Ordentlich Musik drin – ein Rückblick

Das neue Jahr hat begonnen und kurz bevor alles so richtig Fahrt aufnimmt, ist ein kurzer Rückblick angebracht. Die erste Hälfte des alten Jahres war ich noch mit Ankommen in der neuen Gemeinde beschäftigt. Wichtiger als die Frage, was mir denn vorschwebt oder liegt, war dabei die Frage, was die Gemeinde und mit ihr der Stadtteil denn braucht.

Ich erlebte alle Feste und die damit verbundenen Gewohnheiten und typischen Abläufe zum ersten Mal. Das erste Wochenende mit dem Kirchenvorstand und der erste Konvent mit den Kolleg*innen aus dem Prodekanat im Sommer waren beide auf die richtige Art intensiv und entspannt. Die unternehmungslustigen Konfirmand*innen vom Frühjahr wollten unbedingt noch einmal wegfahren. Für rund 20 Kirchtürme in und um Nürnberg habe ich im Sommer ein Banner produziert, das wir in der Klima-Aktionswoche um den 20. September herum dann aufgehängt haben.

Vor der Lorenzkirche in Nürnberg

Ende Juli war dann meine akribisch erstellte und verabschiedete Dienstordnung schon wieder Makulatur: Die zweite Pfarrstelle wurde zum September frei und ich wurde gebeten, diese zu übernehmen. Das war noch einmal ein Umbruch. Seither habe ich mehr mit Menschen unter 18 zu tun als drüber: Konfis, Grundschulkinder, Jugendliche. Wenn ich jetzt Gottesdienste halte, dann oft mit Schulen und Kindergärten, Kleinkindfamilien und Krippenspielern. Predigtkünste sind da Nebensache, das ist sicher der größte Unterschied zu den Jahren vorher. Meine Redeanteile liegen im einstelligen Minutenbereich und haben im besten Fall die inhaltliche Komplexität einer Radioandacht. Andere Dinge sind wichtiger: In der „Arche“, einem schon leicht abgewetzten Kinder- und Jugendhaus, hatte ich schon von Anfang meiner Zabo-Zeit an ein Büro. Nun bin ich auch der Hausherr, der schaut, was sich da alles tummelt. Und überlegt, was fehlt und was noch werden kann. Gut, dass ich auch da eifrige Helfer*innen habe.

Das Pendeln ist (im Winter mehr, im Sommer weniger) schon etwas mühsam. Irgendwann in der zweiten Hälfte dieses Jahres wird dann auch die Frage wieder aktuell, ob ich bleibe (und wir dann vermutlich umziehen), oder ob es irgendwo anders eine neue Aufgabe gibt.

Der Pflicht, mich als Frischling im System Landeskirche fortzubilden, bin ich gerne nachgekommen und im Zuge dessen erst zur re:publica 2019 nach Berlin und im Herbst zu „Predigen wie TED“ nach Wittenberg gefahren, um meinen geistiges und handwerkliches Repertoire zu erweitern. Kostenlose, aber nicht weniger intensive und effektive Fortbildung war die Arbeit an Kurzandachten fürs Radio mit Christoph Lefherz in Nürnberg und Melitta Müller-Hansen in München. Und natürlich der Lorenzer Kommentargottesdienst im Mai mit Nürnbergs OB Maly. Gut, dass etliches davon schon vor dem Sommer stattfand, denn inzwischen sind die Freiräume wieder etwas geschrumpft.

Vor etwas mehr als einem Jahr spürte ich, dass ich neben allen zielgerichteten Dingen auch eine völlig zweckfreie Sache brauche. Ich habe dann meine gute alte Takamine wieder ausgepackt und neben dem Schreibtisch aufgestellt. Eine Stratocaster und eine schnuckelige Martin LX1e haben sich dazu gesellt. Wenn mir jetzt zwischen Unterrichtsentwürfen und e-Mails der Elan oder die Ideen ausgehen, spiele ich ein paar Minuten. Die Finger sind schon etwas beweglicher geworden und die Hornhaut auf den Fingerkuppen dicker. Es war also auch ordentlich Musik drin im Jahr 2019.

