Reformation und Emergenz

Ausgerechnet auf der IAA – im Testosteronnebel, der PS-Protze und Designstudien dort umgibt – kam ich gestern dazu, den Aufsatz meines Doktovaters Berndt Hamm über „Die Emergenz der Reformation“ zu lesen. Phyllis Tickle hatte – freilich weniger wissenschaftlich – diese Linie ja auch verfolgt. Ich kann das kleine Büchlein Die Reformation: Potentiale der Freiheit nur wärmstens empfehlen.

Hamm geht als Experte für Spätmittelalter und Reformation an das Thema Emergenz heran. In der Darstellung der Reformation gab und gibt es zwei gleichmaßen reduktionistische Grundansätze: Einerseits die Betonung des organisch-evolutionären Charakters und der Kontinuität zwischen den Luthers Erkenntnissen bzw. den Ereignissen des frühen 16. Jahrhunderts auf der einen Seite und den spannungsreichen Polaritäten spätmittelalterlicher Kultur, Frömmigkeit, Kirchenpolitik und Reformansätzen auf der anderen Seite – den prozesshaften Aspekt dieser „Transformation“. Andere betonen umso steiler den Bruch, die Diskontinuität, das Neue und (vor allem dann, wenn sie sich selbst mit dem reformatorischen Erbe identifizieren) das unbestreitbare Wirken Gottes durch Geistesgrößen und Ausnahmegestalten wie eben Luther im klaren Gegensatz zu allen menschlich-immanenten Anteilen. Zugleich wendet er sich gegen Foucaults Gedanken der seriellen Geschichtsschreibung, die einseitig Kontingenz und Diskontinuität betont.

Die Refomation als ein emergentes Geschehen zu betrachten, erlaubt es, diese Gegensätze zusammenzubringen: Einerseits war alles schon irgendwie vorhanden und vorbereitet und keiner der Reformatoren fügte der Gemengelage seiner Zeit etwas entscheidend Neues, nie Dagewesenes (oder schreibt man man „Niedagewesenes“ bzw. „nie da Gewesenes“?) hinzu. Andererseits ergab sich eben doch eine ganz neue Situation durch systemsprengende Innovation, die eben nicht im Voraus schon ableitbar oder vorauszusehen gewesen wäre:

Die Geschichte der Reformation ist eine Vernetzung und Wechselwirkung zwischen sich überlagernden Kontinuitäten von unterschiedlicher Dauer und interagierenden Sprüngen und Ereignisketten von unterschiedlicher Reichweite. Der Blick auf die modernen Emergenztheorien zeigt, dass diese Verlaufsstruktur völlig selbstverständlich und bei allen Neukonfigurationen komplexer Systeme regelhaft ist. Insofern ist die Reformation in ihrer Entstehung und ihrem Ablauf erklärbar, auch wenn sich die kontingenten Innovationssprünge selbst der Erklärbarkeit entziehen. (S. 24)

Ich fände es schade, den Begriff „emerging church“ aufzugeben (die Diskussion lief ja vor einigen Monaten ziemlich heiß), weil er entweder durch ein paar Radikale (bei Hamm wäre das Foucaults atomisierende Theorie) oder aber das Sperrfeuer der konservativen Reaktion, die in jeder Relativierung ihrer Grundsätze schon die Auflösung in die totale Gleichgültigkeit zu erkennen glaubt, angeblich verbrannt ist.

Zugleich ist es wichtig, dass man selbst für den Fall, dass heute wie damals eine (so sieht Hamm das frühe 16. Jahrhundert) „emergente Gesamtlage“ besteht, nicht einmal ansatzweise den Anspruch zu erheben, schon sagen zu können, was nun kommt. In allem Reden von einer neuen (je nach Zählung: zweiten oder dritten) Reformation liegt diese tiefe Zwiespalt, dass man die Grundsituation möglicherweise richtig erspürt, aber dann der Versuchung erliegt, ihren Ausgang nicht abzuwarten und sich aus den aktuellen Tendenzen willkürlich eine als den „Schlüssel“ herauszupicken, und sie per Projektion in die Zukunft zu verlängern. Ich wurde neulich genau das gefragt: Ob es meiner Meinung nach eine „Big Idea“ gäbe, an der die Zukunft der Kirche hängt. Mir fiel keine ein, und der Fragesteller hat sich auf diese Antwort hin auch nicht mehr gemeldet. Ich halte es da lieber mit dem provokativen Statement (während ich dies tippe, ahne ich schon die Kommentare) von Tom Peters: „In diesen stürmische Zeiten hat niemand eine Chance, der nicht gründlich verwirrt ist.“

Vielleicht war die IAA ja doch der perfekte Ort: Eine Industrie – und mit ihr eine ganze Gesellschaft – im Wandel. Verheißungsvolle Neuansätze und die geballte Macht alter Vorstellungen, Konzepte und Gewohnheiten. Ernst gemeinte Vorsätze und bloße Lippenbekenntnisse zu nachhaltiger Mobilität und das dumpfe Gefühl: was auch immer kommt, es wird ganz anders sein müssen und doch aus dem entstanden sein, was heute existiert.

Share

3 Antworten auf „Reformation und Emergenz“

  1. die zeiten der big idea sind wohl vorbei, auch wenn das manchen immer wieder schwer fällt einzusehen. danke sehr für diesen sehr guten eintrag/hinweis und die darin angesprochene tatsache der möglichen veränderung… emerging church eben 😉

  2. Hmm, also liegt das alles nicht einfach daran, dass alle gemeinsam die Geschichte „machen“ bzw. die Geschichte sind?

    Und in demokratisch strukturierten Gesellschaften wurschteln halt ein paar mehr aktiv mit, drum schlägt nicht einer mit einer Idee so durch. Früher musste man erst einen von den „hohen Herren“ überzeugen, und der ging dann damit in die Geschichte ein…

    …und heute schreiben wir blogs und Debattieren auf irgendwelchen Network-Plattformen…

  3. Wow, ein super Blogpost! Besonders wichtig ist mir momentan auch die Bescheidenheit, eben nicht zu wissen, was kommt. Vielleicht kann (da bin ich mal ganz unbescheiden), die amerikanische emergente Diskussion genau das von der europäischen lernen?

Kommentare sind geschlossen.