Auf dem Weg durch die Stadt komme ich an einem Straßencafé vorbei. Eine Angestellte pustet gerade mit einem elektrischen Laubbläser den Dreck zwischen Tischen und Stühlen weg. Auf die andere Seite vom Gehsteig, da bleibt er liegen – und sie verschwindet.
Es ist ein windiger Tag und es wird wohl nicht lange dauern, bis alles wieder genauso aussieht wie vorher. Den Schmutz richtig zu beseitigen hatte sie offenbar gar nicht vor.
Manchmal greife ich ja auch zu Laubbläser-Lösungen: Schmerztablette einwerfen statt den Arzt mal draufschauen zu lassen. Hin und wieder funktioniert das auch. Oft aber tut es hinterher erst recht weh.
Dann denke ich an Jesus, der gesagt hat: Die Wahrheit wird euch frei machen. Geht den Dingen auf den Grund. Am Anfang ist es unbequem, aber dann kann sich wirklich was zum Guten verändern.
Ich stehe auf einer kleinen Brücke mitten im Knoblauchsland. Rings um mich her Gemüsefelder, unter mir kreuzt der Bucher Landgraben die kleine Straße. Ich bin hergeradelt, um nachzusehen, wie es den Bächen da draußen geht. In den letzten 14 Tagen hatten wir gut 100 mm Regen. Alles, was der Juni gelbbraun gefärbt hatte, ist nun wieder grün. Und auch die Gräben füllen sich wieder.
Bei Rob McFarlane in „Is A River Alive?“ habe ich gelesen, dass schon Leonardo da Vinci die großen und kleinen Wasserläufe in der Landschaft mit den Adern des menschlichen Körpers verglichen hat. Das gilt nicht nur für die Struktur, die sich immer feiner verästelt, sondern auch für die Funktion: Alles Leben hängt von Ihnen ab. Deshalb ist es mir so wichtig, wenigstens die Namen der Bäche hier zu kennen. Sie waren vor uns Menschen da, und auch wenn heute vieles verändert und überbaut ist, sie haben dem Land, auf dem ich lebe, seine Gestalt gegeben.
Im Bucher Landgraben, der begradigt zwischen den Äckern eingezwängt verläuft, fließt wieder klares Wasser. Zwei Rotschwänzchen führen einen kleinen Tanz auf unter einem Busch am Ufer. Seine Zweige ragen über das Wasser, und plötzlich schießt da ein kleiner Vogel im Tiefflug den Graben entlang. Er fliegt unter der Brücke durch und taucht ein paar Meter weiter pfeilschnell ins Wasser. Sein Gefieder schimmert in leuchtenden Blau und Türkis: Es ist ein Eisvogel.
Er taucht auf dem aus dem Wasser, bleibt kurz sitzen und folgt dann dem weiteren Verlauf des Grabens. Ich bleibe noch eine Weile stehen, aber er kommt nicht wieder zurück. Ein Feldhase beäugt neugierig das Gemüsefeld. Ich wende mein Fahrrad Richtung St. Johannis. Auch der Poppenreuther und der Wetzendorfer Landgraben führen wieder Wasser. Eine Woge der Dankbarkeit schwappt über mich hinweg.
Und der Eisvogel – das war ein Augenzwinkern vom Himmel.
Ganz im Westen Irlands liegt der Croagh Patrick, der heilige Berg der Iren. Ich habe den Gipfel erreicht und genieße den spektakulären Ausblick. Gerade will ich ein Foto machen, da spricht mich jemand an und sagt: „Das ist so schön, das lässt sich gar nicht einfangen“. Ich gebe ihm Recht und sage: „Ja, der mühsame Aufstieg hat sich wirklich gelohnt!“
Er antwortet: „Während ich hier hochgekraxelt bin, war ich mir da nicht so sicher.“ Und ich antworte: „So ist das, wenn man sich auf einen Pilgerweg macht. Da gibt es keine Gewissheiten, nur die Sehnsucht.“
Die Bergkapelle ist verschlossen, ein paar Amerikaner in Guinness-T-Shirts unterhalten sich laut gegen den Wind. Der Zauber verfliegt und ich steige wieder ab. War ich Gott und dem Heiligen Patrick hier jetzt besonders nahe?
Und dann verstehe ich es: Ich war ihm nahe in meiner Sehnsucht und auf dem langen, steilen Weg. Der Gipfel war nur die Zugabe. Und jetzt, wo ich es weiß, kann ich das eigentlich überall.
Bis in den Frühsommer hinein waren die Futtersäulen an unserem Eibisch und der Felsenbirne immer prall gefüllt. Für die Vögel: Meisen, Rotkehlchen und Eichelhäher fanden sich ein; und im ihrem Gefolge eine wachsende Anzahl Spatzen und Tauben. Meine Frau musste immer öfter nachfüllen. Auch deshalb, weil neben all den gefiederten Gästen die Eichhörnchen aus der Nachbarschaft den Futterplatz entdeckt haben. Akrobatisch schaukeln sie mit den Hinterbeinen an einem Ast und angeln mit den Vorderpfoten die Kerne aus dem kleinen Loch am unteren Rand des Behälters. Sie stopfen sich genüsslich den Mund voll und verschwinden mit ihrer Beute. Ab und zu werfen sie uns einen neugierigen Blick aus ihren Knopfaugen zu oder wackeln mit dem buschigen Schwanz.
Wir haben die Futterperiode verlängert, weil im Frühjahr alle ihre Jungen versorgen müssen. Vielleicht bleibt es uns auch deshalb so gut im Gedächtnis, als wir lesen, dass Eichhörnchen ein ganz bemerkenswertes Verhalten an den Tag legen: Wenn ein Eichhörnchen unbeaufsichtigte Junge in einem anderen Nest findet, beobachtet es den Ort eine Weile lang. Zeigt sich länger kein Elterntier, holt das Eichhörnchen die Waisen zu sich und zieht sie mit den eigenen Jungen zusammen auf. Das ist eine kleine Besonderheit im Tierreich, die zeigt: Eichhörnchen können mitfühlen mit ihren Artgenossen. Und sie sorgen für die, die sich selbst nicht helfen können. Seither, liebe Hörerinnen und Hörer, habe ich die niedlichen Geschöpfe noch viel mehr ins Herz geschlossen.
Das biblische Wort für dieses Mitgefühl ist „Barmherzigkeit“. Die Not und das Leid anderer geht mir „an die Nieren“. Aber es bleibt nicht bei einer emotionalen Betroffenheit. Ich tue, was ich kann, um dem oder der anderen zu helfen.
Not, die an die Nieren geht
Zusammen mit Juden und Muslimen beschreiben wir Christen Gott als den Barmherzigen. Da sind wir uns an einem ganz zentralen Punkt alle einig. Wenn wir von dem barmherzigen Gott reden, dann sagen wir: Gott geht es an die Nieren, wenn Menschen in Not geraten. Ob sie das selbst verschuldet haben oder nicht, spielt dabei keine große Rolle. Wenn unsere Kinder schmerzhafte Fehler machen, leiden wir menschlichen Mütter und Väter ja auch unwillkürlich mit. Den wenigsten gelingt es, sich aus dem Schlamassel herauszuhalten. Und genau darin sind wir, zusammen mit den Eichhörnchen, Gott ähnlich.
„Gut so!“ würde wohl Jesus dazu sagen. Es ist gut für die Welt, dass Gott das oft unermessliche Leid seiner Menschenkinder nicht kalt lächelnd geschehen lässt. Gut, dass er sich einmischt und eine Bewegung der Liebe und Barmherzigkeit in der Welt in Gang gesetzt hat. Und selbst wenn die manchmal deprimierend schwach und klein daherkommt angesichts der gigantischen Zerstörung auf unserem Planeten – sie ist auch 2000 Jahre später noch ziemlich lebendig. Sie fängt mit Jesus selbst an, aber sie bleibt da nicht stehen.
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6,36)
Gleich zu Beginn ihres gemeinsamen Weges sagt Jesus das zu seinen Nachfolger:innen. So erzählt es der Evangelist Lukas.
Es hängt nicht an der Sprache, nicht am Intellekt, nicht an der Fähigkeit, sich der Welt zu bemächtigen. Dass ich Gott ähnlich bin, zeigt sich darin, dass ich andere in ihrem Schmerz und ihrer Verwundbarkeit wahrnehme. Dass ich mich berühren lasse von ihrem Schicksal und mir eingestehe, dass es mich etwas angeht. Dass ich sie nicht als lästige Bittsteller und Sozialfälle abstempele, für die ich nicht zuständig bin. Ich gehe nicht auf Distanz, sondern bleibe an ihrer Seite.
Anders gesagt: Schmerz, Not und Bedürftigkeit trennen uns nicht, sie verbinden uns. Es kann jeder und jedem passieren. Und allen tut es gut, wenn dann jemand da ist und Anteil nimmt. Wie die Sisters of Mercy aus dem gleichnamigen Lied: „Die barmherzigen Schwesternwarten auf dich, wenn du glaubst, dass du nicht mehr weiter kannst. Sie schenken Trost und ein Lied wie dieses hier.
Barmherzigkeit.
Barmherzigkeit entsteht aus Empathie, aus Mitfühlen und Betroffenheit. Ich lasse zu, dass mir etwas an die Nieren geht. Das ist wichtig. Das Gefühl muss dann aber auch einen praktischen Ausdruck finden – geduldiges Dasein und anerkennendes Zuhören, das tröstende und aufmunternde Wort, ein Taschentuch, ein Stück Schokolade oder noch viel handfestere Formen von Hilfe. Und oft müssen da viele zusammenhelfen. Wenn vor mir auf der Straße jemand stürzt, kann ich der Person auf die Beine helfen. Vielleicht braucht sie aber auch einen Arzt, dann kann ich sie dahin begleiten. Sobald aber ein größeres Unglück passiert, braucht es Organisationen und Netzwerke, die helfen. Viele einzelne, die koordiniert anpacken. Erdbebenhilfe, Seenotrettung, Pflegeheime, Kliniken. Persönliches und gemeinschaftliches Handeln lässt sich kaum voneinander trennen. Und selbstverständlich ist es auch ein Akt der Barmherzigkeit, wenn wir verhindern, dass Menschen und Mitgeschöpfe überhaupt in Not geraten.
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Im Matthäusevangelium liest sich das ein bisschen anders, da steht: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Ein Satz, bei dem ich mich immer etwas beklommen gefühlt habe, wenn ich ihn las. Dass Gott vollkommen ist – geschenkt. Aber ich kleiner Mensch mit meinen Macken bin meilenweit entfernt von jeglicher Vollkommenheit. Deshalb klingt diese Erwartung in meinen Ohren überzogen, unerfüllbar – und letztlich auch unbarmherzig.