Endlich war auch wieder Platz im Kopf und im Kalender, um mich im Koordinationskreis von Emergent wieder einzuklinken. Wir haben ein wunderbares Con:Fusion zu den „Zeichen der Zeit“ auf dem Lindenhof in Hemmersheim verlebt, für das uns das „Terrestrische Manifest“ von Bruno Latour die entscheidenden Fragen und Stichworte gab. In diesem Jahr setzen wir das fort, mit einem Forum vom 18. bis 20. September, in Nürnberg, in der Auferstehungskirche.

Walter Faerber und Simon de Vries

Auch in diesem Blog habe ich angefangen wieder mehr über das Thema Klimakrise zu schreiben. Eine Weile hatte ich das Gefühl, es sei im Grunde schon alles gesagt. Das Thema hat mich freilich seit Jahren nicht losgelassen, bei jedem Waldspaziergang ist es ja mit Händen zu greifen. Dann dachte ich, andere sagen es besser – die Generation Greta, Extinction Rebellion oder die Fachleute, von denen Christian Lindner so gern spricht, obwohl er ihre Warnungen seit Jahren ignoriert. Ich war richtig niedergeschlagen und bin es manchmal immer noch. Schließlich merkte ich, dass ich als Christ und Theologe einfach nicht still sein kann. Im Augenblick schreibe ich zusammen mit Walter Faerber an einem Buch, das Christen zu einem nachhaltigen Engagement für eine Veränderung unseres Lebensstils zu Gunsten bedrohter Arten und künftiger Generationen ermuntert und ein paar praktische Perspektiven aufzeigt. 70% von meinem Teil des Manuskripts habe ich inzwischen eingetütet. Wenn alles gut weitergeht, erscheint es in diesem Jahr.

Eines ist schon mal sicher: Langweilig wird 2020 auf keinen Fall.

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Holterdiepolter

Es ist schon eine ganze Weile her, aber alle erinnern sich noch genau: Wir saßen beim Essen und eines der (damals noch kleinen) Kinder warf ein leeres Glas um. Das Glas kullerte auf die Tischkante zu. Statt schnell noch danach zu greifen und den Absturz zu verhindern, hielt sich das Kind die Ohren zu. Wir anderen riefen hektisch durcheinander oder hielten den Atem an und warteten auf den Knall.

Im Augenblick rollt ein ziemlich großes und zerbrechliches Glas auf die globale Tischkante zu. Noch ließe sich der Absturz verhindern. Manche am Tisch tun so, als ginge sie das Ganze nichts an. Andere sitzen zu weit weg oder sind zu klein, um selbst eingreifen zu können. Und die, die jetzt beherzt zupacken müssten, halten sich zum großen Teil die Ohren zu.

So war es bei der enttäuschenden Klimakonferenz in Madrid vergangene Woche. Parallel dazu gab es ernüchternde Meldungen über das Verbraucherverhalten: In der EU wurde 2018 so viel geflogen wie nie zuvor. In Deutschland wurden dieses Jahr schon über eine Million SUVs verkauft, 2025 könnte jedes zweite Fahrzeug so ein schwerer Spritschlucker sein. Und die scheidende Präsidentin des Bundesumweltamtes beklagt, dass die Bundesregierung die Arbeit ihrer Behörde ignoriert oder verunglimpft (wie Markus Söder, der letzte Woche das von den Experten vorgeschlagene Tempolimit in die Rubrik „Mottenkiste“ packte).

Das Zeitfenster wird sich bald schließen. Die Hoffnung, dass die Menschheit noch rechtzeitig schaltet, ist in diesen Tagen nicht größer geworden. Es gibt einen uralten Song von Don Francisco, an dessen Ende es passend zu meinem Vergleich hier heißt:

Adam’s sons are still the prisoners of their fears
Rushing helter skelter to destruction with their fingers in their ears
While the father’s voice is calling with an urgency I’ve never heard before
„Won’t you come in from the darkness now
Before it’s time to finally close the door?“

Don Francisco, „Adam where are you?“

Bei Kindern ist das Ohrenzuhalten ja verständlich und irgendwie auch sympathisch. Wir Erwachsenen täten allerdings gut daran, andere Bewältigungsstrategien zu wählen.

