Das ist wunderbar selbstbewusst – und ich frage mich: Warum nur entscheiden sich einige Christen dafür, beleidigt zu sein? Warum interpretierten sie Szenen, die man auch ganz anders deuten könnte, so bereitwillig als Angriff auf Gott und ihr Christsein?
Was tun mit all den Unterschieden?
Was ist eigentlich christliche Identität? Woran macht sie sich fest und wie verhält sie sich zu all den anderen Identitäten, in die Menschen hineingeboren werden oder die sie sich aussuchen – kulturellen, geschlechtlichen und sozialen? Selten wird das so klar beschrieben wie in diesen Worten des Paulus an die Christen in Galatien:
Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben.
Galater 3,25-28
Nicht mehr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen. Wie meint Paulus das? Tun wir jetzt einfach alle so, als gäbe es keine Unterschiede zwischen Menschen mehr? Alle gleich? So einfach?
Mir fällt die Geschichte von einem Schulbusfahrer in den Südstaaten der USA ein. Als vor vielen Jahren die Rassentrennung dort endlich aufgehoben wurde und alle ihren Sitzplatz unabhängig von der Hautfarbe wählen durften, sagt sein Chef zu ihm: „Ab heute sind die Kinder für dich nicht mehr schwarz oder weiß, sondern alle sind grün.“ Am nächsten Morgen kommen die Kinder wie immer und hören an der Bushaltestelle: „Die Hellgrünen steigen vorne ein, die Dunkelgrünen hinten.“
Es ist nicht so einfach. Rassismus sitzt eben tief und verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen. Außerdem hat die Anweisung des Chefs ein paar Denkfehler: Sie lenkt den Blick immer noch auf Farben. Das Grün ist nur eine gedachte Gemeinsamkeit, keine sichtbare, keine echte. Und so sieht der Busfahrer durch seine grüne Brille eben doch wieder die alten Gegensätze. Dabei haben die Schulkinder so viel gemeinsam: Sie sind klein und verletzlich, sie sitzen selten still, sie sind neugierig, und sie wollen alle in die Schule fahren. Die Hautfarbe ist ein ganz und gar unwesentlicher Unterschied. Es fragt ja auch niemand beim Einsteigen, welches Kind gut singen kann oder ob es Koriander im Essen mag.
Zurück zu Paulus. Der weiß das auch: Gott liebt alle Menschen – die traditionsbewussten Juden seiner Zeit und die neugierig-erfinderischen Griechen, die sozial Privilegierten und die Prekären, die mit dem X-Chromosom und die mit dem Y. Und die Reihe ließe sich jetzt noch lange fortsetzen, weil Paulus nur mal drei bekannte Unterschiede herausgreift, an denen sich Menschen immer wieder abarbeiten. Bei Mann oder Frau können wir heute mit homo oder hetero, cis oder trans weitermachen. Statt Juden und Griechen Israelis und Palästinenser sagen oder Ukrainer und Russen, ja sogar Franken und Altbayern oder Einheimische und Zugereiste.
Jeder Mensch, unabhängig von Kultur, Status und Geschlecht, ist ein lebendiges Ebenbild Gottes und repräsentiert Gott in dieser Welt. Alle, die glauben, sind Abrahams und Saras Nachkommen – biologische Kinder (also Jüdinnen und Juden) und adoptierte (wir anderen). Dieses Ziel, diese Bestimmung ist die entscheidende Gemeinsamkeit. Paulus überpinselt nicht alle Unterschiede in einheitlichem Grün. Christen sind nicht etwas Drittes, kein Grün neben Schwarz und Weiß, Blau und Gelb, keine eigene Kultur zwischen allen anderen. Es gibt sie in allen Farben und Sprachen, sehr verschieden, und doch ist da etwas, das sie fest zusammenhält und zugleich Platz schafft für diese erstaunliche Unterschiedlichkeit:
ihr seid allesamt eins in Christus Jesus.
Der Jude Paulus folgt Jesus, dem Messias nach. Und begegnet dabei Griechen – Nichtjuden – die statt Messias „Christus“ sagen und ihm auch nachfolgen. Er erkennt in ihnen Schwestern und Brüder. Nun aber kann er auf Griechen nicht mehr pauschal herabschauen – als wäre das eine minderwertige Kultur oder eine problematische Herkunft. Wenn ich als christlicher Mann christliche Frauen als gleichwertig und gleichrangig anerkenne, dann gilt das selbstverständlich auch für alle anderen Frauen, weil Gott sie ja ebenso liebt; auch wenn sie es vielleicht noch nicht gemerkt und sich bewusst darauf eingelassen haben.
Uniformieren oder umkrempeln?
„Ihr alle habt Christus angezogen“.
Damit meint Paulus die Taufe. Christus anziehen – ich stelle mir das bildlich vor wie das Trikot einer Fußballmannschaft oder wie die Schuluniformen, die soziale Unterschiede überdecken sollen. Überdecken, aber eben nicht überwinden: An den Schuhen, der Uhr, der Schultasche oder dem Fahrrad können doch wieder alle ablesen, welches Kind aus einer reichen Familie kommt und welches nicht.
Hat der Glaube wie eine Schuluniform nur die Kraft, die Trennungen in Privilegierte und Benachteiligte äußerlich zu überdecken? Und ist der Preis dafür eine Uniformierung, die alles Individuelle unterdrückt? Oder geht es tatsächlich darum, diese Ungleichheit gründlich zu überwinden und aus den Köpfen und Herzen herauszubekommen?
Unterschiede relativieren – das kann ein Schritt dahin sein, sie abzuschaffen.
„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier…“
In den ersten christlichen Gemeinden kamen tatsächlich Sklaven und Freie zusammen. Paulus bezeichnet sich selbst hin und wieder als „Sklave Christi“ und weiß, dass der Tod am Kreuz nicht nur Aufrührern (oder dem, was die Römer dafür halten) droht, sondern auch entlaufenen Sklaven. Daher fordert er einen geschwisterlichen Umgang. Klar weiß Paulus auch: Außerhalb der christlichen Bubble kauft und benutzt der wohlhabende Freie weiterhin mittellose Sklavinnen und Sklaven.