Doch jetzt sehe ich: Für Jesus sind Barmherzigkeit und Vollkommenheit ein und dasselbe. Vollkommen zu sein, bedeutet einfach nur, barmherzig zu sein. Da geht es gar nicht um irgendeine Art von Perfektion oder Höchstleistung. Sondern darum, dass ich großzügig über die Unvollkommenheit anderer hinwegsehe, ihnen ihre Fehler nicht ständig unter die Nase reibe, und mit unserer mächtig ramponierten Welt behutsam und fürsorglich umgehe. Und dabei – das gehört unbedingt dazu – auch barmherzig mit mir selbst bin. Mich nicht immer weiter reinstresse, wenn ich längst schon spüre, dass ich nicht mehr kann. Ich bin nicht Gott. Ich werde müde und meine Kraft ist endlich.
In einem Meditationskurs hat unser Kursleiter nach fast jeder Anweisung immer noch gesagt: „So gut’s grad geht.“ Ich habe das Jahre später immer noch im Ohr: „So gut’s grad geht.“ Es hilft mir. Ich darf barmherzig sein – so gut’s grad geht.
Heilsame Tränen
Kürzlich war ich mit einer Gruppe von Aktivist:innen zusammen, die sich für Klimagerechtigkeit engagierten. Eine lebenswerte Welt für alle Menschen, besonders für die Armen bei uns und im globalen Süden, die sich (anders als die Reichen) kein Hitzefrei nehmen oder an andere Orte umziehen können. Leute, die sich berühren lassen von dem millionenfachen Leid, das die Plünderung des Planeten schon mit sich gebracht hat und noch bringt. Sie haben sich eingesetzt und große Opfer gebracht. Zeit und Kraft sind in Aktionen und Projekte geflossen. Der Idealismus war riesig.
Aber statt dass die Dinge sich zum Guten wenden, haben sich die Krisen verschärft. Vieles, was sie den Regierungen mit immenser Mühe abgerungen haben, wird gerade wieder über den Haufen geworfen. Etliche erzählen an diesem Tag, wie sie an einen Punkt kamen, an dem nichts mehr ging. Und immer wieder fließen Tränen. Ich sitze ganz still da und spüre, wie sich der Schmerz der anderen mit meinem eigenen verbindet. Und wie nah wir einander sind, obwohl wir uns kaum kennen.
Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf kam – in der Mittagspause am gleichen Tag lese ich ein Gedicht von Rumi, dem großen persischen Weisen. Das tut mir gut:
Es schießt das Kraut, wo immer Bäche fließen, -
Erbarmen sprießt, wo Tränen sich ergießen.
Dem Wasserrade gleich, im Tränentau
Klage, bis frisch ergrünt der Seele Au!
Weinende tröste, wenn du Tränen liebst,
Denn Gnade wird dir, wenn du Gnade übst.
Tränen und Traurigkeit zulassen. Bei mir selbst und bei anderen. Im Weinen erholt sich die Seele. Der Tau der Tränen, sagt Rumi, benetzt sie. Wie eine Wiese in einem schattigen Tal wird sie wieder grün und fruchtbar. Erbarmen sprießt aus dem befeuchteten Boden. Mir hilft diese wunderschöne Beschreibung zu verstehen: Wenn ich keine Angst vor den eigenen Tränen habe, kann ich auch andere trösten. Wer Trost spendet, der wird auch Trost finden, wenn er ihn braucht. Erbarmen sprießt, wo Tränen sich ergießen, sagt Rumi. Und Jesus: „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.“ „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“
Trösten und Barmherzigkeit sind keine Einbahnstraße. Wenn ich sie finden will, muss ich auch bereit sein, sie anderen zu schenken. Diese Wechselseitigkeit spielt bei Jesus eine entscheidende Rolle.
„Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.“ (Lukas 6,37-38)
Kompromisslose Güte
Du hast die Wahl, scheint Jesus zu sagen: Wenn Du Menschen abstempelst, sie vor anderen schlecht machst und ihnen ihre Fehler und Versäumnisse unablässig unter die Nase reibst, dann musst du damit rechnen, dass es dir früher oder später genauso ergeht. Wenn du dagegen großzügig bist, wenn du das Gute in anderen siehst und auf ihren Unzulänglichkeiten nicht herumreitest, dann werden andere, ja dann wird Gott selbst diesen wohlwollenden Maßstab auch bei dir anlegen.
Entweder funktioniert die Welt im tiefsten Inneren nach dem Prinzip der Barmherzigkeit. Oder es gewinnt der Stärkere, Skrupellosere und Abgestumpftere. Ich entscheide, auf welche Seite ich mich stelle und welches Prinzip in meiner Welt gilt. Gott hat sich für die Barmherzigkeit entschieden. Jetzt sind wir dran.
Das klingt alles ziemlich krass und kompromisslos, wie Jesus das sagt. Für Jesus ist klar, dass die Initiative von Gott ausgeht. Aber sie darf da nicht stehenbleiben. Sie ist als Kettenreaktion gedacht, die Kreise zieht. Und ja, natürlich kann ich nicht mit allen Menschen auf einmal weinen und trauern, nicht alle gleichzeitig schützen, unterstützen und verarzten. Aber das darf andererseits nicht dahin führen, dass ich meine, mir kein Mitgefühl mehr leisten zu können.
Ich kann in diese Frage offenbar nicht neutral bleiben. Denn Gleichgültigkeit ist für die Opfer von Unrecht und Gewalt genauso schlimm wie der Mutwille und die Aggression der Ausbeuter und Unterdrücker. Martin Luther King schrieb einmal, dass er das Schweigen der Freunde noch viel schlimmer fand als den Hass der Feinde. Das ist auch heute für viele Helfer:innen und Aktivist:innen so. Immer mehr Menschen verhalten sich immer gleichgültiger. Und die Zahl derer, die sich reinhängen und verantwortlich fühlen, geht zurück. Das tut weh und raubt vielen die Kraft.
Die Insel der Unseligen
Vor drei Wochen war ich, eher zufällig, an einem der Drehorte von „The Banshees of Inisherin“. Den Film, der für 9 Oscars nominiert wurde, spielt im Jahr 1923 auf einer Insel vor der Küste Irlands. Während auf dem „Festland“ gegenüber noch der Bürgerkrieg tobt, sind die Insulaner sehr darauf bedacht, sich herauszuhalten. Das Leid ihrer Landsleute sehen sie lieber aus der Ferne. Auch die beiden unzertrennlichen Freunde Pádraic und Colm. Abend für Abend sitzen sie im Pub, trinken einträchtig ihr Bier und schauen, Irland im Rücken, auf den Ozean hinaus.
Keem Beach, Acaill Island, Co. Mayo, Irland
Aber dann zerbricht die Freundschaft aus heiterem Himmel. Colm zieht sich komplett zurück und Pádraic versteht die Welt nicht mehr. Das Beziehungsdrama eskaliert in immer groteskeren, verstörenderen Szenen. Freunde und Verwandte sind ratlos. Was ist geschehen?
Auf Inisherin spielt sich eine Art Bruderkrieg ab. Pádraic ist so verletzt, dass er Colm keine Ruhe lässt. Und Colm versucht, sich Pádraic mit allen Mitteln vom Leib zu halten. Vom Festland weht unterdessen der Wind den Kanonendonner und Rauch eines anderen Bruderkrieges übers Meer herüber. Mit dieser Gegenüberstellung stellt der Film die Frage: Ist es überhaupt möglich, sich von den Konflikten der Welt abzukoppeln? Oder fressen sich die verdrängten Spannungen schließlich und auf absurdeste Weise in die abgeschirmte Idylle hinein und zersetzen sie von innen heraus? Inseln der Seligen im Ozean der Tränen zu bewohnen, das könnte mit allerhand versteckten Kosten verbunden sein.
Umstrittene Tugend
Vor ein paar Wochen hat Elon Musk mit einer Aussage großes Aufsehen erregt. Da bezeichnet er Empathie, Mitgefühl, als Schwäche, als eine Art Programmierfehler unserer Kultur. Sie drohe, sagt er, selbstmörderisch zu werden für die westliche Zivilisation. Damals war er schon längst dabei, die staatliche Entwicklungs- und Katastrophenhilfe für arme Länder gnadenlos einzustampfen. Er ließ es freilich so klingen, als seien die USA insgesamt am Rande eines lebensbedrohlichen Burnouts, weil sie sich im Einsatz für andere total verausgabt hätten. Sie müssten sich jetzt erst mal um sich selber kümmern. Das stellt die wahren Verhältnisse auf den Kopf. Gerade bei den Superreichen wäre genug Geld da, um das Leben und die Zukunftsaussichten der Armen im eigenen Land wie auch in anderen Weltregionen sofort zu verbessern. Verrückt: Die stärkste Volkswirtschaft der Welt verabschiedet sich aus der Verantwortung für Schwächere und behauptet, das sei Notwehr.
Musk behauptet, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft würden ausgenutzt. Wie viele andere Rechte unterstellt er den Bedürftigen Faulheit, Gier und Unverschämtheit. Sie sind für ihn Parasiten. Und er erweckt den Eindruck, man müsse die Anständigen (sprich: die Wohlhabenden) vor dieser Bedrohung schützen. Barmherzigkeit droht zum Schimpfwort zu werden im Zeitalter der unverblümten Machtpolitik, des Narzissmus und der dominanten Männlichkeit. Als würde ich die eigene Leute verraten, wenn ich anderen gegenüber barmherzig bin.
Der Opfer-Trick Das ist natürlich eine astreine Täter-Opfer-Umkehr:
„Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.“ (Lukas 6,41-42)
Ich hatte diese Worte von Jesus bisher immer nur als Anweisung verstanden, in persönlichen Konflikten erst mal vor der eigenen Tür kehren. Nicht mit zweierlei Maß zu messen, und nicht an anderen herumzudoktern, ohne mir meiner eigenen blinden Flecke bewusst zu werden. Aber das sind ja alles Peanuts im Vergleich zu der Dreistigkeit, mit der Menschen ihr unbarmherziges Verhalten anderen gegenüber rechtfertigen. Wie sie irgendetwas suchen, das sie an ihnen aussetzen können, irgendeinen Splitter, um jeden Anspruch auf menschenwürdige Behandlung dann abzulehnen. Geflüchtete, so raunen die einen, ließen sich auf unsere Kosten das Gebiss teuer sanieren. Bürgergeldempfänger:innen, behaupten andere, lachen sich ins Fäustchen, während sie gemütlich in der (Achtung: Unwort!) „sozialen Hängematte“ schaukeln. Solche böswilligen Verdrehungen machen mich traurig und wütend.