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Der Advent ist ein kleiner Pudel

Als ich heute mit Tüten voller Kinderpunsch aus dem Supermarkt kam, saß vor dem Eingang ein kleiner Pudel in einem goldbronzenen Daunenjäckchen und fiepte unablässig vor sich hin. Ich fand den Anblick erst skurril, irgendwie amüsant. Dann schaute ich noch einmal hin. Der Hund wandte seinen sehnsüchtigen Blick nicht von der Tür ab, hinter der sein Frauchen (vermutlich – oder würden auch Männer Hunde so anziehen?) verschwunden war. Und ich war mit einem Mal ziemlich gerührt.

Warten fällt uns schwer. So gespannt zu warten allemal. Wir haben weitgehend aufgehört, im Advent noch zu warten. Er ist, auch im kirchlichen Kontext, längst die Zeit der Vorwegnahme von Weihnachten. Wir singen Weihnachtslieder, wir essen Weihnachtsgebäck, wir öffnen kleine Geschenke aus unseren Adventskalendern, wir hören tausend Vorabversionen der Weihnachtsgeschichte. Wenn Weihnachten dann endlich kommt, ist es nur noch mehr vom Selben. Dieser Advent geht mir, obwohl erst halb vorbei, ziemlich auf den Spekulatius.

Fulbert Steffensky habe ich heute vom „Zwang zur lärmenden Heutigkeit“ sprechen hören, „in der kein Herr des Hauses mehr erwartet wird, der zu Mitternacht zum Gericht oder zur Hochzeit kommen könnte“. Recht hat er.

Vielleicht haben wir uns einfach schon zu viel genommen, um noch so eine tiefe Sehnsucht zu empfinden wie der kleine Pudel. Und geben uns genau deshalb mit viel zu wenig zufrieden. Wir warten, wenn wir Gott richtig verstanden haben, darauf, dass diese Welt eine andere wird. Dieses Warten ist am 24. Dezember noch lange nicht zu Ende.

Und Weihnachten bedeutet dann: Warten lohnt sich. Er kam schon einmal in eine Welt, die nicht (mehr) mit ihm gerechnet hatte.

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Nicht so unerlöst, Kollege!

Neulich hat sich ein Kollege zur Klimakatastrophe geäußert. Die Dramatik ist, wenn man nur einmal die Nachrichten dieser Woche Revue passieren lässt, ja kaum zu überschätzen:

Doch auch und gerade in den Kirchen gibt es Stimmen, die versuchen, jegliche Aufregung darüber zu dämpfen. „Unerlöst“ sei seine Sorge und Niedergeschlagenheit, musste der Kollege sich von einem kirchlichen Medienmenschen anhören.

Ich finde es theologisch wie pastoral unverantwortlich, wie hier oft argumentiert wird. Wenn in der Kirche kein Raum mehr ist, über bestens begründete Ängste und dystopische Zukunftsszenarien zu sprechen, wo denn dann? Wir leben in einer Gesellschaft, in der ein großer Teil des politischen Spektrums – von den C-Parteien über die FDP bis zur AfD – „mehr Angst vor dem Klimaschutz als vor der Klimakatastrophe hat.“ Da wird auf Teufel komm raus verdrängt, verharmlost und beschwichtigt. Und wo das nicht greift, werden die Mahner als hysterische Spinner, selbstgerechte Fanatiker und wirtschaftspolitische Geisterfahrer hingestellt.

Photo by Markus Spiske on Unsplash

Was da nämlich als „erlöst“ propagiert wird, ist einfach nur die Fortsetzung der Verdrängung mit anderen Mitteln: Religion als Valium fürs Bürgertum. Ist es schlicht Wurstigkeit, oder die Angst vor einer Angst, die sich nicht wegmoderieren lässt? Spricht hier die Aversion der vermeintlich Gemäßigten gegen jede Art von Radikalität? Ist für die noch Platz in einer bürgerlichen Theologie und wohltemperierten Kirchlichkeit, die in der biblischen Apokalyptik und im Alarmismus der Protestbewegungen nur noch Gefahr und Schrecken erkennt?