Ich möchte von einem Sklaven erzählen, bei dem sich etwas verändert. 400 Jahre nach Paulus wird er an Englands Westküste von irischen Piraten gekidnappt und mitgenommen übers Meer. Er heißt Patricius und ist noch nicht einmal richtig erwachsen. Seine Besitzer zwingen ihn, die Schafe für sie zu hüten. Essen gibt es wenig, Kälte und Einsamkeit setzen ihm mächtig zu. Sechs Jahre lang geht das so. Er redet immer öfter mit Gott. Und irgendwann beginnt Gott, zu antworten. Eines Tages sagt er zu Padraig (so heißt er auf Irisch): Geh ans Meer, da liegt ein Schiff, das bringt dich nach Hause.
Weglaufen ist für einen Sklaven lebensgefährlich, aber Patrick (so schreiben wir seinen Namen heute) riskiert es trotzdem. Und Gott hält Wort: Auf wundersamen Wegen gelangt er zurück nach Hause. Doch die Geschichte endet dort nicht. Im Traum erscheinen ihm immer wieder Iren und bitten ihn, zurückzukommen und ihnen von Gott zu erzählen. Patrick verabschiedet sich von seiner entsetzten Familie und wird zum Apostel Irlands. Mit seinen Begleitern zieht er durchs Land und findet Zuspruch – bei Königen und dem einfachen Volk gleichermaßen.
Der Brite Patrick wurde aus seiner Kultur einmal gewaltsam herausgerissen und dann noch einmal friedlich und freiwillig herausgerufen. Und so wie der Jude Paulus den Griechen ein Grieche sein konnte, wird Patrick den Iren ein Ire. Die Sprache kennt er ja schon. Innerhalb weniger Jahrzehnte wird die heidnische grüne Insel ein mehrheitlich christliches Land, und zwar auf friedlichem Weg. Der Kampf gegen den Sklavenhandel bleibt ein Lebensthema für Patrick. Und tatsächlich: Die Iren stellen diese Praxis kurz nach seinem Tod ein. Damit sind sie ihren europäischen Nachbarn um Jahrhunderte voraus.
Der Riss in Gott
Ich glaube, Patrick versteht sehr gut, was Paulus meint, wenn er schreibt:
„Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen“
Er kann nachempfinden, wie das war, in die Fremde zu gehen: Wie Gott den Abraham aus seiner Heimat Ur im Zweistromland wegschickt, ohne das Ziel der Reise zu verraten. Wie Abraham zusammen mit Sara diesem Ruf folgt und sich löst aus seiner Kultur und von seiner Verwandtschaft. Es ist kein Bruch, aber eine spürbare Distanz zu den feststehenden Identitäten, die sein Leben bisher ausgemacht haben. Wie Abraham loszieht mit nichts als dem Wort eines Gottes, der selbst keine bekannte Adresse hat: Keinen Tempel, zu dem man pilgern könnte, keine Priester, die den Kontakt zu ihm vermitteln, kein Bild oder Symbol, das ihn versinnbildlicht. Alles ist ausgerichtet auf die versprochene Zukunft: Er wird viele Nachkommen haben und der Segen wird sich über die ganze Welt verbreiten. Aber noch ist Abraham, der Prototyp aller Pilger, nicht am Ziel.
Der Theologe Miroslav Volf stammt aus Kroatien und hat den Horror des Balkankriege und der „ethnischen Säuberungen“ miterlebt. Und wie schwer es war, sich dem Hass auf die anderen zu entziehen. Er hebt auch deshalb die Bedeutung dieser Distanz der Glaubenden zur eigenen Herkunft hervor. Menschen wie Abraham oder Patrick sind für ihn
»… eine Persönlichkeit, die durch Andersartiges bereichert wird; eine Persönlichkeit, die nur deswegen ist, was sie ist, weil sich in ihr viele andere in einer bestimmten Weise widerspiegeln. Die Distanz zu meiner eigenen Kultur, die daraus resultiert, dass ich aus dem Geist geboren bin, schafft in mir einen Riss, durch den andere hereinkommen können. Der Geist entriegelt die Tür meines Herzens, wenn er sagt: “Du bist nicht nur du; andere gehören auch zu dir.”«
Ich bin aus dem Geist geboren, sagt Volf. Ein neuer Anfang ist gemacht, eine neue Kraft ist am Werk, und das wirkt sich auf alle meine Beziehungen aus. Da kommen der Glaube und die Taufe noch einmal in den Blick. Die Taufe, in der sich Gott mit mir identifiziert und ich mit ihm. Denn auch Gott ist so eine „Persönlichkeit“ mit einem Riss, aus dem sein Leben und seine Liebe hervorströmt.
So richtig sichtbar wird dieser Riss in Jesus, der mit weit offenen Armen am Kreuz hängt. Der diesen irren Schmerz auf sich nimmt, um selbst den Feinden noch zu zeigen: Auch wenn ihr mich ausschließt, ich halte euch die Tür zu Gott offen. Ihr gehört zu mir und durch mich könnt auch ihr Gottes Töchter und Söhne werden.
Es bleibt eine Lebensaufgabe, in diese Identität hineinzuwachsen, die sich anderen nicht verschließt. Diese kleine Geschichte hat mich sehr berührt. Sie zeigt, wie hartnäckig und wie überflüssig Vorurteile sein können:
Parker Palmer ist über 80 und lebt in den USA. Kürzlich war er in einer fremden Stadt unterwegs und stellt sein Auto in einem Parkhaus ab. Als er bei Sturm und Wolkenbruch zurückkommt, kann er den Wagen nicht mehr finden. Ein „Engel“ (so sagt er es) in Gestalt einer schwarzen Angestellten, der er seinen Parkschein vorzeigt, stellt fest, dass er im falschen Parkhaus ist. „Ich habe gleich Feierabend und bringe Sie zu ihrem Auto – ich weiß, wo es steht“, sagt die Frau. Die beiden machen sich zu Fuß auf den Weg. Unterwegs bemerkt sie, dass ihrem betagten Gegenüber im rauen Wetter die Puste ausgeht. Sie setzt ihn in eine Kneipe und lässt sich Schlüssel und Parkschein geben. Parker Palmer wartet. Und wartet. Der Wirt fragt, ob er gerade tatsächlich seinen Schlüssel und Parkschein hergegeben hat, und geht dann kopfschüttelnd über so viel Naivität zurück hinter seinen Tresen. Eine gefühlte Ewigkeit später fährt sein Auto vor. Parker Palmer eilt hinaus in den strömenden Regen und bedankt sich überschwänglich. Die Frau sieht ihn an und sagt: „Wissen Sie, was mir am meisten bedeutet hat? Dass Sie mir vertraut haben.“ Wäre der Regen nicht gewesen, sagt er, man hätte seine Tränen sehen können.