Und dann fallen mir die Eichhörnchen wieder ein, und ich denke: Wie gut, dass es dieses positive Beispiel gibt!
Eichhörnchen beherrschen den Perspektivwechsel. Sie versetzen sich in die Lage anderer hinein. Damit sind sie zum Beispiel auch in der Lage, ihre Artgenossen auszutricksen. Manchmal tun sie unter den Augen der anderen so, als würden sie Futter an einem bestimmten Ort verbuddeln. In Wahrheit warten sie, bis sie unbeobachtet sind, und verstecken ihren Vorrat woanders. Aber wenn Barmherzigkeit gegenüber fremdem Jungtieren gefragt ist, gibt es keine Tricksereien, kein Vortäuschen falscher Tatsachen, keine Klage über die Zumutungen, die das mit sich bringt. Dann kümmern sie sich, ohne Wenn und Aber.
Wir müssen uns wohl oder übel darauf einstellen, dass Barmherzigkeit immer öfter nicht nur als naiv, sondern als störend und ärgerlich empfunden wird. Darauf, dass nicht nur das Helfen Kraft kostet, sondern dass wir uns dafür auch noch mühsam rechtfertigen und verteidigen müssen. Die Versuchung, sich neutral zu verhalten und sich in achselzuckende Gleichgültigkeit zu flüchten, nimmt zu. Viel wird davon abhängen, ob junge Menschen echte Barmherzigkeit bei anderen erleben und sich ein Beispiel an ihnen nehmen. Und sich dann auf die Seite von Jesus schlagen. Und die der Eichhörnchen.
Lass dich von der Barmherzigkeit leiten – Let Mercy Lead. Das singt der Musiker Rich Mullins für ein kleines Kind. Und ich wünsche mir das für jedes Kind: Die heilsame Kraft der Barmherzigkeit soll dir begegnen. Sie soll dir richtig Lust darauf machen, dich dieser Bewegung anzuschließen, die Gott in die Welt gebracht hat. Weder durch Enttäuschungen noch Einschüchterungen sollen dich aufhalten. Pack‘ fröhlich überall da an, wo es nötig ist. So gut’s grad geht. Let Mercy Lead – folge der Spur der Barmherzigkeit.
Vorletzte Woche standen wir am Blacksod Lighthouse auf der Belmullet Peninsula im irischen County Mayo. Eine Tafel erinnert dort an den 4. Juni 1944. Der Leuchtturm war damals, vor 81 Jahren, auch Wetterstation.
Die 21jährige Maureen Flavin hatte in diesen Tagen Dienst in Blacksod. Sie meldete die Wetterdaten regelmäßig an die vorgesetzte Stelle von Met Éireann. Aber plötzlich kamen mehrere telefonische Nachfragen aus England. Maureen beantwortete alle nach bestem Wissen und Gewissen. Ein Sturmtief war aus Nordwesten gekommen und zog weiter Richtung Kanalküste.
Erst viele Jahre später erfuhr sie: Ihre Auskunft hatte dazu geführt, dass Eisenhower die Operation Overlord (die Landung der Alliierten in der Normandie) um zwei Tage verschob. Im Sturm wäre die Aktion mit großer Sicherheit gescheitert. Aber die deutsche Wehrmacht in Frankreich wusste auch nicht, dass sich gleich nach dem Sturm das Wetter wieder beruhigen würde. Sie war wettertechnisch blind. So ergab sich mit der Landung am 6. Juni ein zusätzlicher Überraschungseffekt für die 150.000 Mann starken Invasionstruppen. Es war einer der drei großen Wendepunkte im Zweiten Weltkrieg.
Die Einheimischen erzählen übrigens auch, dass Maureen Flavin nur deshalb am Telefon war, weil ihr Kollege und späterer Ehemann Ted Sweeney im Pub war.
Sie selbst sagte im Rückblick:
They could arrange everything but they couldn’t pre-arrange the weather!
They had it all worked out to the nearest detail, but our weather report put the first spoke in the wheel.
They would have gone ahead and the invasion would have been a complete disaster. There they were with thousands of aircraft and they couldn’t tolerate low cloud. We’re delighted we put them on the right road. We eventually had the final say!
Als Blacksod allmählich im Rückspiegel verschwand, dachte ich mir: Wenn die Entscheidungsträger doch heute noch die Größe hätten, sich von den Meteorolog:innen und Klimawissenschafter:innen etwas sagen zu lassen. Stattdessen hat die Trump-Administration die Mittel für die Klimaforschung drastisch zusammengestrichen. Das bedeutet, dass die Welt zunehmend blind wird für das, was sich in den Ozeanen und der Atmosphäre zusammenbraut.
Obwohl sie wussten, dass das System bereits gekippt war und nicht mehr funktionierte, und obwohl sie voneinander wussten, dass sie das wussten, agierten sie, als glaubten sie weiterhin an die Zukunft des Gewohnten.
Zu Millionen führten sie täglich die Scharade der Normalität auf – unter anderem deswegen, weil sie sich keine Vorstellung von einer Alternative machen konnten und deshalb vor dem Gedanken an radikale Veränderung zurückscheuten.
Heute ist das wieder so. Es ist offensichtlich, dass es nicht so weitergehen kann. Dass ein radikales Umsteuern erforderlich ist. Aber die Radikalität, in der unser Lebensstil durch die Krise in Frage gestellt wird, macht Angst. Also flüchten unsere Gesellschaften in die Verdrängung, statt sich ihrer Möglichkeiten bewusst zu werden, rechtzeitig noch etwas zu ändern.
Es wäre mal interessant, Maureen Sweeney oder Dwight D. Eisenhower dazu zu hören.
Der wahrscheinlich meistfotografierte Baum der Welt steht am Hadrian’s Wall, der seit der Römerzeit die Grenze zwischen Nordengland und Schottland markiert. In einer Senke zwischen zwei runden Hügeln, der Sycamore Gap. Es ist ein 200 Jahre alter Bergahorn.
Seit dort 1991 eine Szene aus „Robin Hood, König der Diebe“ gedreht wurde, hat er sich zu einem beliebtes Ziel für Wanderer und Ausflügler entwickelt. Sogar etliche Heiratsanträge gab es in seinem Schatten.
2023 kamen dann zwei Typen mit einer Motorsäge und fällten den Baum, mitten im Nationalpark. Sie nannten keinen Grund dafür. „Ist doch nur ein Baum“, sagte der eine. Der öffentliche Aufschrei war riesig. Warum macht jemand so etwas? Die Antwort ist: Weil er kann. Und weil es Aufmerksamkeit einbringt.
Der Baumstumpf treibt inzwischen wieder neu aus. Dieser Baum war nie nur ein Baum; er war ein Wahrzeichen für die Schönheit von Gottes Schöpfung. Jetzt ist er ein Mahnmal gegen menschlichen Irrsinn.
Ab und zu komme ich am Nürnberger Flughafen vorbei. An beiden Enden der Start- und Landebahn verläuft ein Zaun. Oft – fast immer – parken da Autos. Leute sitzen drin und schauen aufs Handy oder in die Gegend, bis wieder ein Flieger abhebt oder landet.
Ich könnte mir jetzt lauschigere Plätzchen vorstellen als den Flughafenzaun, aber er scheint viele magisch anzuziehen. Treibt das Fernweh sie her, die Sehnsucht nach der großen weiten Welt? Weckt der Kerosingeruch wohlige Erinnerungen an den letzten Urlaub? Und spielt das Autoradio „Über den Wolken“, während die Wärme über der Rollbahn flimmert? Oder doch eher „Take Me on Your Mighty Wings“ aus dem Soundtrack von Top Gun?
Vielleicht braucht man das manchmal. Diese Vorstellung: Ich könnte jederzeit weg von hier. Ein großer Vogel nimmt mich mit und alles, was mich stresst, bleibt da. Eskapismus (die Flucht aus der Wirklichkeit in die Phantasie) ist auch gar nichts Neues. In Friedrich Rückerts Gedicht „Vom Büblein, das überall hat mitgenommen sein wollen“ hießt es wieder und immer wieder: „Wenn nur was käme und mich mitnähme!“
Die Menschen zu biblischen Zeiten kannten das Gefühl erdrückender Enge auch. Aber mir scheint, dass sie sich in solchen Situationen nicht wegträumten – jedenfalls nicht alle. In den Psalmen heißt es über Gott: „ Er führte mich hinaus in die Weite (…), denn er hatte mich lieb!“ Es gibt ja solche Begegnungen und Beziehungen, in denen ich Freiheit und Klarheit finde.
Raus aus der Enge und dem Druck – das geht auch ganz ohne Flughafen.
Die Mauersegler sind wieder da. Über 10.000 Kilometer weit sind sie geflogen, um hier Nester zu bauen und ihre Jungen aufzuziehen. Jetzt ziehen sie ihre Kreise über meiner Straße und ich höre ihre schrillen Rufe.
Ich freue mich, sie zu sehen – und staune, wie diese kleinen Vögel diese gewaltige Entfernung zurücklegen, Jahr um Jahr. Ende Juli fliegen die ersten schon wieder zurück. Seit tausenden von Jahren ziehen sie ihre Bahnen am Himmel. Da ist noch etwas in Ordnung – ein uraltes, lebensfreundliches Muster.
Es ist durchaus ein Kompliment (und ein tröstliches Signal), dass die gefiederten Stammgäste uns immer noch jedes Jahr besuchen kommen. Klimakrise und Insektensterben machen es ihnen ja nicht leichter. Und doch halten sie uns die Treue.
Vielleicht liegt es an dieser Treue, dass ich mir wünsche, wir wären Ihnen auch gute Gastgeber. Sie brauchen ja nicht viel: Geeignete Nistplätze an den Häusern, weniger Schadstoffe in Luft, Böden und Wasser.
Ich bin überzeugt, wenn wir dafür sorgen, tun wir nicht zuletzt uns selbst einen Gefallen. Ich hoffe, die neue Bundesregierung versteht das eines baldigen Tages auch noch. Bisher scheint sie Arten- und Klimaschutz eher als lästigen Kostenfaktor für die (Agrar-)Industrie zu verstehen. Sie sollte den Bestand der Mauersegler in ihre Kennzahlen aufnehmen und in ihre Entscheidungen einbeziehen.
Genau drei Wochen sind es ab heute noch bis Ostern. Der größere Teil der Passions- und Fastenzeit ist geschafft. In diesem Jahr überschneidet sie sich mit dem Fastenmonat Ramadan. Der geht morgen zu Ende. Wir Christen feiern heute erst mal eine Art „Bergfest“.
