Blutige Erlösung (2): Stellvertretung

Wie kann es sein, dass der Tod eines einzelnen sich auf das Leben vieler, möglicherweise aller Menschen auswirkt? Was für die einen eine Selbstverständlichkeit ist, die sie nie angezweifelt haben, ist für andere schwer einzusehen. Die Tage haben wir das wieder einmal in einer Gesprächsrunde diskutiert.

So lange wir uns in der Metapher von Kult und Opfer bewegen, ist die Sache klar. Da gehört (ähnlich wie im magischen Denken) die „Stellvertretung“ zu den ungeschriebenen Regeln des Spiels: Ein Opfertier repräsentiert eine Gruppe von Menschen, und dann kann auch das Lebewesen noch durch Lebensmittel ersetzt werden und es ist immer noch ein „gültiges“ Opfer, das seinen rituellen Zweck erfüllt.

Was aber, wenn diese Selbstverständlichkeit nicht schon da ist? Welche Analogien lassen sich dann finden? Stellvertretung „funktioniert“ in unserer Gesellschaft über Institutionen und Strukturen. Die ermächtigen Menschen, für ganze Gruppen als deren Repräsentanten Entscheidungen zu treffen und Zusagen zu geben, im Gegenzug gibt es (wenigstens auf dem Papier) eine Pflicht zur Rechenschaft und regeln für die Entscheidungsfindung. Der Bundespräsident kann nur ein Gesetz unterschreiben, das der Bundestag zuvor beschlossen hat, und manchmal muss auch der Bundesrat noch zustimmen.

Es gibt aber auch, und damit kommen wir Jesus wieder näher, eine charismatische, nichtinstitutionelle Form der Stellvertretung oder Repräsentanz. Wir finden sie in Bewegungen und deren Führergestalten. Und dann lassen sich ähnliche Aussagen finden: Als Martin Luther King ermordet wurde, da galt dieser Anschlag nicht nur ihm als Person, sondern der Bewegung, für die er stand. Er wusste von der Gefahr und nahm das Risiko bewusst auf sich. Insofern starb King für die Rechte der Afroamerikaner, man kann aber auch sagen, dass er „für alle Amerikaner“ starb, denn der Rassismus belastete den Frieden im ganzen Land. Man kann vielleicht noch einen schritt weitergehen und sagen, er starb für alle Menschen, die in der einen oder anderen Form von Rassismus und sozialer Ausgrenzung betroffen sind – Opfer wie Täter. Ganz ähnlich lässt sich das von Oscar Romero sagen, der heute seliggesprochen wird für seinen todesmutigen Einsatz für die Armen. Und freilich galt dieser Einsatz auch den Reichen und Mächtigen, die er zur Umkehr rief.

Wenn wir bei Märtyrern sind – freilich nicht der völligen Perversion dieses Begriffs durch Selbstmordattentäter, sondern bei Menschen, die sich für die Würde und Rechte anderer einsetzen und dabei Gewalt erleiden – dann könnten viele Zeitgenossen auch noch mit, wenn wir sagen, sie setzen sich für etwas ein, das ihnen (und womöglich uns auch) „heilig“ ist. Etwa die Vision, die wir in der Erklärung der Menschenrechte formuliert finden. Wenn Menschen ihr Leben riskieren für etwas, das uns heilig ist, dann tun sie das in einem gewissen Sinn immer auch „für uns“ mit, sie repräsentieren alle Gleichgesinnten, und die Gewalt, die sie erleiden, wird von allen als persönlicher Angriff erlebt, die sich mit ihnen identifizieren.

Wenn wir von da aus auf Jesus zurückschauen und uns vergegenwärtigen, dass er quasi auf der Grenzlinie – beziehungsweise im Niemandsland – zwischen Juden- und Heidentum starb (oder in römischer Sprache: Römern und „Barbaren“), dann lässt sich das eben analog verstehen wie Kings Bedeutung für Angehörige aller Rassen und Völker oder Romeros für die Armen und deren Unterdrücker. Paulus scheint das in Galater 3,28 so verstanden zu haben, und er fügt den konfliktträchtigen Unterschied der Geschlechter dort gleich noch hinzu, ebenso wie die soziale Kluft zwischen Herren und Sklaven (das Kreuz war die Strafe der Herren für aufständische Sklaven). Ganz verschiedene Abgrenzungen und Identifikationen treffen also in diesem Punkt zusammen.

Es lassen sich also genug Kategorien für Konflikte und Zerwürfnisse finden, die auf uns zutreffen. Damit sind auch „unsere Sünden“ markiert und qualifiziert. Der Katholik James Alison hat sie in einer erfrischenden Interpretation des Sühnegeschehens summarisch so beschrieben: »… he was giving himself entirely without ambivalence and ambiguity for us, towards us, in order to set us “free from our sins” – “our sins” being our way of being bound up with each other in death, vengeance, violence and what is commonly called “wrath”.«

Inwiefern lässt sich das als „Erlösung“ deuten? Märtyrer wie King, Romero und andere weigern sich, sich in die ihnen zugewiesene Opferrolle zu fügen. Sie weigern sich ebenfalls, die gewaltsame Opfer-Täter-Relation einfach umzukehren. Sie demonstrieren damit eine Freiheit, sich über die Logik des Aufrechnens und der Vergeltung hinwegzusetzen. Sie räumen dieser Freiheit einen höheren Stellenwert ein als der eigenen Unversehrtheit und dem Überleben. Sie sind überzeugt davon, dass ein solcher Tod nicht sinnlos ist, sondern die Gewalttäter und deren Motive demaskieren, ihre fadenscheinigen Legitimierungen erschüttern und damit schließlich den Niedergang und Zerfall ihrer Macht herbeiführen kann.

Wenn man das nun in einem weiteren Interpretationsschritt zusammendenkt mit dem paulinischen „Gott war in Christus“, dann folgt daraus:

  • Gott solidarisiert sich mit den Opfern und öffnet den Tätern die Tür zur Versöhnung
  • Er „braucht“ keine Gewalt, sondern er stellt sie bloß in ihrer ganzen Abscheulichkeit
  • Er legitimiert auch keine menschliche Gewalt als „notwendig“
  • Er offenbart einen Gott, der frei ist von Rachegelüsten und Vergeltung (und sie auch nicht als „Strafe muss sein“ tarnt)
  • Er macht als Opfer von Gewalt das Angebot der Versöhnung
  • In dem allen wird ein Neuanfang möglich

Fortsetzung folgt, Teil 1 steht hier

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