Es muss Schluss sein
In diesem Monat wird der Bundesrat 75 Jahre alt. Beim Festakt in Berlin hat der frühere Innenminister Gerhart Baum über die Bedeutung der Menschenwürde im Grundgesetz gesprochen.
Gegen Ende seiner Rede kommt der wichtigste Satz: „Es muss Schluss sein mit dem Wahn einer ethnisch reinen Nation“.
Es muss Schluss sein. Paulus hätte Baum zugestimmt, und Abraham und Patrick auch: Wir gehören nie ganz einer bestimmten Kultur an, Wir sind alle „Hybride“. Fremdes ist nicht einfach eine Störung oder Gefahr für die eigene Identität. Ganz ehrlich, manchmal bin ich mir selbst ja fremd. Wenn ich mich dann ängstlich oder beleidigt einigele in meinem Weißsein, meinem Deutschsein oder Mannsein, wird es ziemlich dunkel und einsam. Und egal, wie fromm ich es kaschiere – Gott selbst hätte ich dann mit ausgeschlossen. Wenn bei ihm Platz ist für jemand wie mich, dann ist auch Platz für alle möglichen anderen. Ich bin nicht nur ich.
Ich habe die letzten paar Jahre hier deutlich weniger geschrieben als vorher. Das hatte auch damit zu tun, dass ich an der Frage dran war, wie eine theologische und sprituelle Antwort auf die Klimakatastrophe und das Anthropozän aussehen könnte: Eine Theologie der Ermächtigung und eine Spiritualität des Engagements.
Ich habe dafür unter dem Motto „Wild und unaufhaltsam. Mutig leben auf einem erschöpften Planeten“ eine neue Website gebastelt, auf der die Texte dann sukzessive und aufeinander aufbauend erscheinen. Wenn Ihr einsteigen mögt: Hier sind die ersten paar Kapitel, es werden noch einige:
Mitten im Herbst 2023 blühte eine Erdbeere bei uns im Garten. Allmählich wundern mich diese Dinge, die zur Unzeit geschehen, schon gar nicht mehr.
Trotzdem war ich mächtig erstaunt, als ich an einem lauen Oktoberabend an einem Nadelbaum vorbeikam, der über und über mit kleinen Würstchen übersät war, aus denen dicker Blütenstaub quoll. Ich sah genauer hin: Das müsste eine Zeder sein. Kommen jetzt schon ausgewachsene Bäume völlig aus dem Rhythmus?
Weil es mir keine Ruhe ließ, las ich nach: Zedern blühen tatsächlich im Oktober. Es war mir nur noch nie aufgefallen. Die Zeder kannte also noch ihre Zeit. Auch wenn dieser Herbst fast drei Grad wärmer war als normal.
Wie schön, dass es noch Abläufe gibt, die stimmen! Im Buch Hiob in der Bibel ist an einer Stelle von den Lebensrhythmen der Tiere die Rede, wie sie Junge bekommen und großziehen und gehen lassen.
Die Beständigkeit der wilden Geschöpfe, die ihrer inneren Uhr folgen, ist für den trauernden, mit seinem Schicksal hadernden Hiob ein göttlicher Trost. Und eine Herausforderung, sich dem Leben mit all der Energie, die darin steckt, wieder zu öffnen.
Für mich war die blühende Zeder von da an etwas Ähnliches: Ein Augenzwinkern des Schöpfers, das meinen Blick für das Gute in der Welt öffnet.
Auf einer sandigen Wiese stehen vereinzelt Bäume. Manchmal bilden sie kleine Gruppen – fünf, sechs Birken in einem engen Kreis etwa – und es gibt auch einige Paare. Eiche und Kiefer zum Beispiel, fast zusammengewachsen am Stamm. Den Platz für die Krone teilen sie sich. Es fällt erst auf, dass es ein Baumpaar ist, wenn die eine Hälfte das Laub abwirft. Als würden sie einander umarmen oder miteinander tanzen.
In den letzten Jahren gab es in meinem persönlichen Umfeld etliche Trennungen und Abschiede. Vielleicht berührt mich der Anblick dieser gestandenen Paare auch deswegen.
Ich gehe weiter in den Wald und sehe eine solitäre Kiefer auf einer Lichtung, die Unwetter in den Wald gerissen haben. Sie stand zwischen vielen Nachbarbäumen. Man sieht ihr den Verlust noch an: Die Äste und Zweige entlang der unteren drei Viertel des Stammes hatte sie abgeworfen, wie Kiefern das so tun, wenn sie zu mehreren sind. Nur die Krone trägt noch die buschigen Nadeln.
Ich bin dankbar für alle Menschen, die mir nahestehen. Und dafür, dass Gott mich in den Stürmen meines Lebens hält und trägt wie der Mutterboden diese Bäume.
Ich war diese Woche bei einer Gesprächsrunde über Naturspiritualität. Viele motivierte Menschen, tolle Ideen und interessante Konzepte. Viel positive Energie schwappte hin und her durch den Raum.
Wenn man in dem Bereich unterwegs ist, muss man sich oft rechtfertigen. Oder besser: Hat man es mit vielen kritischen Anfragen zu tun. Eine davon ist, ob die Natur nicht naiv verklärt wird, wenn wir sie als Weg zu Gott oder „Spiegel der Seele“ betrachten. Ob wir sie, anders gesagt, also nicht einfach nur so sehen, wie wir sie gerne hätten.
Gestern begegnete mir das – die Abwehr dieses vermuteten Einwands – anhand zweier Beispiele: Dass es jetzt gerade so viele Nacktschnecken gibt und dass es Viren und Pandemien gibt – das ist zum Beispiel nicht gut.
Das hat mich auf dem Heimweg noch länger beschäftigt, weil beide Beispiele das meines Erachtens nicht hergeben. Die Nacktschnecken sind erstens hauptsächlich ein Problem für unsere Gärten und Parks, also die domestizierte Natur (auch unsere Wälder sind überwiegend Nutzwälder, also Holzplantagen. Nur etwa ein Drittel gelten noch als naturnah, echte Naturwälder machen weniger als 5% aus!).
Sie sind zweitens eine Klimafolge, weil die wärmere Atmosphäre zu ergiebigeren (und in diesem Sommer auch viel häufigeren) Niederschlägen führt.