Fast vorbei das Fasten. Fast vorbei das freiwillige Verzichten in allen möglichen Formen. Es geht dabei nicht um heldenhafte Anstrengung. Niemand, den ich kenne, fastet zwischen Aschermittwoch und Ostern in dem Sinne, dass sie oder er auf jede Nahrung verzichtet. So etwas geht vielleicht mal für ein paar Tage, wenn man den normalen Alltag noch bewältigen muss.
Aber viele verzichten auf einen bestimmten Genuss: Schokolade, Fleisch, Rauchen, Soziale Medien, Netflix – solche Dinge. Meine Frau fastet diesmal Alkohol, und weil es alleine weniger als halb so schön ist, ein Feierabendbier zu trinken, mache ich mit. Am Sonntag, also heute, unterbrechen wir das Fasten. So sieht es schon die alte christliche Regel vor. Da gönnen wir uns dann ein Glas Wein. Und was soll ich sagen – letzten Sonntag haben wir beide zusammen beim ersten Schluck festgestellt: Der Wein schmeckt intensiver, gerade weil er nicht alltäglich ist. Auch Genießen kann sich offenbar abnützen.
Verliebt ins Leiden?
Fasten wäre also missverstanden, wenn wir so eine Art religiösen Hungerstreik draus machen würden. Es geht gerade nicht darum, möglichst elend daherzukommen, damit Gott etwa Mitleid mit mir bekommt oder beeindruckt ist von meiner Härte gegen mich selbst und mich entsprechend belohnt. Nein, der Lohn des Fastens, wenn es einen gibt, der liegt im Fasten selber: Ich stelle fest, es geht auch ohne. Und nicht einmal schlecht. Und auf einmal ist da auch mehr Platz für einen anderen Hunger, den Hunger nach Gott und das Mitfühlen mit anderen Menschen.
Mitfühlen ist wichtig. Und dran. Statt Fastenzeit sagen wir Evangelischen zu diesen sieben Wochen vor Ostern: Passionszeit. Die Leidensgeschichte Gottes mit seiner Welt rückt ins Zentrum. Der Leidensweg von Jesus. Wir lesen die Geschichten von Jesus, der klammheimliche, aber auch wütende Ablehnung erlebt – wie viele Menschen vor und nach ihm. Ein aufgebrachter Mob wünscht ihm den Tod an des Hals, er wird verhaftet, misshandelt, er erlebt einen unfairen Prozess und wird brutal hingerichtet. Fast alle seine Leuten verlassen ihn.
Die Geschichten vom leidenden Christus sind und bleiben eine Zumutung. Ebenso wie die Geschichten, die mich über die Nachrichten erreichen: Krieg, Ausbeutung, Hass, Gewalt. Und natürlich auch die Schicksalsschläge in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis. Manchmal habe ich das Gefühl, gleich erdrückt mich das alles. Es schnürt mir die Luft ab und raubt mir die Kraft.
Dann will ich mich daran erinnern lassen: Gott steht nicht abseits und sieht ungerührt zu, wie Menschen leiden und trauern. Gott ist denen nahe, die ein zerbrochenes Herz haben – so heißt es in der Bibel. Der Schmerz aller Lebewesen geht ihm zu Herzen, auch mein ganz persönlicher. In Jesus stellt er sich unmissverständlich auf die Seite der Opfer. Ich glaube, wenn das nicht wäre, wäre die Welt wirklich zum Verzweifeln.
In diesem Jahr spüre ich aber auch noch ein anderes Bedürfnis. Ich will mich nicht überwältigen lassen von all dem, was entsetzlich ist. Das ist ein bisschen wie das eine Glas Wein am Sonntagabend: Es sorgt dafür, dass das Fasten keine griesgrämige Geschichte wird. Ich brauche zwischendurch schöne und fröhliche Momente. Nichts Großes und Aufwändiges. Aber genug, um alle eigene und mitempfundene Traurigkeit, Sorge und Ohnmachtsgefühle für eine Weile etwas aufzuhellen und zu lindern. In der Hoffnung, dass ich dann wieder in der Lage bin, dem Bedrückenden nicht auszuweichen und es nicht zu verdrängen. Und ganz offensichtlich bin ich mit diesem Wunsch nicht allein. Lange vor mir haben andere das auch schon gespürt. Und deshalb haben sie diesen Bergfest-Sonntag „Laetare“ genannt. Das ist Lateinisch – auf Deutsch heißt es: „Freut euch“.
Und was könnte der Freude besser auf die Sprünge helfen als fröhliche Musik? Die Musiker:innen um Amy Grant haben mit einer alten Melodie ein bisschen gespielt. Es wird schwer, die Füße stillzuhalten. Riverdance meets Johann Sebastian Bach: „Jesu bleibet meine Freude“.
Das Bankett auf der Baustelle
Das Buch Nehemia in der Bibel erzählt von der Rückkehr der Juden in das zerstörte Jerusalem vor zweieinhalbtausend Jahren. Vielleicht geht es heute in Gaza, in Aleppo oder Odessa ganz ähnlich zu. Die Leute machen sich mit dem wenigen, was sie haben, an den Wiederaufbau. Manchmal geht es nur schleppend voran, aber dann endlich steht die Stadtmauer wieder. Und bevor in ihrem Schutz die Wohnhäuser drankommen, feiern sie – ein Bergfest. Der Priester Esra sagt zu den Israeliten:
„Nun geht, haltet ein festliches Mahl und trinkt süßen Wein! Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben; denn heute ist ein heiliger Tag zur Ehre des Herrn. Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ (Nehemia 8,10)
Anschließend wird eine ganze Woche gefeiert. Bis die Strapazen der vorangegangenen Wochen nicht mehr allen in den Knochen stecken und die Köpfe so weit frei sind, dass alle Bewohner Jerusalems wieder über das hinausschauen, was alles noch fehlt und was jetzt sofort und unbedingt getan werden muss. Nach dieser Woche geht es wieder weiter. Es ist noch einmal ein Kraftakt, der auf Esra & Co zukommt. Sie werden die Ärmel hochkrempeln, Balken und Steine schleppen und abends kaputt ins Bett fallen. Tag für Tag, Woche für Woche.
Ich frage mich, wie das damals wohl ankam. Vielleicht waren einige dabei, die – so wie ich ab und zu auch – die Arbeit nicht unterbrechen wollen. Lieber durchziehen. Zähne zusammenbeißen und weiter. Auch wenn’s auf Kosten der guten Stimmung oder der Gesundheit geht. Bestimmt haben einige gesagt: Feiern können wir, wenn wir fertig sind, wenn alles gut ist. Wenn unsere Familien wieder alle ein Dach über dem Kopf haben, wenn die Gärten wieder angelegt sind, wenn es auf dem Markt wieder etwas zu kaufen gibt. Wir wollen keine kostbare Zeit verlieren.
Esra ist der Meinung: Das können wir uns nicht leisten. Nicht feiern können wir uns nicht leisten. Natürlich ist noch nicht alles gut und fertig. Aber wenn wir uns nicht mehr an dem freuen, was schon jetzt gut und schön ist, dann geht uns irgendwann die Puste aus. Auch wenn bloß der erste Bauabschnitt fertig ist und das Ergebnis nicht besonders beeindruckend. Aber das ist ja auch gar nicht der Grund für das festliche Essen, Musik und Gesang. Nicht die Freude am Erfolg ist die Kraftquelle, aus der ich schöpfen kann. Die Freude am Herrn ist eure Stärke!
Vergesst die nicht vor lauter Durchhalten und Schuften.
Zu Gast bei Feinden
Das Fest im Rohbau erinnert mich an ein Gespräch vor einigen Jahren. In der Zeit hatte es uns familiär ziemlich gebeutelt und dann kommen auch in der Arbeit Enttäuschungen und Konflikte dazu. Alles ist mit allem ungut verknotet. Ich wache mitten in der Nacht auf und fange an, Probleme zu wälzen. Also habe ich mir ein paar Tage Auszeit genommen. Aber auch das scheint erst mal nicht zu helfen. Die Stimmen von Streit und Kritik, Sorge und Zweifel stecken mir immer noch im Kopf. Ich kann sie nicht abschütteln oder stumm schalten. Im Gegenteil – wenn weder Arbeit noch Zerstreuung mich ablenken, werden sie erst richtig laut. Und dann dieses Gespräch. Mein geistlicher Begleiter fragt, wie es mir geht. Ich sage: „Ich fühle mich gerade wie im 23. Psalm – der Herr ist mein Hirte –, wo es heißt: Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“ Mein Gegenüber lächelt und sagt: „Dann lade sie doch ein!“
Ich bin erst einmal sprachlos. Aber dann … – klar: Einladen. Kommt, setzt euch. Das hier ist ein sicherer Ort mit genug Platz für uns alle. Ich muss die Feinde, das Ungelöste nicht erst verjagen, um Gottes Nähe zu spüren. Die Sturköpfe und Nervensägen, die mich so viel Kraft gekostet haben, tauchen immer noch in meinen Gedanken auf. Aber jetzt fange ich nicht mehr an, in Gedanken mit ihnen zu diskutieren – mich zu rechtfertigen, ihnen Vorwürfe zu machen oder zu verhandeln. Stattdessen denke ich: „Oh, du bist auch da. Nimm Platz. Hier ist es schön. Sei ein bisschen still mit mir. Vielleicht möchtest du dich auch an Gott freuen.“ Und dann fühlt es sich an, als würden diese Schatten schrumpfen und alles Bedrohliche verlieren. Nach und nach verstehe ich, was ich jetzt tun kann. Ich finde den Weg aus der Krise. Raus aus der dunklen Nacht der Seele.
Von dieser „Dark Night of the Soul“ singt die Folkpoetin Eliza Gilkyson. Ich finde, wie sie das tut, klingt alles andere als bedrückend oder düster. Sie verharmlost nichts, sie spielt nichts herunter. Sie nimmt ernst, was ist – dass die Welt Kopf steht.
„Lass dein Licht brennen,“ singt sie, „und gelobe, dass du weiterkämpfst in der dunklen Nacht der Seele. Hör’ nicht auf zu tanzen und zu singen. Lass die Glocken der Freiheit erklingen, bis die Mauern einstürzen.“
Ich weiß nicht, ob Eliza ein religiöser Mensch ist. Auf jeden Fall hat sie hat den Titel ihres Songs aus der christlichen Mystik geborgt. Und ich erkenne eine ganze Reihe von biblischen Motiven in ihrem Text: Jesus, der in der Bergpredigt sagt: Lasst euer Licht leuchten. Oder die mächtigen Mauern von Jericho, die Gott urplötzlich zerbröseln lässt.
