Barmherzigkeit statt Opfer – auf diese Formel bringt Jesus seinen Konflikt mit den Pharisäern in Matthäus 9. Hinter diesen beiden Begriffen stehen gegensätzliche Weltbilder und Lebensweisen, mit denen wir bis heute ringen. Vor allem aber ein mächtiges Gefühl, das in Kirche und Theologie gravierende Folgen nach sich zieht.
Statt eines „normalen“ Blogposts stelle ich heute den Mitschnitt und die Präsentation meiner Predigt von gestern hier ein. Sie beruht in vielem auf dem ungemein hilfreichen und erhellenden Buch Unclean: Meditations on Purity, Hospitality, and Mortality von Richard Beck, das ich seit einigen Tagen mit einer ganzen Serie von Aha-Effekten lese. Vielen Dank an Rainer Behrens für den Tipp, und viel Spaß beim Zuhören. (Leider ist der Ton in den ersten Sekunden durch ein Versehen meinerseits etwas hallig, das hört aber gleich auf)
Weitere Posts zu Becks spannenden Thesen werden folgen.
Ich habe mir das „experimental theology“-Weblog angesehen und den Suchbegriff „purity“ eingegeben und bin auf zahlreiche Artikel über „Christian Purity“ (z.B. the psychology of Christian purity culture). In einem Artikel ging es ansatzweise um den biblischen Reinheitsbegriff oder besser gesagt, was der Autor dafür hält.
Ihre Predigt basiert auf einer fundamentalen Fehlwahrnehmung: Sie übertragen christliche Konzepte (wahrscheinlich solche mit hellenistischen Wurzeln) auf das Judentum und leiten daraus dann falsche Schlüsse ab. Nachdem ich dieses Weblog schon einige Zeit mitlese, stieg meine Fassungslosigkeit proportional zur Dauer des Zuhörens.
Tahara (rituelle Reinheit) und Tuma (rituelle Unreinheit) gehen im Hebräischen nicht vom gleichen Wortstamm aus wie im Deutschen. Die Konzepte von Reinheit, Unreinheit und Heiligkeit in der Hebräischen Bibel haben wenig bis nichts mit dem zu tun, was Sie in Ihrer Predigt verbreiten.
Auch wenn Sie behaupten, daß im Gleichnis vom barmherzigen Samariter der Priester und der Levit nicht geholfen haben, weil sie sich nicht verunreinigen wollten, so ist das falsch. Sie kamen VON Jerusalem und hatten deshalb ihren Dienst im Tempel hinter sich. Selbst wenn es anders herum gewesen wäre, wären sie nach jüdischem Verständnis zur Hilfe verpflichtet gewesen.
Dass im Jahr 2014 in evangelikalen Kreisen noch so verfälschend und diffamierend über jüdische Traditionen zur Zeit Jesu gesprochen wird, hätte ich selbst in evangelikalen Kreisen nicht für möglich gehalten.
Zum Weiterlesen für Sie uns andere Interessierte:
Guido Baltes: Jesus der Jude und die Mißverständnisse der Christen
Dieter Krabbe: Freuet euch mit Jerusalem – jüdisches Leben, Denken und Gedenken; eine Einführung (leider nur noch antiquarisch)
Frank Crüsemann: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen
@Iris Weiss: Es lag und liegt mir völlig fern, hier das Judentum in irgendeiner Weise zu diffamieren. Für mich ist die Diskussion zwischen Jesus und den Pharisäern kein christlich-jüdischer Streit, sondern ein innerjüdischer Konflikt zwischen den priesterlichen und prophetischen Traditionen, so habe ich das im Anschluss an Beck für mein Empfinden auch dargestellt. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter habe ich tatsächlich nicht mehr genau angeschaut, den Hinweis akzeptiere ich gern und werde auch gern bei Crüsemann et al. nachlesen.
Im Übrigen geht es mir ja um die Kritik an Reinheits- und Heiligkeitsvorstellungen im Christentum. Dass diese im Lauf der Zeit auch aus anderen Quellen gespeist wurden, ist mir völlig bewusst.
Zu meinem Vorverständnis, das wohl in der aktualisierenden Verschränkung von Psychologie, Theologie und Geschichte undeutlich blieb, vielleicht dieses Zitat von Jacob Neusner zum Konflikt um die Tischgemeinschaft: „Unter denen, die den Pharisäern nahestanden, gab es einige, die in eine städtische Religionsgemeinschaft eintraten, eine höchst ungeordnete Gesellschaft (Chabura). Die Grundlage dieser Gesellschaft war die peinlich genaue Einhaltung der Vorschriften über den Zehnten und anderer priesterlicher Opfer, wie auch Regeln der rituellen Reinheit außerhalb des Tempels, wo sie eigentlich nicht zwingend waren. […] Bei Tisch verhielten sie sich wie Tempelpriester am Altar. Diese Regeln bewirkten eine Absonderung der Mitglieder dieser Bruderschaft, denn sie aßen nur mit denen, die sich das Gesetz so hielten, wie sie es für richtig erachteten. […] Die Brüder lebten also unter, aber nicht mit den Menschen“ (Judentum in frühchristlicher Zeit, Stuttgart 1988, 28).