In beiden Fällen bekommen wir also eine verwundete, beschädigte Natur zu spüren, die Folgen unserer Verwüstung. Vorletztes Jahr kam ich von einer Wild Church mit einer dicken Auwaldzecke zurück. Eine Borreliose musste anschließend mit Antibiotika niedergeknüppelt werden. Wäre das vielleicht ein besseres Beispiel? Nur bedingt, denn die Verbreitung von Zecken hat eben auch damit zu tun, dass das Rotwild in unseren Wäldern bei weitem nicht ausreichend bejagt wird. Auch da ist das Gleichgewicht längst gestört.
Die Aussage „in der Natur ist auch nicht alles gut“ ist oft eben nur Ausdruck unseres verqueren Blicks auf die Natur, in dem sich immer noch alles um unsere Bedürfnisse und unser Wohlbefinden dreht und alles übrige Leben daran bemessen wird.
Eine Lektion in der Begegnung mit der Natur könnte sein, dass wir aufhören, alles auf unmittelbare Nützlichkeit hin zu bewerten und in ein Gut/Schlecht-Schema einzuordnen. Sie hat nicht erst dann ihren Wert, wenn sie erkennbar „zu etwas gut“ ist. Das wäre ja auch eine wichtige spirituelle Grundhaltung, das Urteil auszusetzen, um einen klareren Blick auf die Dinge und uns selbst zu bekommen. Sehen, was da ist.
Auf diesem Weg gibt es noch eine Menge zu entdecken. Je weniger blinde Flecken im Spiel sind, desto interessanter könnte es werden.
An einem nieseligen Sonntagnachmittag warte ich vor der Nürnberger Lorenzkirche. Da höre ich, wie sich knapp hinter mir ein Schwall Wasser geräuschvoll auf das Pflaster ergießt. Ich springe zur Seite und blicke nach oben. Hoch über mir reißt ein grimmig dreinblickendes Wesen aus Stein sein Maul auf: Ein Wasserspeier, wie er an vielen mittelalterlichen Kirchen zu finden ist.
Die Steinmetze hatten ganz offensichtlich ihren Spaß an den finsteren Gestalten. Drinnen in der Kirche, auf den Altären und in den Fenstern, sind Heilige und Szenen aus der Bibel abgebildet. Für böse Geister gilt also: „Wir müssen draußen bleiben.“ Da aber haben sie ihren Platz: Als Erinnerung daran, dass in dieser Welt nicht nur gute Kräfte am Werk sind. Und vielleicht auch daran, dass wir nicht immer alles verstehen und einordnen können, was um uns herum passiert.
Auf der Leinwand und zwischen den Buchseiten haben Geister und Dämonen an den Rändern unseres aufgeklärten Denkens überlebt. Draußen statt drinnen, ordentlich aufgeräumt, dürfen sie sie ihr Maul aufreißen wie die Wasserspeier an alten Kirchen. Ein bisschen Gruseln ist ganz nett.
Da kann man nichts machen…?
Ganz so aufgeräumt ist die Welt freilich nicht. Denn die konkrete Erfahrung, dass es zerstörerische Kräfte gibt, oder Orte mit einer bedrückenden Atmosphäre, das kenne ich ja auch. Momente, in denen ich mich ganz bewusst dagegen stemmen muss, um nicht von Angst und Hoffnungslosigkeit überwältigt zu werden. Und ich höre, wie andere vom „Ungeist“ des erstarkenden Rechtsextremismus reden. Oder von den „Dämonen der Vergangenheit“, wenn Rassisten aufmarschieren und Nazi-Parolen auf Partys gegrölt werden. Dämonen, das ist und bleibt ein schillernder Begriff. Offenbar aber einer, auf den wir nicht ganz verzichten können, wenn wir darüber reden wollen, wie es uns hin und wieder ergeht.
Wenn die Bibel von Dämonen erzählt, dann handeln diese Geschichten immer von Menschen, die sich als hilflos und ohnmächtig erleben und von etwas scheinbar Übermächtigem bedroht werden. So wie in dieser Episode aus dem Markusevangelium, in der Jesus mit seinen Jüngern den See Genezareth überquert und im Gebiet der „Zehn Städte“ landet. Die Leute dort sind keine Juden. Sie sprechen Griechisch und verehren die Götter der Griechen. Aber manche Probleme gleichen sich hüben wie drüben.
Und sie kamen ans andre Ufer des Sees in die Gegend der Gerasener. Und als Jesus aus dem Boot trat, lief ihm alsbald von den Gräbern her ein Mensch entgegen mit einem unreinen Geist, der hatte seine Wohnung in den Grabhöhlen. Und niemand konnte ihn mehr binden, auch nicht mit Ketten; denn er war oft mit Fesseln und Ketten gebunden gewesen und hatte die Ketten zerrissen und die Fesseln zerrieben; und niemand konnte ihn bändigen. Und er war allezeit, Tag und Nacht, in den Grabhöhlen und auf den Bergen, schrie und schlug sich mit Steinen.
Als er aber Jesus sah von ferne, lief er hinzu und fiel vor ihm nieder und schrie laut: Was willst du von mir, Jesus, du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht!
Denn er hatte zu ihm gesagt: Fahre aus, du unreiner Geist, von dem Menschen!
Jesus begegnet einem Menschen, der außer Rand und Band ist. Er lebt abseits der Stadt, vor allem aber gefährdet und verletzt er sich ständig selbst. Die Leute haben vor ihm Angst und wissen sich nicht anders zu helfen, als ihn zu fesseln. Sie bekommen ihn allerdings nicht so recht in den Griff. Vielleicht haben sie auch ein schlechtes Gewissen; jedenfalls sind die Stricke und Fesseln locker genug, dass er sich immer wieder befreien kann. Resignation macht sich breit: Wir haben alles versucht, nichts hat geholfen.
„Besessenheit“ und Besatzung
Der Mann bei den Grabhöhlen scheint nicht zu wollen, dass andere ihm nahekommen. Aber Jesus tut genau das: Kaum setzt er – vom jüdischen Ufer des Sees kommend – seinen Fuß auf heidnischen Boden, kommt Bewegung in die festgefahrene Situation. Unwiderstehlich zieht es den Mann zu Jesus hin. Oder wird er von dem bösen Geist getrieben? Es klingt fast so! Und Jesus? Der wirkt kein bisschen überrascht. Er scheint gespürt zu haben, dass da unheilvolle Kräfte wirken, die er mit seiner Ankunft aufscheucht. Jesus fragt seelenruhig:
Wie heißt du? Und er sprach: Legion heiße ich; denn wir sind viele. Und er bat Jesus sehr, dass er sie nicht aus der Gegend vertreibe.