Nur noch Angst, Wut und Triumph?
Eliza Gilkyson hat „Dark Night of the Soul“ erst im Februar veröffentlicht. Zwischen den Zeilen höre ich die kritische Situation in den USA heraus – die Demontage von Rechtsstaat und Demokratie, deren Schockwellen auch uns erschüttern und mächtig auf die Stimmung drücken. Ein Kommentator zitierte kürzlich aus George Orwells düsterem Klassiker „1984“ den Chefindoktrinator, der sagt, dass es keine anderen Gefühle als Angst, Wut und Triumph mehr geben soll. Wenn ich auf die letzten paar Wochen zurückblicke, dann scheint diese Strategie zu wirken. Angst, Wut und Triumph sind unglaublich ansteckend. Und wo sie herrschen, da wird das Leben zur Hölle.
Ich will in diesen Zeiten nicht aufhören zu singen, zu tanzen und zu feiern. Mich erinnern: Die Freude am Herrn ist eure Stärke!
Denn sonst hätten die Feinde, die „Hater“, von denen Gilkyson auch singt, schon gewonnen. Ich möchte noch viel besser darin werden, das Gute und Schöne zu hegen und zu pflegen, wo immer es mir begegnet. In mir selbst und um mich herum. Damit es an möglichst vielen Stellen die Zerstörungen überdauert, die wir gerade erleben. Ich brauche keine Fröhlichkeit, die davon lebt, dass sie das Schwere ausblenden muss. Ich brauche eine Fröhlichkeit, die alles im Licht einer noch viel größeren Liebe und Güte sieht.
Freude finden – Freude schenken
Gut unterwegs in schweren Zeiten, das trifft auch Madeleine Delbrêl zu. Für alle, die sie nicht kennen: Madeleine lebte im frühen 20. Jahrhundert in Frankreich. In jungen Jahren gewann sie mit einem Gedichtband einen Literaturpreis. Man merkt das ihren Gebeten und Tagebucheinträgen immer noch an. Sie ist als Atheistin aufgewachsen, findet aber in einer großen Lebenskrise zu einem lebendigen Glauben. Im Jahr 1933 zieht sie mit zwei Gefährtinnen nach Ivry, einem Arbeitervorort von Paris, und übernimmt dort eine Sozialstation. Bei den „Leuten von der Straße“, wie sie es nennt.
Kurz darauf organisiert Madeleine Delbrêl ein antifaschistisches Bündnis zwischen Christen und Kommunisten. Während der Besatzung durch die Nazis koordiniert sie Sozialdienste rundum Paris. Die Gegend ist arm, dann die Bomben, viele müssen evakuiert werden oder vor einer Verhaftung in Sicherheit gebracht werden. Es geht ihr nicht einfach nur um Wohltätigkeit, sie will verändern. Und noch was: Sie will ein fröhliches Leben für alle Menschen.
Schon mit 22 Jahren schreibt sie an eine Freundin:
Andererseits bin ich davon überzeugt, dass es in unserer Zeit Menschen braucht, die sich der Freude widmen. Wenn kaum jemals eine Epoche vielleicht rauschhafter vergnügt war als die unsere, so frage ich mich doch, ob es nicht auch jemals eine gab, der die echte Freude so sehr fehlte. Diejenigen, die diesen Mangel am tiefsten spüren oder die am meisten darum gekämpft haben, haben die Aufgabe, sie den anderen zu schenken.
Madeleine kämpft und geht ihren ganz eigenen Weg. Sie trägt (zeitlebens) bunte Kleider, trinkt gerne Rotwein und raucht Gauloises. Fröhlich leben. Wie schafft sie das?
Beim Blättern in ihren Schriften komme ich dem Geheimnis ihrer Freude auf die Spur. Madeleine will Gott durch sich wirken lassen. Und so arbeiten, Gutes tun, helfen, was verändern.
Keine großen spektakulären Dinge, sondern viele kleine, banale und alltägliche Sachen – was das jeweilige Gegenüber eben gerade so braucht. Unter so vielen armen Leuten sind die Frauen aus der kleinen Lebensgemeinschaft in Ivry damit auch mehr als gut beschäftigt. Aber die viele Arbeit war nicht das eine und Gott das andere. Sondern das eine mitten im anderen, Gott mitten in den vielen Handgriffen und Berührungen, die Nächstenliebe mit sich bringt. Die Freude am Herrn ist eure Stärke!
Wenn wir wirklich Freude an dir hätten, o Herr,
Könnten wir dem Bedürfnis zu tanzen, nicht widerstehen,
das sich über die Welt hin ausbreitet…
Denn ich glaube, du hast von den Leuten genug,
Die ständig davon reden, dir zu dienen – mit der Miene von Feldwebeln,
Dich zu kennen – mit dem Gehabe von Professoren,
Zu dir zu gelangen nach den Regeln des Sports
Und dich zu lieben, wie man sich in einem alten Haushalt liebt.
Eines Tages, als du ein wenig Lust auf etwas anderes hattest,
Hast du den heiligen Franz erfunden
Und aus ihm einen Gaukler gemacht.
An uns ist es, uns von dir erfinden zu lassen,
Um fröhliche Leute zu sein, die ihr Leben mit dir tanzen.
Allmählich fange ich an zu begreifen: Für Madeleine Delbrêl entspringt die Freude an Gott aus der Freude Gottes über uns. Darin besteht dieser Tanz. Gott freut sich über mich und ich freue mich –überwältigt von der Entdeckung, dass ich ihm ein Lächeln aufs Gesicht zaubern kann. Und das taucht alles, auch das Widrige und Gewöhnliche, in einen festlichen Glanz.
Lehre uns, jeden Tag die Umstände unseres Menschseins anzuziehen.
Wie ein Ballkleid, das uns alles an ihm lieben lässt
um deinetwillen, wie unentbehrlichen Schmuck.
Gib, dass wir unser Dasein leben […]
Wie ein Fest ohne Ende, bei dem man dir immer wieder begegnet,
Wie einen Ball,
Wie einen Tanz
In den Armen deiner Gnade,
Zu der Musik allumfassender Liebe,
Herr, komm und lade uns ein.
Das ist mein Lätare-Fest: Klar, dass mich so einiges bedrückt – aber zugleich ist da eine Quelle der Freude, die nie aufhört zu sprudeln. Schon bald feiern wir Ostern, den Anfang vom Ende des Todes und der dunklen Nacht der Seele. Auch wenn es gerade ganz schön verrückt klingt: Die Welt ist schon über den Berg.
(Foto: Senjutu Kundu auf unsplash.com | Zitate aus: Madeleine Delbrêl, „Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße“, hg. von Annette Schleinzer, München/Zürich/Wien 2014, S. 46, 118 und 120.)
Heute möchte ich mit Euch über Engel nachdenken. Wir sind ja gerade umgeben von ganz vielen: In den weihnachtlich dekorierten Straßen, aus den Fenstern der Geschäfte und Wohnungen funkeln und leuchten sie mir entgegen. Weihnachten ist Engelzeit: Der Engel Gabriel besucht Maria und kündigt ihr an, dass sie ein Kind bekommt. Und ein anderer Engel kümmert sich um ihren Verlobten Joseph und erscheint ihm zweimal im Traum.
Die ganze Weihnachtsgeschichte funktioniert nur mit Engeln.
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. (Lukas 2, 8-14)
Kein „Fürchtet euch nicht“ und kein „Friede auf Erden“ ohne Engel. Und dann verschwinden sie wieder. Die Hirten machen sich auf den Weg zur Krippe. Sie wissen jetzt, wonach sie die Augen offen halten müssen.
Schon in der Bibel sind Engel ganz und gar nicht alltäglich. Und heute ist es nicht anders. Mir ist bisher noch keiner begegnet. Meinen Freunden und den Pfarrerskolleginnen auch nicht, so weit ich weiß. Verkleiden sie sich nur ganz raffiniert, oder können sie sich unsichtbar machen?
Wir wissen deshalb so wenig über sie, weil die Engel nie über sich reden, sie reden immer über Gott. Beziehungsweise sie bringen Botschaften von Gott. Das Wort „Engel“ bedeutet „Bote“. Im Grunde ist das wie beim Postboten: Wir freuen uns, wenn er freundlich ist und sympathisch. Aber viel interessanter und wichtiger ist die Frage, was er mitbringt.
Was bringen Engel in unsere Welt? Welche Nachricht, welche Überraschung haben sie dabei? Meine erste Vermutung ist: Sie lassen uns spüren, dass wir nicht allein sind.
Scheue Zwischenwesen
Eben weil die allermeisten von uns noch keinen „echten“ Engel gesehen haben, haben unsere Künstler sich etwas ausgedacht. Sie haben ihnen Flügel an den Rücken gemalt oder geschnitzt. Vielleicht als Zeichen dafür, dass sie sich schneller und anmutiger fortbewegen als wir, die vom Laufen müde werden und Blasen an den Füßen kriegen. Oder dass sie zwischen dem Himmel, der Sphäre Gottes, und der Erde wie im Flug hin und her pendeln.
Engel sind Zwischenwesen. Sie tauchen aus einer anderen Dimension auf und entschwinden wieder dorthin. Ganz eindrücklich ist das in der Weihnachtsgeschichte aus dem Matthäusevangelium. Da tritt nur zweimal ein Engel auf. Beide Male begegnet er Joseph, und beide Male im Traum. Indirekter, unaufdringlicher kann man sich das kaum vorstellen: Gott schickt einen Traum und im Traum einen Engel. Wenn ich träume, befindet sich mein Bewusstsein in einem Zwischenzustand. Vieles, was ich im Wachzustand ausblende, regt sich dort. Meine Phantasie bringt im Schlaf Bilder und Szenen hervor, die ihre ganz eigene Wahrheit und Bedeutung haben. Manchmal schüttele ich mich dann beim Aufwachen und schiebe den Traum beiseite. Das tut Joseph nicht. Gott sei Dank! Sonst wüssten wir heute nichts von ihm und seiner kleinen Familie.
Der Skeptiker in mir fragt an dieser Stelle: Wenn die Engel vor allem im Traum und in der Phantasie auftauchen, wenn man ihre Existenz nicht mit den Mitteln der Wissenschaft eindeutig feststellen kann – sind sie dann nur ein Hirngespinst? Frommes Wunschdenken, eine nette Illusion?
