Unter dem gut gewählten Titel Gefährliche Reinheitsphantasien beschrieb die Süddeutsche letzte Woche, wie Homosexuellen an vielen Orten zunehmend das Leben zur Hölle gemacht wird. Oft ist es eine Mischung aus Populismus und einem verkorksten Nationalbewusstsein, aus der die Diskriminierung erwächst, in Russland etwa:
Damit avancieren Homosexuelle – neben Juden und „Kaukasiern“ – endgültig zu einer Minderheit, die hauptsächlich einem Zweck dient: der Abgrenzung jenes schwammigen Gebildes, das populistische Machthaber „die russische Seele“ nennen. Im Gange ist nicht eine Diskussion über Menschenrechte, sondern ein Kulturkampf, in dem Lesben und Schwule von vornherein angezählt sind. Der legislativen Mehrheit gilt Homosexualität als „eine unmusische Krankheit“, als eine Sünde oder beides.
In den USA stänkert Rick Santorum, der republikanische Kandidat, der die engste Verbindung zum fundamentalistisch-patriotischen Flügel des Christentums pflegt, gegen die Zulassung der „Homo-Ehe“ durch den obersten Gerichtshof. Am düstersten jedoch sind die Perspektiven in Afrika: Uganda will zwar nicht mehr die Todesstrafe für ausgelebte Homosexualität, zieht aber alle anderen Register bei rechtlichen Sanktionen, in Südafrika wird trotz liberalerer Gesetze die Praxis des „correctional rape“ (der Vergewaltigung lesbischer Frauen) nur halbherzig verfolgt, und „Im religiös gespaltenen Nigeria gilt der Hass auf Homosexuelle als eines der wenigen Gefühle, das Muslime und Christen eint“, schreibt Tim Neshitov. Proteste aus Europa oder den USA werden von den Afrikanern als neokoloniale Bevormundung abgeschmettert.
Und in der Tat sind diese Konflikte kolonialen Ursprungs. Im 19. Jahrhundert wurden Afrikas Naturvölker für ihre Reinheit und Ursprünglichkeit verklärt (das Motiv spielt aktuell wieder eine Rolle, wenn manche auf die vermutlich ältere und tiefere Weisheit der Maya setzen und vom Untergang der globalen Zivilisation albträumen). Zu anderen Zeiten blickten Europäer auf ein vermeintlich moralisch unterentwickeltes Afrika herab.
Gesetze, die in Afrika Homosexualität kriminalisieren, wurden ursprünglich von Kolonialverwaltungen eingeführt. „Die Kolonisatoren brachten nicht die Homosexualität nach Afrika, sondern deren Ächtung – und Systeme von Aufsicht und Regulierung, um sie zu unterdrücken“, schreiben die US-Forscher Will Roscoe und Stephen O. Murray in „Boy-Wives and Female-Husbands: Studies in African Homosexualities“, einem Buch aus dem Jahr 1998. „Erst als die Einheimischen vergaßen, dass gleichgeschlechtliche Muster einst Teil ihrer Kultur waren, wurde Homosexualität wirklich stigmatisiert.“
Natürlich gibt es diesen postkolonialen Kulturkampf auch auf „christlich“, wo ein vermeintlich „reines“ und vitales Christentum aus Afrika auf einen in seinen Augen degenerierten westlichen Liberalismus trifft, der (so das Klischee) schon vor hundert Jahren vor dem Zeitgeist kapitulierte und seither dahinsiecht. Auch hier kann Homosexualität nicht nur als „unbiblisch“, sondern auch als „unafrikanisch“ (!) bezeichnet werden. Und auch hier stellt sich die Frage, ob diese Schablone verdeckt, dass nun Theologie, Moralvorstellungen und Ideale womöglich reimportiert werden, die von den Missionaren der Kolonialmächte im 19. Jahrhundert exportiert wurden. Postmoderne „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ – so wie die folgenschwere Unterscheidung von Hutus und Tutsis auch ein europäischer Export war, afrikanischer Tribalismus also mit überholtem westlichen Rassismus zusammenhängt.
Nun scheint es so, dass ein Drohen mit dem Entzug von Entwicklungshilfe den Konflikt eher verschärft. Und vielleicht auch deshalb nicht angemessen wäre, weil wir Unbarmherzigkeit mit Unbarmherzigkeit bestrafen, und es trifft in jedem Fall die Schwachen und die Falschen. Zudem leugnet durch solch ein Vorgehen der Westen seine Mitschuld an der komplexen Vorgeschichte dieser Misere. Muss man also tatenlos zusehen (oder wegsehen), so wie wir das (das hat der Artikel ja leider ausgeblendet) in zahlreichen islamischen Ländern ohnmächtig tun? Afrika lernt (so hoffen wir) allmählich, seinen Binnenrassismus zu überwinden. Vielleicht lässt sich dieser Lernerfolg ja ausdehnen auf andere Bereiche.
Noch ein Gedanke zum heiklen Begriff der Reinheit. Wo Reinheit gefordert wird, da drohen Säuberungen, und die fallen gelegentlich sehr militant aus. Ethnische und kulturelle Reinheit ist in einer globalen Welt noch durch militante Abschottung zu erreichen, indem nämlich die jeweilige Mehrheit (um Mehrheit zu bleiben) alle möglichen Minderheiten ausgrenzt und zu Sündenböcken macht. In solche Reinheitsvorstellungen hat sich Jesus nicht gefügt, sondern so manche Tabus gebrochen. Unabhängig von der Frage, wo man in der Debatte über Homosexualität im Christentum steht – für die Menschenrechte Homosexueller sollte sich daher jeder einsetzen, beharrlich und mit Bedacht. Niemand will schließlich eine Neuauflage von Martin Niemöllers berühmtem Diktum schreiben müssen:
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“