Der kurze Wortwechsel ist aufschlussreich:
Die Dämonen geben sich als „Legion“ zu erkennen. Also die militärische Formation, mit der das römische Imperium seine knallharte Besatzungspolitik durchsetzt in dieser unruhigen Region. Gerasa war ursprünglich eine Ansiedlung mazedonischer Kriegsveteranen durch Alexander den Großen und seine Nachfolger. Und tatsächlich ist auch zu der Zeit, als Markus sein Evangelium niederschrieb, ganz in der Nähe eine Legion stationiert. Wirtschaftlich und psychisch ist das eine riesige Belastung für die einfachen Leute. Liebend gern hätten sie die Soldaten aus der Gegend vertrieben. Zwischen „Besessenheit“ und „Besatzung“ besteht offenbar ein Zusammenhang.
Und der Mann, aus dem die Geisterarmee gerade zu sprechen scheint, ist keineswegs der einzige Betroffene. In seiner Person verdichten sich sämtliche Ohnmachtsgefühle der ganzen Umgebung, von allen, die hier leben. Manchmal kann halt nur einer, der sich wie ein Verrückter benimmt, ungestraft den Wahnsinn aussprechen, den alle tagein, tagaus erleben.
Im Neuen Testament ist viel häufiger von Dämonen die Rede als im Ersten Testament, der hebräischen Bibel. Die stammt überwiegend aus der Zeit, in der Israel nicht besetzt war, sondern eigenständig. Es war für mich ein echtes Aha-Erlebnis, als ich auf Berichte aus der Kolonialzeit in Afrika aufmerksam wurde. Dort häuften sich mit dem Eindringen der Europäer die Fälle von Menschen, die unter Dämonen litten. Oft trugen die Geister Namen, die mit den Besatzern zu tun hatten. Manche imitierten das Geräusch einer Lokomotive. Und umgekehrt verwendeten die Heilkundigen Motoröl, Konservendosen oder Weißbrot, um die Geister fernzuhalten oder zu besänftigen: Typische Gegenstände jener Kultur, die ihre eigene bedrohte.
Jedes gewaltsame Aufbegehren gegen die reale Besatzung wäre glatter Selbstmord gewesen. Und jedes friedliche wurde gewaltsam niedergeschlagen. Im Scheingefecht mit den Dämonen war die Ohnmacht vorübergehend aufgehoben. Eine tödliche Eskalation äußerer Gewalt war trotzdem nicht zu befürchten.
Die Dämonen, auf die Jesus hier trifft, sind also keine paranormalen Spukphänomene, und auch keine wüsten Poltergeister wie bei Ghostbusters. Sie sind keine immateriellen Kobolde oder spirituellen Parasiten, die man sich wie Zecken oder Fußpilz irgendwo einfängt. Es geht auch nicht um die Seelen Verstorbener, die keine Ruhe finden und deshalb die Lebenden heimsuchen. In der Ein-Mann-Legion spiegelt sich vielmehr jener Teil der Wirklichkeit, den alle am liebsten vergessen und ausblenden würden: Das Ausgeliefertsein an fremde Eindringlinge, die Einschüchterungen und Demütigungen, die Angst vor Willkür und Gewalt, die angestaute Wut über die eigene Schwäche und der verzweifelte Hass auf die Warlords/Kriegstreiber und ihre Handlanger.
„Wenn du dich so machtlos fühlst, was wirst du dann tun?“, fragt Nelly Furtado. Sie fragt das als Kind von Einwanderern aus den Azoren. Soll sie sich an die weiße Mehrheit in Kanada anpassen, ihre Fotos retuschieren lassen und damit ihre Herkunft ausradieren? Oder riskiert sie, als fremd und störend ausgegrenzt zu werden – von einer Gesellschaft, die es sich noch immer nicht abgewöhnt hat, nicht-weiße Menschen als „Wilde“ zu betrachten. Dafür, findet sie, ist das Leben zu kurz.
Und plötzlich eskaliert das Ganze…
Zum Glück nicht: Mit dem Augenblick der Wahrheit über die „Legion“, die ihm so zusetzt, geht die Action erst richtig los. Und für einen kurzen Augenblick erinnert die Szene doch an Ghostbusters, wenn es da (Landwirte und Tierschützerinnen bitte kurz weghören) heißt:
Es war aber dort an den Bergen eine große Herde Säue auf der Weide. Und die unreinen Geister baten ihn und sprachen: Lass uns in die Säue fahren! Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die unreinen Geister aus und fuhren in die Säue, und die Herde stürmte den Abhang hinunter ins Meer, etwa zweitausend, und sie ersoffen im Meer.
Und die Sauhirten flohen und verkündeten das in der Stadt und auf dem Lande. Und die Leute gingen hinaus, um zu sehen, was geschehen war, und kamen zu Jesus und sahen den Besessenen, wie er dasaß, bekleidet und vernünftig, den, der die Legion unreiner Geister gehabt hatte; und sie fürchteten sich.
Und die es gesehen hatten, erzählten ihnen, was mit dem Besessenen geschehen war und das von den Säuen. Und sie fingen an und baten Jesus, aus ihrem Gebiet fortzugehen.
Die „Legion“ verhandelt wie eine echte Armee über ihren Abzug. Oder besser: Nicht-Abzug. Die Dämonen möchten nämlich in der Gegend bleiben. Sie bieten an, in ein anderes „Quartier“ umzuziehen – beziehungsweise, das trifft es wohl besser, ihre derzeitige Geisel gegen andere einzutauschen. Schweine gelten für Juden als unrein, vielleicht ist ja der Rabbi aus Nazareth bereit, sich auf einen Deal zu einzulassen?
Und tatsächlich – Jesus stimmt zu. Doch im nächsten Moment zerschlägt sich schon jede Hoffnung, ungeschoren davonzukommen: Hat Jesus es geahnt, hat er es vielleicht so geplant, oder passiert das alles spontan – wir erfahren es nicht. Wir lesen nur, dass die Schweine prompt den Hügel hinunterrasen und im Wasser untergehen. Die Geisterarmee versenkt sich selbst auf ihrer Flucht nach Westen.