Vielleicht haben wir ja gar nicht zu viel Phantasie, sondern zu wenig. Ausgerechnet bei einem renommierten Naturwissenschaftler fand ich diesen erstaunlichen Gedanken:
„Ich habe den Verdacht, das Universum ist nicht nur seltsamer als wir annehmen, sondern seltsamer, als wir annehmen können. […] Ich nehme an, es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als wir uns träumen lassen, oder als wir träumen können.“
(J. B. S. Haldane, Possible Worlds, in: Ders., Possible Worlds and Other Papers, New York (Harper & Brothers) 1928, S. 298f.)
Das könnte das zweite Geschenk sein, das die Engel mir bringen: Eine Einladung, den Blick für das Seltsame, Schräge und Verrückte, das Unerwartete und Überraschende in der Welt und in den Ereignissen meines eigenen Lebens nicht zu verlieren.
Rettung, die kommt und Rettung, die ausbleibt
In meiner Familie erzählt man sich auch eine Engelsgeschichte. Mein Urgroßvater war Bäcker in einem kleinen Ort auf der schwäbischen Alb. Damals, vor über hundert Jahren, transportieren die Bauern ihre Sachen noch mit Ochsenwagen und Pferdefuhrwerken. An diesem Tag kommt ein schwer beladener Erntewagen nach dem anderen von den Feldern zurück. Mitten in der Rush Hour läuft die kleine Tochter auf die Straße, fällt hin und gerät unter einen dieser schwer beladenen Pferdewagen, mit schmalen, eisenbeschlagenen Holzrädern. Der Vater sieht das von der Backstube aus. Aber er ist zu weit weg, um eingreifen zu können. „Heiland, hilf!“ Er schickt ein Stoßgebet zum Himmel. Und dann sieht er, wie sich das Hinterrad des Wagens über die Kleine hebt. Da muss eine unsichtbare Hand im Spiel sein … ein Engel!? Das Kind lebt und ist unverletzt und die ganze Familie erleichtert und dankbar für dieses Wunder. So dankbar, dass die Geschichte schon über fünf, sechs Generationen weitererzählt wird.
Schutzengel stehen hoch im Kurs. Viele Eltern wünschen sich so eine Art himmlischen Bodyguard für ihr Kind. Wir wissen, wie verletzlich so ein Menschenwesen ist. Und wie begrenzt unsere Mittel und Möglichkeiten, Schaden von ihm abzuwenden. Halbwegs heil durchs Leben zu kommen ist keine Selbstverständlichkeit.
Ich erinnere mich noch gut, wie an einem Sommerabend auf einer Party mein Handy klingelt. Unser Babysitter erzählt völlig aufgelöst, dass unser Vierjähriger aus dem offenen Fenster seines Kinderzimmers im ersten Stock gefallen ist. Die Sanitäter bringen ihn gerade ins Krankenhaus. Mit Herzrasen eilen wir in die Kinderklinik. Und hören: Es geht ihm gut. Die Ärzte konnten außer ein paar blauen Flecken nichts finden. Kein Knochenbruch, keine Gehirnerschütterung, nichts. Meine Frau nimmt den verstörten Kleinen in den Arm und ich sage leise zu ihr: „Ich glaube, da ein Engel einen unsichtbaren Airbag aufgepustet.“ Der Schrecken steckt mir trotz aller Erleichterung noch Tage in den Gliedern. Ich weiß nur zu gut, dass es nicht immer so glimpflich ausgeht. Zwei meiner besten Freunde sind im Abstand von ein paar Jahren tödlich verunglückt. Wo war der Schutzengel da? Ich weiß keine Antwort.
Sehnsucht nach Schutz
Engel sollen Menschen behüten, weil in unserem Leben Gefahren lauern. Unfälle, Krankheiten, oder Menschen tun anderen schlimme Dinge an. „Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, lautet ein beliebter Taufspruch. Im Gespräch mit Eltern spüre ich, wie gut ich den Wunsch verstehe. Ich würde ihnen ja so gern versprechen, dass ihr Kind von Schicksalsschlägen verschont bleibt. Aber meine Lebenserfahrung deckt das nicht, und die Jesus-Geschichte gibt das auch nicht her.
Jesus hatte, als er erwachsen wurde, ständig mit Leuten zu tun, die körperlich und seelisch angeschlagen waren oder von der Mehrheit mit Misstrauen und Verachtung bestraft wurden. Und weil er half, wurde auch er, der Helfer, beschimpft und angegriffen. Am Ende – daran erinnert das Kreuz – wurde er sogar umgebracht. Hat Gott vergessen, seinem eigenen Kind eine Engel-Eskorte zu schicken? Ich stelle mir das so vor: An dem Tag, als Jesus stirbt, ergeht es Gott wie vielen menschlichen Eltern: Er kann sein Kind nicht retten. Gott weiß nicht nur aus zweiter Hand um Trauer und Verlust.
Aber damit hört die Geschichte noch nicht auf: Zwei Tage später sind dann doch wieder Engel da. Sie warten vor dem Grab, in dem Jesus gelegen hat. Das Grab ist leer. „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ fragt der Engel. Etwas total Unerwartetes und Unvorhersehbares ist geschehen. Und ein Engel ist zur Stelle, um den Menschen die Augen zu öffnen für das größte aller Wunder.
Der Komponist John Rutter kennt den Kummer und den Schmerz. Sein 19-jähriger Sohn ist an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben. Zwei Jahre später nimmt John Rutter eine Kindermesse auf. Er erinnert so an seinen Sohn, und hängt am Ende noch ein (älteres) Lied an, das zum Staunen einlädt: Schau die Welt an, alles um uns herum. Schau die Welt an und staune jeden Tag über so viele Freuden und Wunder.
Ein Engel für schwere Zeiten
Ich möchte noch eine Engelgeschichte erzählen – eine für Erwachsene. In ihr finde ich all das wieder, was mich umtreibt, wenn ich den Zustand der Welt betrachte. Sie tröstet mich ohne etwas zu verharmlosen oder zu beschönigen.
1921 – der Schriftsteller Walter Benjamin verliebt sich in ein kleines, eher unscheinbares Bild des Malers Paul Klee. Angelus novus heißt das Bild, neuer Engel. Benjamin kauft das Bild und viele Jahre lang hängt es in seiner (Berliner) Wohnung. Später wird es ihn ins Exil nach Frankreich begleiten und sogar auf der Flucht vor den Nazis über die Pyrenäen. Immer ist der Engel dabei. Heute ist er im Israel-Museum in Jerusalem zu sehen.
Angelus novus zeigt ein Wesen mit ausgebreiteten, kurzen Flügeln und weit geöffneten schwarzen Menschenaugen. Die Nase erinnert eher an einen Hund oder eine Katze, der Mund ist ein Stück geöffnet und hat spitze Zähnchen. Der Kopf ist recht groß im Vergleich zum Körper, wie bei einem Baby oder Kleinkind. Der „neue Engel“ ist also tatsächlich ein neugeborener Engel. Benjamin beschäftigt sich mit der Engellehre der Kabbala – so heißt die mystische Tradition des Judentums – und findet dort eine Erklärung:
»Die Kabbala erzählt, daß Gott in jedem Nu eine Unzahl neuer Engel schafft, die alle nur bestimmt sind, ehe sie in Nichts zergehen, einen Augenblick das Lob von Gott vor seinem Thron zu singen. Als solcher Engel gab der neue sich aus.«
Der neue Engel wirkt ganz lebendig, er scheint seinem Betrachter von dem zu erzählen, was er vor Augen hat: Vor Gottes Thron spielt sich ein ständiges Werden ab. Immer neue Engel erscheinen. Sie bestaunen die Herrlichkeit Gottes, sie fangen spontan an zu singen, ein immer neues Lied vom unendlichen Glück, diese unbeschreibliche Schönheit zu schauen. Und so, wie Menschen manchmal das Gefühl haben, vor Glück gleich zu platzen, versinken die frischen Engel gleich wieder – friedlich und ohne Angst – in dem überirdischen Glanz, der sie umgibt. Ich stelle mir das vor wie Seifenblasen, die schwerelos aufsteigen und in allen Farben im Sonnenlicht schillern. Dann trägt der Wind sie sanft davon, während von irgendwoher schon wieder neue angeschwebt kommen. Jedes Kind weiß: Diese Leichtigkeit und Flüchtigkeit ist es ein bezaubernder Anblick. Die Engel aus der Weihnachtsgeschichte, die den Hirten erscheinen und Gottes Herrlichkeit besingen – sind das auch solche neuen Engel?
Trümmerhaufen, die in den Himmel wachsen
Paul Klees neuer Engel ist auf Papier gebannt und kann sich nicht einfach wieder auflösen. Er bleibt. Er wirkt. Er wird zu einem Meditationsbild. Dieser Engel begleitet Walter Benjamin. Und Benjamin braucht ihn, weil die junge Demokratie in Deutschland in die brutale NS-Diktatur umschlägt. Juden und Andersdenkende werden verfolgt und in Lager gesperrt. Benjamin erkennt, dass er in Lebensgefahr schwebt, und verlässt Deutschland. In dieser dunklen Zeit sieht er den Engel mit neuen Augen.
Als der Krieg beginnt, ist er für ihn zum „Engel der Geschichte“ geworden. Denn die Geschichte, wie Walter Benjamin sie gerade erlebt, ist kein zielgerichteter Fortschritt mehr. In ihr wird gerade nichts besser, klüger, vernünftiger oder sinnvoller. In den weit aufgerissenen dunklen Augen erkennt Benjamin nur noch das Entsetzen über die Verwüstung, die sich anbahnt. Der Engel schaut nicht mehr erwartungsvoll in die helle Zukunft, sondern er blickt hilflos auf Vergangenheit und Gegenwart:
„Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Zusammen mit der Welt, die in Trümmern liegt, entfernt sich der Engel immer weiter vom Paradies. Der Sturm der Geschichte trägt ihn davon und er blickt zurück auf die Spur der ungebremsten Verwüstung, die Autokraten, Warlords, Oligarchen, Hassprediger und Egomanen hinter sich herziehen. Alles im Namen irgendeines Fortschritts hin zur schönen neuen Welt, alles mit dem Versprechen von Größe, Ruhm und Ehre. Trotzdem bleibt der Engel…
Trümmerhaufen, die in den Himmel wachsen, die gab es auch 2024. Ich denke an die Ukraine, an Gaza, an die Inselstaaten im Pazifik, denen das Wasser bis zum Hals steht, an die Leute in der Region Valencia, deren Habseligkeiten die Fluten fortgerissen und zertrümmert haben. Es ist doch verrückt, dass vor allem die politischen Kräfte in der Krise Zulauf bekommen, die ein „weiter so“ versprechen – allen Trümmerhaufen zum Trotz.
