Relativismus und Kultur

Die Art, wie Menschen Glauben und Sinn erleben, ändert sich: „Alle Glaubenssysteme der ersten Liga existieren noch, aber sie haben alle postmoderne Schwierigkeiten: interne Bürgerkriege. Gläubige, die hinein und herauspendeln. Erneuerer, die seltsame Abwandlungen erfinden: Kommunismus mit freiem Markt, feministisches Christentum, esoterische Wissenschaft. Wir leben in einer neuen Welt, einer Welt, die nicht weiß wie sich sich aus dem definiert, was ist, sondern nur aus dem, was sie aufgehört hat zu sein“, sagt Walter Truett Anderson, Präsident der US-Zweigs der World Academy of Art and Science.

Kultur ist das Schlüsselwort für den postmodernen Zugang zu Wahrheit und Werten. In der Moderne lieferte die Naturwissenschaft das Paradigma einer objektiven, logischen und eindeutigen Wahrheit (und verdrängte damit Kirchen, heilige Schriften oder Priester und Propheten, denen offenbarte Wahrheit anvertraut war und die damit Menschen – so argwöhnte man – bevormundeten).

Heute sind es die Kulturanthropologen, durch deren „Brille“ wir Wahrheit betrachten – und wir entdecken, dass es keine absolute Objektivität gibt, sondern Spache und Kultur schon unsere Wahrnehmung und noch mehr unser Denken bestimmen. Unser Verstehen ist nur relativ objektiv.

Eine andere Kultur ist zudem kein Objekt, sondern erfordert ein persönliches Sich-Einlassen, eine Beziehung mit konkreter, persönlicher Erfahrung, die auch wieder den verändert, der sie macht. Denn erst in der Begegnung mit einer fremden Kultur erkennt der einzelne den Charakter und die Grenzen der eigenen Kultur. „Im Akt der Er-findens einer anderen Kultur er-findet der Anthropologe seine eigene und tatsächlich er-findet er den Gedanken der Kultur selbst“ (Roy Wagner). Von daher wird verständlich, dass postmodernes Denken eine gewisse ironische Distanz zur eigenen Betriebsblindheit behält und sich mit Absolutheitsansprüchen aller Art schwer tut.

Diese „kulturelle Relativität“ ist nicht zu verwechseln mit einem radikalen Relativismus, den es laut Anderson nie wirklich gab: „Niemand glaubt, alles sei gleich, weil der menschliche Verstand so nicht funktioniert; was auch immer sonst er tut, immer ist er unermüdlich und unablässig am Bewerten.“

Die Kritik am Rationalismus der Aufklärung ist übrigens gar nicht so neu: Schon der Königsberger Wundarzt Johann Georg Hamann, Zeitgenosse und Freund Immanuel Kants, hat in seinen literarischen Fragmenten auf die Bedingtheit (und damit Relativität) aller Erkenntnis durch Sprache hingewiesen und Erkennen als einen personalen Akt verstanden, der das erkennende Subjekt notwendigerweise verändert. In dieser Hinsicht war Hamann ein konsequenter Aufklärer, weil er offenlegte, dass die „Reine Vernunft“ tatsächlich die Vernunft des Immanuel Kant aus Königsberg ist und damit allen üblichen Bedingungen und Beschränkungen von Zeit, Ort, Sprache und Kultur unterliegt.

Für Hamann hat sie diese Auffassung deshalb so gut mit dem Christlichen Glauben vertragen, weil er in Gott den Urheber der Sprache sieht. Gott schafft die Welt und den Menschen durch sein Wort und redet ihn an. Das ist die Grundsituation unserer Existenz, auf die wir antworten, weil wir als Menschen an „Gottes Sprachvernunft“ Anteil haben, wie der Theologe Oswald Bayer in der „Zeit“ schrieb.

Wenn nun jemand Christ wird, begegnet er einer fremden Kultur, die es ihm erlaubt, sich kritisch mit seiner Herkunftskultur zu befassen. Das steckt dahinter, wenn das Neue Testament von Bürgern des Himmels und dem Gottesvolk des neuen Bundes spricht. Also wechselt auch nicht einfach ein Individuum seine Meinung in theologischen Spezialthemen. Sondern es findet eine persönliche Begegnung statt, es werden Erfahrungen gemacht und auf Plausibilität hin untersucht, die neue Kultur muss von innen her erkundet und verstanden werden und das alles braucht eine Menge Zeit.

Das Evangelium stammt nicht aus einem kulturfreien Raum, sondern aus der jüdischen Kultur. Insofern mutet es uns immer eine Begegnung mit fremdem Gedankengut, Symbolen und Perspektiven zu. Es hat immer sehr fruchtbare Umsetzungen in andere Kulturen gegeben: Die griechische und römische, die der Kelten und später der Germanen und die des neuzeitlichen Europa. Alle hatten ihre Schwächen und Kirche musste jedesmal neu „erfunden“ werden.

Auch heute. Es hilft nichts, sich mit dem volkskirchlichen Wunschtraum zu täuschen, der Kirche und Gesellschaft als weitgehend kongruent verstehen möchte und sich selbst als kulturtragend. Christen leben besser und irgendwie richtiger als Kontrastgesellschaft und eine Art Gegenkultur (solange damit nicht Totalverweigerung und Abbruch aller Kommunikation gemeint ist). Umgekehrt isoliert sich auch der fundamentalistische Ansatz, der Anbiederung scheut, aber ein zeitlos und absolut wahres Evangelium (ganz modern gedacht) rein halten muss. Bestenfalls kann die Verpackung aufgepeppt werden, aber die Denkvoraussetzungen sind unantastbar. Damit ist kein Gespräch mehr möglich und keine Entwicklung.

Der dritte Weg zwischen diesen Polen muss uns weiter beschäftigen. Mich jedenfalls 😉

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