Nach Westen, und das ist kein Zufall. Von Westen über das Meer kamen nämlich die römischen Schiffe, die Soldaten brachten und den größten Teil dessen mitnahmen, was Land und Leute erwirtschaftet hatten. Viele Menschen in der Region – Juden wie Griechen – hätten die Besatzer liebend gern nach Westen ins Meer zurückgedrängt. Und jetzt spielt sich genau das vor ihrer Nase ab, nur dass keine Menschen zu Schaden kommen. Zweitausend Schweine, das sind eine gewaltige Herde. Nicht ganz so viele, wie eine römische Legion Soldaten hat, aber die Richtung stimmt, und darauf kommt es an. Das ist mehr als ein Scheingefecht. Es ist ein Paukenschlag für die Freiheit, der weit ins Land hinein zu hören ist.
Schon einmal hat ein jüdischer Prophet eine Armee im Meer untergehen lassen. Aber an den Showdown zwischen Mose und den Ägyptern am Schilfmeer denkt im Augenblick nicht jeder. Denn alle staunen, dass der „Besessene“ plötzlich wie ausgewechselt erscheint: Er ist anständig gekleidet, seine Stimmung ausgeglichen, die Kontrollverluste überstanden.
Er ist sogar ganz erschreckend normal!
Freiheit, die nicht alle freut
Das kleine Drama weckt bei dem Umstehenden die Neugier und verursacht zugleich eine Menge Unbehagen. Es bleibt auch unklar, ob das Unbehagen eher dem Verlust der Schweine zuzuschreiben ist oder der Veränderung des Mannes, mit dem die Dämonen ihr böses Spiel getrieben hatten. Vielleicht wissen die Menschen es selbst nicht. Mit der veränderten Lage tut sich für sie ein Problem auf: Solange da ein „Besessener“ herumläuft, kann man sich daran abarbeiten. Oder sich daran gewöhnen und irgendwie damit arrangieren. So oder so braucht man keine Fragen zu stellen, auf die man die Antwort gar nicht wissen will.
In der Familientherapie ist das ein bekanntes Phänomen. In dysfunktionalen Familien, wo Menschen nicht miteinander klar kommen und einander immer wieder verletzen, gibt es oft ein „schwarzes Schaf“. Ein Familienmitglied, das sich auffällig verhält und auf das alle zeigen, wenn es um die Probleme im Miteinander geht. Es ist aber nur der Symptomträger, und nicht der Hauptverursacher der bestehenden Probleme. Das ist oft die einzige Person, die nicht am Rad dreht. Jesus hat das Schwarze Schaf aus seiner Rolle entlassen. Und plötzlich kriegen alle anderen die Krise.
Die Situation erinnert ein bisschen an jenen alten Witz von dem Betrunkenen, der im Lichtkegel einer Straßenlaterne seinen Haustürschlüssel sucht. Eine Nachbarin kommt vorbei und hilft suchen. Nach einer Weile fragt sie: „Bist du sicher, dass du den Schlüssel hier verloren hast?“ Er antwortet: „Nein, da hinten. Aber da ist es viel zu dunkel.“
Den Symptomträger in eine Klinik zu stecken, ihn mit Medikamenten ruhigzustellen, während alles bleibt, wie es ist, das wäre so eine Schlüsselsuche unter der Laterne. Ihn im desolaten Zustand bei den Gräbern hausen zu lassen, auch. Aber das geht jetzt nicht mehr. Nicht, so lange Jesus da ist. Und ich merke: Kein Wunder, dass nicht nur die Schweinehirten möchten, dass er verschwindet. Der Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme liegt im dämonischen Dunkel ihrer Ängste und Albträume. Da wird man ganz schnell überwältigt.
Es sei denn…
Kleine Aufstände allenthalben
Es sei denn, die Gerasener könnten in dem ganzen Tumult auch erkennen, dass sich das un- und übermenschliche Böse gerade selbst zerstört hat. Dass im Untergang der Schweinelegion sogar schon der Untergang der römischen Militärdiktatur durchschimmert. Dass da schon jemand im Namen Gottes unterwegs ist, der ganz erstaunlich furchtlos und handlungsfähig ist, und der Menschen aus ihrer Ohnmacht und Verzweiflung herausholt.
Wir leben derzeit zum Glück nicht unter fremder Besatzung oder in einer Diktatur. Ohnmachtsgefühle und alles, was sie begleitet, kennen wir trotzdem. Sie entstehen bei uns durch Probleme, die wir als einzelne lösen sollen, obwohl sie viel zu groß sind für jede und jeden einzelnen:
Wenn durch Inflation und Spekulation die Mietpreise explodieren und die Armut zunimmt, ist Obdachlosigkeit nicht einfach nur das Problem einzelner, die irgendwie versagt haben.
Die Klimakrise trifft die am härtesten, die am wenigsten dafür können. Egal wie radikal ich meinen persönlichen Konsum ändere, es reicht noch lange nicht aus, um sie zu stoppen.
Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt von Männern werden, erleben diese Übergriffe als etwas ganz Persönliches und Intimes. Es dauert oft lange, bis sie aufhören, den Fehler bei sich selbst zu suchen. Bis sie Worte finden für das, was ihnen angetan wurde. Erst dann zeigt sich: Nicht nur ein paar wenige sind betroffen. Und die Täter finden immer wieder Wege, ihre Schuld zu verschleiern, weil es Denkmuster und Machtkonstellationen gibt, die das fördern und begünstigen. (Auch in unserer Kirche.)
Wenn die Autor:innen der Bibel von Dämonen erzählen, dann zeigt es, wie ernst sie die Schadensmächte nehmen, die Menschen anfallen. Die sie so lange drangsalieren, bis sie sich nicht mehr vorstellen können, dass sich etwas ändert – bis ihnen die Kraft abhanden kommt, sich zu wehren. Das sind keine bloßen Wahnvorstellungen, kein primitiver Aberglaube, und wer so empfindet, ist nicht verrückter als alle anderen.