An der Aufgabe, „das Zerschlagene zusammenzufügen“, scheitert der Engel der Geschichte. Ich finde mich jetzt selber wieder in seinem fassungslosen Blick; und die nach oben gerichteten Flügel wirken auf mich so, als würde er die /seine Hände zur Kapitulation erheben und sagen: Ich sehe die Trümmer überall. Aber was kann ich schon ausrichten?
Nach jüdischer Vorstellung ist es allerdings nicht die Aufgabe eines Engels, die verlorene und verwundete Welt zu heilen. Zu vollenden, was gescheitert oder unfertig geblieben ist, ist die Aufgabe des Messias. Es ist eine menschliche Aufgabe. Benjamin selbst schreibt dazu:
„Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“
Mit diesem Hinweis auf die messianische Kraft wandert mein Blick schon wieder Richtung Weihnachten. Wo Engel die Menschen mit der Nase darauf stoßen müssen, dass sich hier Gott selbst durch die Hintertüre in die Weltgeschichte schleicht: Der Immanuel, der Gott-mit-uns. Der Messias, den schon die Propheten angekündigt haben.
Heilige Funken überall
Komm, Immanuel. So viel ist gerade zu heilen und zu retten. Und unsere Kraft ist wahrlich klein.
Aber auch das weiß Walter Benjamin: Jede Sekunde ist „die kleine Pforte, durch die der Messias treten“ kann. Davon reden die Engel, die die Hirten zum Kind in der Krippe schicken. Der Immanuel, der Messias, ist klein, aber er ist gekommen. Er ist der Hauptdarsteller im großen Drama von Gott und der Welt. Die Engel sind, wie es bei den Oscar-Verleihungen immer so schön heißt, best „supporting actors“. Im Deutschen ist das mit „Nebendarsteller“ zu blass wiedergegeben. Die supporting actors lassen die Hauptrolle richtig gut herauskommen. Das ist ihre Aufgabe. Die Engel erinnern mich daran: Mit Jesus ist die messianische Kraft endgültig in der Welt. Mag sie auch klein sein, unterschätzen sollte man sie nicht. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort entfaltet sie ihre Wirkung.
Die jüdische Mystik der Kabbala lehrt: Es gibt überall „heilige Funken“. Eine Art messianisches Potenzial, das in Gottes Welt schlummert. Es möchte geweckt und entdeckt werden. Ich schließe die Augen und stelle mir das vor: Eine dunkle Gegend mit vielen kleinen, tanzenden Lichtern, die sich nicht bändigen und einfangen lassen. Und schon schwindet die Sorge, dass die Dunkelheit mich überwältigt. Schon fühle ich mich nicht mehr machtlos. Ich kann helfen, manches Zerschlagene zusammenzufügen. Jetzt schon.
Die heiligen Funken im Tumult der Welt – das erinnert an die ersten Sätze des Johannesevangeliums: Vom wahren Licht, das in die Welt gekommen ist. Das in der Finsternis leuchtet, die ihm nichts anhaben kann. Es erleuchtet alle Menschen, die in die Welt kommen, schreibt Johannes. Er hätte auch sagen können: Es versprüht heilige Funken und lässt die neu aufleuchten, die schon da sind.
Wenn wir in diesen Tagen zuhause Kerzen anzünden und wenn dann in der Neujahrsnacht bald wieder allerlei Funken fliegen, dann will ich mich an die heiligen Funken erinnern. Dieses Licht, das in Christus, dem Messias, gekommen ist, um zu bleiben.
Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, beginnt mit sieben „Sendschreiben“ an Gemeinden in Kleinasien. In diesen Briefen spricht der Seher Johannes (beziehungsweise Gottes Geist durch ihn) ganz individuell zum „Engel der Gemeinde“.
Der Engel ist weder eine Pfarrperson noch der Kirchenvorstand. Er repräsentiert die Gemeinde vor Gott. In seiner „Persönlichkeit“ drückt sich der geistliche Zustand der Gemeinde aus. Man kann auch sagen: der Engel verkörpert ihre Spiritualität, ihre Innenseite, die Gott zugewandt ist.
Das Lob und die Mahnungen an die Engel der Gemeinden von damals ist nicht nicht ein zu eins auf heutige Verhältnisse anwendbar. Ich bin – leider! / zum Glück? – kein großer Prophet, aber wir sind ja alle berufen, kleine Prophet:innen zu sein. Also ist hier mein Brief an den Engel der Gemeinde von Zabo aus dem Gottesdienst, in dem ich gestern verabschiedet wurde. Vielleicht hat ja auch Gottes Geist ein paar Sätze oder Gedanken hineingeschmuggelt…
Lieber Engel der Gemeinde von Zabo,
als Gemeindeengel beherbergst du ja ein bisschen was von allen Gefühlen. Aber dieser Abschied heute macht uns beide betrübt. Auch wenn der Kopf sagt, dass er nötig ist – dass er aus guten Gründen erfolgt – macht es das ja nicht weniger traurig, dass eine Zeit zu Ende geht, in der vieles gut war und so einiges gut wurde.
Wer traurig ist, braucht Trost. Trost nimmt die Trauer nicht weg, aber er hüllt sie ein und macht sie erträglicher. Er hilft gegen das Leiden am Leiden. Viele können mit ihrer Trauer nicht umgehen. Und wandeln sie sie in Ärger um, weil sie keinen Trost finden – ihn freilich auch nicht suchen. Es gibt gerade sehr viele sehr ärgerliche Menschen. Und manchmal erliegen auch Du und ich dieser Versuchung, unsere aufgestaute Traurigkeit als Wut herauszulassen. Wenn ich wütend bin, fühle ich mich weniger ohnmächtig. Ich habe freilich auch weniger Hemmungen, ordentlich auszuteilen und die „offene Feldschlacht“ auszurufen.
Lieber Engel, bring deine Trauer vor Gott. Immer und immer wieder. Nicht nur die über unseren Abschied, die ist bald überstanden. Sondern auch die über alles andere, was gerade aufhört: Die siebzig fetten Jahre Nachkriegswelt, in der wir groß geworden sind, die mit jedem Jahr ein bisschen sicherer und bequemer zu werden schien. In der Liebeskummer die größte vorstellbare Lebenskrise war und wo man glauben konnte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Menschenrechte und Wohlstand überall angekommen sind. Der große Philosoph Friedrich Merz wird ja nicht müde, daran zu erinnern, dass die Welt nicht morgen untergeht. Was er freilich verschweigt: Diese Welt ist am Ende, sie löst sich gerade vor unseren Augen auf. Denn auch 12.000 Jahre Holozän mit stabilen klimatischen Verhältnissen auf der Erde sind Geschichte. Die Welt nach den Kippunkten wird anders aussehen.
Alle spüren den Schmerz über den Verlust der vertrauten, heimatlichen Umgebung – die „Solastalgie“ –, aber längst nicht alle wissen so damit umzugehen, dass sie nicht kälter, härter, bitterer und bösartiger werden darüber. Es ist ein latente Trauer, und jede neue oder akute Verlusterfahrung bringt sie wieder zum Schwingen und wird von ihr verstärkt.
Und mit dieser Nachkriegswelt schwindet die verfasste Kirche. Die sich so gern mitten im Dorf sah, von allen geschätzt. Jetzt wird sie von fast allen bemitleidet, weil die Leute ihr davonlaufen, weil ihr das Geld ausgeht, weil der Nachwuchs fehlt. Jetzt erschrickt sie über das, was sie alles noch vertuschen und unter dem Deckel halten konnte, so lange die Kraft dazu da war. Bei dem (echten) Philosophen Jean-Pierre Wils habe ich gelernt: „Das … Leiden am Leiden setzt dort ein, wo etwas Unwiederbringliches verlorengegangen ist und wir gewahren, dass dies so ist.“ Eine Weile kann man sich noch drüber hinwegtäuschen, aber irgendwann ist Schluss. Und auch hier immer wieder: Wut, die nach Sündenböcken sucht, an denen sie sich abreagieren kann. Die da oben, die Abtrünnigen, die mit anderen Vorstellungen und Vorlieben, die Alten, die Jungen, der Papst.
Lieber Engel, meide den Weg der Wut. Als ich vor gut sechs Jahre kam, da warst Du traurig, verletzt und manchmal auch wütend. Nicht ohne Grund! Ich konnte und kann das alles gut verstehen. Vieles ist verheilt, manches inzwischen fast vergessen. Nur da, wo der Zorn weiter schwelt, da zehrt er an den Kräften, da treibt er Menschen auseinander, rückt andere in ein schlechtes Licht, schürt Misstrauen und Feindschaft. Schon der gute alte Paulus riet den Ephesern: Lasst die Sonne nicht untergehen über eurem Zorn. Engel können, so weit ich weiß, keine Magengeschwüre bekommen. Aber die Wut im Bauch fühlt sich nur vermeintlich stark an. In Wahrheit macht sie dich schwach. Und hässlich.
Lieber Engel, die schlechte Nachricht ist: Du wirst viel Trost brauchen. Die gute lautet: Er ist auch reichlich vorhanden. Wo wirst du den Trost finden? Ich meine, du musst dir keine Sorgen machen. Es ist alles da, was du brauchst. Du kennst es schon. Du kannst es – das weiß ich. Drei Wege zum Trost möchte ich dir heute ganz besonders ans Herz legen:
Es ist ja – erstens – ein offenes Geheimnis, dass Engel musikalisch sind. Bei Jesaja im Tempel singen sie „Heilig, heilig, heilig“ und bei den Hirten auf dem Feld „Ehre sei Gott in der Höhe“. Aber wie bei den Menschen auch: Die einen singen, weil es von ihnen erwartet wird, und die anderen, weil sie nicht anders können. Du bist so ein intrinsischer Sänger. Und das hat richtig auf mich abgefärbt: Mit einer Gitarre bin ich gekommen, mit vier gehe ich nun nach Johannis. Hier in den Gottesdiensten (und heute noch einmal) habe ich mit dir gesungen und manchmal auch für dich. Mag sein, dass andere noch lauter oder exakter singen als du, aber im Himmel werden deine Gospels, Choräle und Kinderlieder immer gern gehört. Weil es Gott freut, andere erbaut und dir selbst gut tut, singe fröhlich, singe traurig, singe schräg – aber höre nie auf zu singen und zu musizieren.
