Die Fremdheitsgefühle nicht nur des Dichters gegenüber einer aus den Fugen geratenen Welt thematisierte Rowan Williams vor 40 Jahren in seinem lesenswerten Aufsatz „Poetic and Religious Imagination“. Dabei kommt er auf das Buch Hiob zu sprechen, in dem diese Fremdheit dargestellt wird. Er beschreibt sehr treffend und schön, um was es dort geht:
… Hiob verlangt weiterhin eine Antwort, er verweigert die Resignation gegenüber dem Zustand der Welt ebenso wie die leichtfertige Rechtfertigung ihres Zustandes, weil er instinktiv und zutiefst überzeugt ist, dass „die Welt nicht genug“ ist. … Schlicht zu resignieren wäre Verrat; das Strukturieren und Erklären Blasphemie. Was bleibt noch, wenn man die Welt weder akzeptieren noch vernünftig erklären kann? Es bleibt Hiobs Protest. Hiob versteht seine Erfahrung als Frage, auf die man nur mit weiteren Fragen antworten kann. Seine Welt ist keine abgeschlossene Struktur, auf die sich nur passiv reagieren lässt, noch ist sie ein Problem, für das er, sein Bewusstsein, die Lösung wäre. Sie ist ein ungeordneter Fluss, in dem er seinen Ort finden muss. aber dieses Finden eines Ortes (eine mögliche Definition persönlicher Reife) heißt auch, in jeder Hinsicht Position zu beziehen: eine Wahl zu treffen hinsichtlich der Wirklichkeit, sich auf eine ‚Richtung‘ … der Welt und in der Welt festzulegen.
Dazu passt ganz gut, was ich diese Woche bei Bernhard Waldenfels in „Ortsverschiebungen – Zeitverschiebungen“ gelesen habe. Für Waldenfels ist die Erfahrung von Fremdheit konstitutiv für menschliche Selbst- und Welterfahrung: „Die Sachen selbst sind nie ganz sie selbst, so wie wir selbst nie ganz wir selbst sind“ (S. 30). Wir befinden uns zwar immer an einem Ort, und doch gilt zugleich: „Einzig der Mensch lässt sich charakterisieren als ein leibliches Wesen, das seinen Ort sucht“ (S. 39).
So kommt Waldenfels auf die zwei großen Ortsfragen der biblischen Urgeschichte zu sprechen. Er beginnt mit der Frage Gottes an den Menschen:
„Gott fragt Adam, der sich schuldbewusst vor seinem Antlitz versteckt: »Wo bist du?« Adam antwortet, indem er erklärt, warum er sich dem göttlichen Blick entzogen habe. Indem er dies tut, gibt er implizit zur Antwort: »Hier bin ich.« Er stellt sich der fremden Frage, indem er Stellung nimmt.“
Adam protestiert nicht wie Hiob gegen eine ungerechte Welt. Aber auch er sucht seinen Stand. Indem Gott ihn fragt, kann er nicht anders, als sich selbst zu fragen, was mit ihm los ist: „Ich werde mir selbst fraglich. Dadurch dringt eine Andersheit in mein Selbst ein, die es unmöglich macht, Selbstbefragung als reine Selbstbefragung zu verstehen.“ Diese zwiespältige Fraglichkeit des (mal mehr, mal weniger dislozierten) Menschen lässt ihm den eigenen Ort fremd erscheinen.
Zumal der eigene Ort nie ganz der eigene ist. Darauf verweist die zweite Frage, die Gott an Kain richtet: „Wo ist dein Bruder?“ Sie zeigt an, „dass ich nicht an meinem Ort bin ohne stellvertretend den Platz eines Anderen einzunehmen. […] eigener und fremder Ort überdecken sich; ich bin zugleich dort, wo der oder die andere ist.“ (S. 41)
Hiob sucht und findet seinen Ort in seinem Protest gegen das sinnlose Leid der Welt. Und er bringt Gott dazu, Position zu beziehen. Auch wenn das bedeutet, dass Gott Hiob in Frage stellt – „Wer bist du schon?“ –, nun stellt sich auch Gott. Als hätte er darauf gewartet, dass ihn jemand dazu auffordert, anstatt sich resigniert zurückzuziehen oder dem Sinnlosen irgendwie noch einen mühsam konstruierten Sinn zuzuschreiben, die den Schrecken mildert.
In dem, was Williams und Waldenfels schreiben, wird auch deutlich, dass in Hiobs Situation etwas Exemplarisches sichtbar wird. Nicht im extremen Ausmaß von Leid und Verlust, aber in der Tatsache, dass unser Ort in der Welt immer fraglich ist. Etwas zieht mir „den Boden unter den Füßen weg“. Waldenfels nennt das Atopie, und die Ursache für dieses Herausfallen aus der vertrauten, geordneten Welt liegt an den Rissen, Brüchen und Abgründen in dieser selbst – an dem „ungeordneten Fluss“, von dem Williams schreibt. Der Ort, an dem ich bin, wird (oder bleibt) mir fremd – äußerlich wie innerlich:
„Niemand, auch nicht der Feldvermesser, weiß völlig, wo er ist. Und auch die Moralvermesser wissen nicht völlig, wo sie sind. […]
Im »Un-bewussten« wiederholt sich die Zweideutigkeit der A-topie. Auch das Unbewusste ist kein bloßes Nichtwissen, kein Wissen, das anderswo abgelagert ist, sondern eine eigentümliche Form des Wissensentzugs inmitten unseres Wissens, wie es sich schon im wissenden Nichtwissen des Sokrates andeutet. Von daher bekommt all unser Reden und Tun etwas Doppelbödiges.“ (S. 125f.)
Das Doppelbödige ist immer da. So lange alles rund läuft, können wir es vielleicht ignorieren oder verdrängen. Wenn unsere Illusionen von Sicherheit und Sorglosigkeit platzen, unsere Karten der Welt nicht mehr stimmen, dann geht es uns wie Hiob. Deswegen ist seine Geschichte auch so bleibend aktuell.
Gott gibt keine Antwort, die es Hiob möglich macht, verstörende und widersprüchliche Erfahrungen sauber in ein moralisches oder theologisches Koordinatensystem einzuordnen. Aber er bestätigt ihn an dem Ort, an dem er protestierend steht, indem er mit ihm spricht – und sich zu ihm stellt.