Diese krasse Geschichte tut mir richtig gut. Ich staune erleichtert darüber, wie das Böse, das manchmal so übermächtig auftrumpft, sich selbst zerstört. Gegen die Resignation ist also doch ein Kraut gewachsen: Gott selbst hat den destruktiven Mächten und Gewalten dieser Welt den Kampf angesagt. Er hat sich in Jesus auf die Seite der Ohnmächtigen und Traumatisierten geschlagen. Er erleidet am Kreuz dieselbe brutale Gewalt wie sie. Aber er zerbricht nicht daran. Er kommt mit dem verlorenen Schlüssel in der Hand aus der tiefsten Dunkelheit zurück und schließt die Tür zur Freiheit auf. Am Ende seines Evangeliums erzählt Markus die verrückteste Geschichte von allen: Vom leeren Grab. Und deutet damit an: Niemand ist jetzt vor Jesus mehr sicher. Er könnte wer weiß wo auftauchen…
Denn so wie der irdische Jesus auf Schritt und Tritt kleine, gewaltlose Aufstände vom Zaun gebrochen hat, so tut der Auferstandene das nun überall da, wo sich Menschen auf ihn einlassen und mit ihm zusammentun. Da endet die Machtlosigkeit und die Isolation. Da geht was. Und manchmal, manchmal auch ein bisschen mehr.
Es gibt Dinge, die schiebe ich gern vor mir her. Sie sind einfach nicht so dringend. „Ich mach’ das schon irgendwann, wenn grad mal mehr Zeit ist,“ denke ich mir dann. „Aber nicht jetzt, ich hab schon genug Stress.“
Manchmal komme ich mit dem Aufschieben durch. Aber dann gibt es auch die Momente, wo es lichterloh zu brennen beginnt, weil zum Beispiel der Reisepass abgelaufen und es zum Urlaub nur noch eine Woche hin ist. Dann wird es anstrengend und teuer, und manchmal ist es auch einfach zu spät.
Letzte Woche haben wir entdeckt, dass nicht nur Einzelpersonen so denken und agieren, sondern auch Gremien: Ämter, Stadträte, Regierungen. An vielen Orten wurde der Hochwasserschutz vernachlässigt. Es kommt ja nur alle hundert Jahre ein großes. Und selbst dann ist fraglich, wo genau. Wird schon gutgehen.
Aber immer öfter geht es eben nicht gut. Und dann sind ja nicht nur die betroffen, die das Problem aussitzen wollten, sondern auch die vielen anderen, die sich auf sie verlassen haben. Ein faules „wird schon gutgehen“ ist da einfach zu wenig. Wenn die Sache nämlich dringend wird, ist es schon zu spät.
Ich komme gerade zurück von einer „Pilgerreise“ nach England und Schottland. An- und Abreise hat unsere Gruppe, um möglichst klimaschonend unterwegs zu sein*1, mit der Bahn unternommen. Dabei haben wir den ganzen Katalog der Widrigkeiten erlebt: Kaputte Weichen, verpasste Anschlüsse, verfallene Reservierungen, total überfüllte Züge (hinwärts mit Fans von Manchester City und United, rückwärts mit Fans des BVB). Buchungen für zwei Unterkünfte platzten und um ein Haar hätten wir an einem Reisetag die letzte Fähre verpasst.
Nichts für schwache Nerven!
Wir hatten aber auch wunderbar ruhige Tage mit unverschämt gutem Wetter – an Orten, wo sich Himmel und Erde schon besonders nahe sind. Und als es an die Rückreise ging, war es ganz schwer zu sagen, was davon nun eindrücklicher war: Die Highlights oder all die Hindernisse, die wir gemeinsam bewältigt haben.
Jemand hat mal gesagt: „Eine Unannehmlichkeit ist nur ein missverstandenes Abenteuer. Ein Abenteuer ist eine richtig verstandene Unannehmlichkeit“. Mir scheint, wir haben entdeckt: Bei einer Pilgerreise gehört sowas wohl einfach dazu. Jedenfalls haben wir jetzt eine Menge zu erzählen.
kleiner Nachtrag: Ich finde, Pilgern lässt sich mit Flugreisen nur schwer bis gar nicht vereinbaren. Es geht ja gerade darum, nicht möglichst schnell und bequem möglichst weit zu kommen. Und darum, anderen Menschen und dem Planeten nicht zur Last zu fallen. Es gibt genug Pilgerwege und -stätten, die mit der Bahn erreichbar sind. Lassen wir es doch einfach dabei. Und wenn diese Anreise länger dauert als der Flug, kann man sich einfach entsprechend mehr Zeit dafür nehmen und es als integralen Bestandteil des Pilgerweges betrachten. ↩︎
„Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2. Kor 3,17)
Das Grundgesetz wird in diesen Tagen 75 Jahre. Und in den vielen Kommentaren dazu ist die Sorge darüber zu spüren, dass die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, die es so lange garantiert hat, derzeit so bedroht ist wie noch nie.
Sie ist bedroht von außen durch Diktaturen und ihre Handlanger, die immer zahlreicher werden und immer skrupelloser agieren. Aber das wäre zu verkraften, wäre sie nicht auch bedroht von innen: Durch Korruption, Ungleichheit, Lügen und zersetzenden Streit – um nur mal das Offensichtliche zu nennen.
Im öffentlichen Leben sieht es momentan aus wie in einer kaputten Beziehung: Alles Gute scheint nicht der Rede wert zu sein, und an allem Schlechten sind die anderen schuld. Mich erinnert das daran: Der Paartherapeut John Gottman hat schon vor Jahren vier Haltungen entdeckt, die fast unweigerlich zum Zusammenbruch von Beziehungen führen – er nennt sie die „Apokalyptischen Reiter“, Vorboten des Untergangs: Es sind Kritik, Verachtung, Verteidigung und Mauern.
Wo immer Menschen so etwas erleben, fühlen sie sich fremd und schutzlos. Und im Augenblick begegnet uns das überall: In sozialen Medien ganz besonders, in politischen Parolen, in persönlichen Gesprächen über die Zukunft unserer Welt.
Abgenutzte Ideale
Die Freiheit westlicher Demokratien lebt von Idealen: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ oder „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, so die klassischen Formulierungen für ein Ziel, das wir freilich nie zu hundert Prozent erreichen. Ideale (die romantische Liebe wäre auch eines) nutzen sich im Alltag ab und verlieren ihre Strahlkraft. Dann fehlt auch die Energie, ihnen mit der nötigen Beharrlichkeit nachzueifern.
Vor ein paar Monaten sollte ich eine Kollegin im Gymnasium für eine Stunde vertreten. Die Schüler:innen wollten – natürlich – keinen Unterricht mit mir machen, sondern spielen. Wir einigten uns schließlich darauf, dass sie am Ende der Stunde ein Spiel machen durften. Als aber der Zeitpunkt kam, rannten, redeten und riefen alle planlos durcheinander. Sie waren nicht in der Lage, aus der geforderten Freiheit etwas zu machen. Die Impulskontrolle der Gruppe funktionierte nicht. Zu wenige waren bereit, zuzuhören und sich ein bisschen zurückzunehmen um des gemeinsamen Spiels willen.