Zweitens: Du magst es grün, lieber Engel. Sogar die Eisbären sind bekanntlich grün in Zabo. Es gab die Waldgottesdienste, sie wurden im Laufe der Jahre zur Wild Church. Das war nicht einfach ein englisches Wort für dieselbe Sache. Denn Gottes Schöpfung wurde dabei von der hübschen Kulisse zum Gegenüber, dem wir ganz bewusst lauschen. Die Konfirmand:innen haben im Oktober Bäume gepflanzt mit „unserem“ Förster Achim Ulrich und seinen Kollegen vom Walderlebniszentrum. In 150 Jahren sind einige von ihnen dann groß, spenden Schatten und verbessern die Luft. Das ist mehr als nur irgendein trendiges Projekt. Es tut der Seele gut, im Grünen zu sein. Der Kontakt zu den vielen Mitgeschöpfen, die da flattern, krabbeln, sich im Wind wiegen oder an den Boden schmiegen, ist heilsam und beruhigt. Es gibt den Lauschplatz, der hat 24/7 geöffnet. Jede:r kann Kummer mitbringen und dort bedenkenlos abladen. Manchmal wird man dabei von Spaziergängerinnen und Hundebesitzern ein bisschen beäugt, aber es wirkt tatsächlich. Lass Dich trösten von den Engeln des Waldes und schließe Freundschaft mit ihnen. Vielleicht führen sie dich zum Baum des Lebens.
Freundschaft – das bringt mich zum dritten Weg, Trost zu finden. Du kannst ihn dir nicht selber spenden. Ein Gegenüber muss da sein, das dich und deinen Kummer aushält und dir Trost schenkt. Auch das passt zur dir: Du bist ja ein ausgesprochen geselliger Engel. Ob beim Cappuccino oder beim Haggis, ob beim Seniorenkaffee im kleinen Saal oder beim Pfingstrock auf dem Reitenspießplatz, beim Krimi-Dinner in der Arche oder beim Gemeindefest mit veganen Würstchen (nebenbei – brauchen wir noch eine Schweigeminute für die von dieser Entscheidung Traumatisierten?), beim Mitarbeitenden-Dank oder heute abend: Sorge dafür, lieber Engel, dass deine Menschen essen, trinken und fröhlich sind. Dass sie von sich erzählen und Anteil nehmen am Leben der anderen. Auch, wenn das in einem Dorf wie Zabo immer hart an der Grenze zum Tratsch liegt (zwei Wochen nachdem ich meinen Abschied bekannt gegeben hatte, wurde schon erzählt, ich sei „entlassen worden“). Aber es geht auch anders, wie Paulus den Philippern zeigt:
Ich fasse zusammen, Ihr Lieben: Am besten füllt ihr eure Gedanken, indem ihr über all das nachsinnt, was wahr ist, großmütig, ehrenwert, authentisch, faszinierend, gütig – das Beste, nicht das Schlimmste; das Schöne, nicht das Hässliche; ein Anlass zum Loben und nicht zum Fluchen. … Und Gott, der dafür sorgt, dass alles zusammenwirkt, wird euch mit hineinnehmen in seine großartigsten Harmonien (Philipper 4,8-9).
Wie es aussehen kann, wenn so etwas gelingt, hat Tanja Blixen in „Babettes Fest“ beschrieben. Eine junge Revolutionärin aus Paris flüchtet Mitte des 19. Jahrhunderts in ein abgelegenes norwegisches Dort. Dort trifft die ehemalige Köchin des Café Anglais auf eine fromme, ergraute und etwas verknöcherte Gemeinde. Nach Jahren bei Brotsuppe und Stockfisch gewinnt Babette in der Lotterie und richtet für die ganze Gemeinde ein festliches, unfassbar opulentes Diner aus. Mit jedem Gang und jedem Glas Wein werden die Alten ein bisschen jünger und ausgelassener. Das Herz geht ihnen auf. Es gibt Liebesgeständnisse und verzeihende Worte. Der Himmel ist für einen Abend nach Berlevaag gekommen. Schon etwas beschwipst, aber ganz beseelt erhebt sich der General Löwenhjelm und sagt: „Gnade und Wahrheit sind einander begegnet, Rechtschaffenheit und Himmelssegen sollen vereint sein in einem Kuss.“
Gnade und Wahrheit sind durch Jesus Christus in die Welt gekommen. Und bei solchen Gelegenheiten sitzt er – noch unsichtbar – mit am Tisch.
Du siehst, lieber Engel, gegen die Traurigkeit ist ein Kraut gewachsen. Du kannst sie kommen und da sein lassen, denn sie wird dich nicht überwältigen. Gott hat dir alles dazu gegeben, um tapfer und aufrecht durch schöne wie schwere Zeiten zu gehen. Also freue dich an diesen Schätzen, du musikalischer, naturverbundener und geselliger Engel! Auch wenn wir heute auch die eine oder andere Träne im Auge haben – Gott ist mir dir.
Shine von Take That – Aufmunterung für betrübte Engel
Seit ein paar Tagen ist es offiziell: Ich werde nach gut sechs Jahren Zabo zum Jahreswechsel verlassen und nach St. Johannis gehen.
Der Hintergrund ist schnell und nüchtern erklärt: Hier in Zabo fällt eine halbe Stelle weg. Das ist auch ganz plausibel: Die Gemeinde ist, wie fast überall, im Lauf der Jahre geschrumpft. Und parallel dazu das Budget der Landeskirche wie auch die Zahl der Pfarrer:innen und Hauptamtlichen.
Arbeit wäre noch genug da. Und in den letzten Jahren war (und wurde) sehr vieles sehr gut. Wir sind hier ganz wunderbar aufgenommen worden und viele haben mir geholfen, in die Rolle des Gemeindepfarrers hineinzufinden. Das macht den Abschied schwer, aber mit dem Blick auf die Segensspuren auch tröstlich.
Zabo, das Dorf in der Großstadt, hat schon eine Art Auenland-Vibe. Ganz buchstäblich, weil hier ein großes Stück naturnaher Auwald liegt, aber es wohnen auch viele gemütliche und gesellige Halblinge hier.
Wir freuen uns zugleich, dass es uns nicht in ferne Gefilde verschlägt, sondern in einen lebendigen, zentrumsnahen Stadtteil und eine große Kirchengemeinde, die dort fest verwurzelt und gut vernetzt ist. auf fitte und freundliche Kolleg:innen – und nicht zuletzt auf einen kurzen Weg zu unserem Enkelkind, das in St. Johannis zur Welt kam und dort mit seinen Eltern wohnt.
Es ist auch objektiv ein guter Zeitpunkt zum Wechseln. Alle Kirchenvorstände werden bis zum Sonntag in einer Woche neu gewählt, und so kann ich zu Beginn der neuen Amtsperiode mit einsteigen – und mein:e Nachfolger:in in Zabo etwas später, aber auch noch in der Phase, wo sich alles einruckelt.
Nach vielen Wochen des Wartens, was aus dieser Bewerbung wohl werden würde, geht nun alles ganz schnell.
Gut, schon der gute alte Bilbo Beutlin wusste ja:
The Road goes ever on and on,
Down from the door where it began.
Now far ahead the Road has gone,
And I must follow, if I can,
Pursuing it with eager feet,
Until it joins some larger way
Where many paths and errands meet.
And whither then? I cannot say.
Die Straße gleitet fort und fort
Weg von der Tür, wo sie begann,
Weit überland, von Ort zu Ort,
Ich folge ihr, so gut ich kann.
Ich lauf ihr müden (?) Fußes nach,
Bis sie sich groß und weit verflicht
Mit Weg und Wagnis tausendfach.
Und wohin dann? Ich weiß es nicht.
Die gute Nachricht: Das Deutschlandticket bleibt erhalten, aber – und das ist die schlechte Nachricht – es wird teurer. Das hat große Wellen geschlagen. Ich habe selber eins seit einigen Monaten, und nutze es immer wieder für längere oder kürzere Fahrten.
Dabei habe ich Ecken von Deutschland gesehen, in die ich nicht gekommen wäre, wenn ich extra einen Fahrschein hätte lösen müssen. Ich habe auch viel über die Menschen in Deutschland gelernt: In den Regionalzügen fährt das bunte Deutschland. Und oft auch das nicht so wohlhabende Deutschland. Ich höre in den Öffis jedesmal, wirklich jedesmal, ganz unterschiedliche Sprachen.
Was mich ganz besonders berührt, das sind die Gespräche zwischen Menschen verschiedener Herkunft, die sich auf Deutsch verständigen. Manchmal etwas mühsam, manchmal auf einem ganz beachtlichen Niveau. Und dann fühle ich mich ein bisschen beschämt und ein zugleich beschenkt, weil da jemand, dessen Sprache ich nicht verstehe, sich so viel Mühe gegeben und meine Sprache gelernt hat.
Manche Unterhaltungen kann man ja nicht überhören, auch wenn man gern würde. Ich sitze im Zug und habe keine Kopfhörer dabei. Hinter mir erzählt einer etwas seinem Gegenüber, und jeder zweite oder dritte Satz lautet: Weißt du, was ich meine?
Seltsamerweise wartet er die Antwort seines Gesprächspartners gar nicht ab, sondern redet sofort weiter. Um prompt wieder: Weißt du, was ich meine? Aber er wartet gar nicht, ob es der andere weiß.
Ich weiß nicht, ob Ihr gerade wisst, was ich meine. Dazu müsstet Ihr mir sagen, was ihr verstanden habt. Und ich müsste dann bestätigen, dass ich das gemeint hatte. Oder nochmal von vorn anfangen und es anders erklären. Dann hätten wir eine Chance, uns zu verständigen.
Aber dieses Zuhören kostet Zeit und macht Mühe. Und oft reicht ja auch eine grobe Ahnung davon, was gemeint sein könnte. Doch es tut gut, wenn ich Menschen treffe, die das mit dem Zuhören und Nachfragen drauf haben.
Ich weiß übrigens auch nicht, was ihr gerade denkt. Hinterlasst gern einen Kommentar…
Ich bin zum ersten Mal im Guggenheim in Bilbao. Touristen schieben sich dicht gedrängt durch die Flure und Ausstellungsräume. Manche fotografieren eifrig – es gibt ja auch wirklich viel zu sehen. Ich mache auch hier und da ein Bild, dann vertiefe ich mich wieder in den Anblick und die Erklärungen.
Nach einer Weile fallen mir immer mehr Leute auf, die Selfies vor den Kunstwerken machen. Allein, zu zweit, zu dritt… Sie marschieren durch die Säle immer auf der Suche nach einem geeigneten Hintergrund. Das hat ein bisschen was von sich vordrängeln – schaut her, hier bin ich…
Ob Kunst oder Natur – ich finde gerade das Umgekehrte reizvoll: Mich mal verlieren im Anblick von etwas Schönem und Großartigen. Zu merken, Gottes weite und bunte Welt dreht sich nicht um mich, und das ist wunderbar entlastend: Ich darf klein sein, einen Schritt zurück treten und mich über diesen wunderbaren Ort freuen. Der ist, was er ist, ganz ohne mich.
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