Ein Glück, dass es das in christlichen Gemeinden ü-ber-haupt nicht gibt, was Richard Sennett über ein Gemeinschaftsleben schreibt, das sich gegen Fremde abschottet, nach innen aber unter dem Widerspruch leidet, dass man sich einerseits vor einander durch emotionale Offenheit offenbart und andererseits auf einander achtet und eine gewisse (das ist gar nicht negativ gemeint) soziale Kontrolle herrscht. Aus einem Ort der vermeintlichen Brüderlichkeit wird ein Ort des Brudermords:
Brüder gehen auf einander los. Sie offenbaren sich voreinander, sie entwickeln aufgrund dieser Selbstenthüllungen gegenseitige Erwartungen, und sie stellen fest, dass der andere Mängel hat. Mit dieser Haltung treten sie auch der Außenwelt gegenüber. Wir sind eine Gemeinschaft; wir sind wirklich; die Außenwelt reagiert nicht auf das, was wir als Gemeinschaft sind; der Fehler muss bei ihr liegen, sie verfehlt uns; deshalb wollen wir mit ihr nichts zu tun haben. Beide Prozesse folgen dem gleichen Rhythmus von Enthüllung, Enttäuschung und Isolation.
(Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, S. 379)
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Gestern wunderte sich ein Freund, wie immer wieder aus Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten Konflikte entstehen können – Eifersüchteleien, Verdächtigungen und ähnliches. Und ich habe mich wieder mal daran erinnert, dass oft ausgerechnet die Leute, die sich mit der größten Euphorie in eine neue Gemeinschaft begeben, sich nach einer Weile mit der größten Enttäuschung und Bitterkeit von denselben Leuten abwenden, für die sie sich zuvor so begeistert hatten.
Wie hieß es doch gleich in Galater 5,15: Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht einer vom andern aufgefressen werdet. Eine solche Gemeinschaft hat nicht aufgehört, Salz und Licht zu sein, weil sie streitet. Sie streitet, weil sie schon nicht mehr (oder nicht mehr konsequent genug) danach fragt, wie sie Gottes Mission erfüllt. Denn das würde die eigenen Frustrationen schlagartig relativieren. Die Lösung ist also auch nicht, den Streit durch verstärkte Zuwendung zu einander zu lösen (das potenziert ihn erst recht), sondern sich gemeinsam nach außen zu wenden und den Streit sterben zu lassen, indem man ihm die Aufmerksamkeit entzieht.
Sehr interessant, was du hier schreibst. Sennett kenne ich nicht, aber die Anwendung seiner Thesen auf das Gemeindeleben macht Sinn.
Besonders der letzte Gedanke (…den Streit sterben lassen) ist für mich ganz real ein bedenkenswerter Ansatz. Ich hab mich schon oft gefragt: Ist es normal, dass es diesen Zwang zum Kuschelclub gibt? Muss man jeden in der Gemeinde mögen? Habe ich etwa die falsche Haltung? Mir scheint, dass diese Dynamik nach innen und das ewige „rumdoktern“ und „beseelsorgen“ oft mehr Schaden anrichtet, als dass es was nutzt.
Ja, diese Spirale nach innen ist fatal: „Je mehr sich die Menschen in die aus der Gemeinschaft erwachsenden Konflikte hineinsteigern, desto weniger werden sie die grundlegenden Institutionen der gesellschaftlichen Ordnung in Zweifel ziehen. Leute die darum ringen, eine Gemeinschaft zu sein, verhaken sich leicht in den gegenseitigen Empfindungen und verlieren den kritischen Blick…“ (S. 391)