Wenn die Ideale nicht mehr ziehen, dann kommen Appelle und Drohungen ins Spiel. Im Politischen Spektrum wird auf der Linken eher appelliert und auf der Rechten lieber gedroht. Aber das Problem bleibt: Ohne Einsicht und ohne – ich sag das mal fromm: „Herzensveränderung“ – bleibt beides äußerlich. Wenn es dann nicht mehr gelingt. den Druck hoch zu halten, eskaliert alles wieder wie in der Chaos-Klasse.
Nochmal von vorn, aber anders
Paulus hat aus der Geschichte seines Volkes gelernt: Israel und Gott sind gescheitert wie viele Paare. Die Schuld daran war nicht gleichmäßig verteilt: Es braucht nur eine Seite, der die Beziehung nicht genug wert ist. Weder die Appelle der Propheten noch die Drohung mit Strafe haben es verhindert. Aber dann, als alles in Trümmern liegt, entscheidet Gott sich für einen Neuansatz:
Ideale (das Land, wo Milch und Honig fließt) sind offenbar zu wenig. Auch an sich richtige Regeln (Gottes Gebote) nageln uns eher auf Defizite fest. Es muss eine Kraftquelle dazukommen, die sich nicht erschöpft. Sie muss unabhängig sein von der äußeren Großwetterlage, und das heißt, sie muss in den Menschen selbst liegen, ohne sich in deren Endlichkeit zu erschöpfen. Dann ist auch die verlorengegangene Spontaneität wieder da.
Aber dafür ist das Eingeständnis nötig: Wir brauchen Gottes Hilfe. Es muss eine Art Herztransplantation stattfinden, denn das ist es, was Gottes Geist im Menschen bewirken kann. Wenn Gottes Sehnducht nach einer besseren Welt nichts Fremdes, Äußerliches mehr ist, wen der Wunsch danach aus mir selbst kommt und auch nicht nachlässt, dann geht es nicht mehr darum, meinen Kopf gegen Gott und andere Menschen durchzusetzen.
Nicht mehr um Spaltung, sondern um Verbundenheit geht es ab da. Und das ermöglicht Veränderung: Hochachtung – Gott und den/die Nächste:n höher zu achten als mich selbst – und Liebe, die sich selbst zurücknehmen kann, die auch mit ganz unterschiedlichen Meinungen und Bedürfnissen umzugehen lernt.
Und klar – all das fühlt sich in der Praxis manchmal trotzdem an, als würde es mich umbringen! Aber genau deshalb glauben wir ja auch an die Auferstehung von den Toten.
So war das auch beim ersten Pfingsten: Ein paar Wochen nach dem Mord an ihrem Anführer stehen die Jünger:innen wieder auf den Straßen der Stadt: Frei von Furcht und Groll, fröhlich und klar, einfach nicht totzukriegen.
Wo der Geist ist, da bricht Freiheit aus und durchlöchert die Unfreiheit in der Welt. Eine andere Welt wird möglich. Wir haben – nein, wir bekommen – alles, was wir dazu brauchen.
„Wann ist ein Mann ein Mann?“ fragt – mal wieder – ein Beitrag in der Arte-Mediathek im Anschluss an Herbert Grönemeyer. Und deutet damit im Titel an, dass es nicht ausreichen könnte, auf ein Y-Chromosom zu verweisen und/oder auf testosteronbasierte Geschlechtsmerkmale. Dass also zu Genetik und Anatomie noch etwas kommen muss, um ein „echter“ Mann zu sein. Und das das, was dazukommt, sogar irgendwie das Eigentliche sein könnte.
Lässt man sich auf den Gedanken ein, dann geht es ab da nicht einfach um Eigenschaften, nicht um ein bestimmtes So-Sein, sondern um das Tun: Männlichkeit wird ganz überwiegend performativ aufgefasst, und zwar absurderweise ganz besonders nachdrücklich von denen, die sich strikt gegen jede gendertheoretische Relativierung physischer Gegebenheiten verwahren.
Am sogenannten „Vatertag“ werden gewisse Stereotypen performativer Männlichkeit besonders zelebriert. Andere haben mit Bier und Bollerwagen weniger zu tun, aber auch da gilt: Man ist nur (oder vor allem) dann ein „richtiger“ Mann, wenn man dieses oder jenes tut.
Es gibt eine ganze Männlichkeitsindustrie, die Männern „hilft“, sich als Männer zu fühlen, indem Sie irgendwelche Männerdinge tun. Irgendeinem Ideal nacheifern, das mal so und mal so aussieht. Grölen, Grillen, irgendwas verbrennen oder irgendwas jagen … ach, und vor allem scheinen viele „richtige“ Männer sich dadurch auszuzeichnen, dass sie anderen nur allzu bereitwillig unter die Nase reiben, dass sie gar keine echten Männer sind, solange sie das nicht tun, was Männer angeblich ausmacht. Oder üble Ressentiments gegen Frauen entwickeln und verbreiten, die vermeintliche Männerdinge tun und deshalb als Bedrohung der Männlichkeit insgesamt wahrgenommen werden.
Wäre also am Ende einfach dies das Wesen des Männlichen, dass man immer einem (reichlich wandelbaren) Ideal hinterherhechelt? Ein Ideal, das deshalb auch unerreichbar sein muss, weil man in dem Augenblick, wo man es erreichte, nichts mehr tun könnte und sich die zugrundeliegende Performativität damit selbst erledigt hätte?
Oder ist dieser Anspruch, das eigene Mannsein immer und immer wieder zu verwirklichen oder zu unter Beweis zu stellen, eher eine als Problemanzeige zu sehen und eine Beeinträchtigung – wenn schon nicht der Männlichkeit, dann auf jeden Fall der Lebensqualität?
Was würde wohl passieren, wenn Männer die Nonchalance an den Tag legen könnten, einfach die zu sein, die sie gerade sind: Jetzt, in diesem Augenblick, ohne nach rechts und links zu schielen und auf Bestätigung von irgendwem zu warten, wie männlich ich dabei erscheine? Gottes Erlaubnis dazu habe ich. Aber gestehe ich mir es auch selbst zu?
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