Theologisch angemessen und pastoral verantwortlich wäre es, sich der Verzweiflung zu stellen und durch sie hindurch zu gehen, statt sie überspringen zu wollen. Wenn Menschen um Verstorbene trauern oder mit einer Depression kämpfen, kann ich ihnen ja auch nicht einfach zurufen, sie sollten doch erlöster aus der Wäsche schauen. Dasselbe Muster finden wir auch in der Tiefenökologie (ich habe hier darüber schon etwas geschrieben): Aktivismus wird nur dann nachhaltig sein können, wenn er dem Leid und der Verzweiflung – der eigenen und der anderer – nicht ausweicht, sondern sie an sich heranlässt.

Es führt also kein direkter Weg von der Verdrängung hin zum inneren Frieden und der Gelassenheit des Glaubens. Es gibt keine Luftbrücke, bei der mich Engel auf Händen tragen würden; bleibt nur der Weg der Konfrontation mit der Realität, vor der wir seit über 40 Jahren kollektiv die Augen verschließen.

Johann Georg Hamann (1730-1788) hat aus eigener Erfahrung heraus gesagt: „Es gibt keine Himmelfahrt der Gotteserkenntnis ohne die Höllen­fahrt der Selbsterkenntnis.“ Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen bedeutet, mich auf diesen Weg einzulassen und alle anderen Sicherheiten und Gewissheiten aufzugeben.

Und falls es jemand lieber sozialwissenschaftlich-säkular möchte: Altmeister Ulrich Beck schrieb in „Die Metamorphose der Welt“ über einen „emanzipatorischen Katastrophismus„, der den entscheidenden Wandel zum Besseren herbeiführt. Über eine Welt, die erkennbar und nachweislich aus dem Gleichgewicht geraten ist, lässt sich nicht mehr ausgewogen im herkömmlichen Sinn reden. Warum also nicht klagen, trauern, protestieren und provozieren?

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Anmut und Abgründe – ein Weihnachtslied von Annie Lennox

Es ist schon fast ein Jahrzehnt her, dass die schottische Sängerin Annie Lennox ein Weihnachtsalbum herausbrachte. Das einzige Stück aus eigener Feder heißt „Universal Child“. Lennox setzt sich schon lange für Kinder in Not ein und hat durch ihr Engagement viele Kinderschicksale kennengelernt. Das schlichte Lied handelt von dem Wunsch, Kinder, die versuchen, wieder auf die Beine zu kommen, vor Schaden zu beschützen. Und davon, dass in ihrer Unschuld ebenso wie in ihren Tränen der Zustand der ganzen Menschheit erkennbar ist.

Zwischendrin geht die Poesie freilich über das Konkrete hinaus, wenn sie singt:

And I can see you, you’re everywhere, your portrait fills the sky,
oder:
I can feel you, you’re everywhere, shining like the sun.

Sonne und Himmel kommen ins Spiel – und ich frage mich, ob „Universal Child“ nicht eine schöne Beschreibung für jenes Kind ist, das sich später als „Menschensohn“ bezeichnen wird. Über die menschliche Natur Christi ist ja in der Theologie viel gesagt worden. Vielleicht geht es dabei ja weniger um bestimmte Eigenschaften, die Menschen von Tieren auf der einen und Gott auf der anderen Seite unterscheiden. Sondern vielmehr darum, dass diesen Menschenkind ein Leben führt, in dem die ganze Schönheit und der ganze Horror vorkommen, die menschliches Leben ausmachen – die Anmut und die Abgründe.

Photo by Kelly-Ann Tan on Unsplash

Vielleicht ist dieses Neugeborene – im überfüllten Bethlehem, später auf der Flucht in Ägypten, auf dem Berg der Verklärung und auf Golgatha – so betrachtet ein ganz passender Repräsentant, in dem wir uns alle wiederfinden können. Und vielleicht könnte das Menschen zusammenführen und all die Konflikte beenden helfen, unter denen vor allem die verwundbaren Kinder so leiden müssen.

Und hat Jesus nicht gesagt: Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf?

„Universal“ heißt auf Deutsch allgemeingültig, (welt)umfassend. Dieses vom Leid gezeichnete Kind wird zum Portrait, zum Gesicht der Menschheit am Himmel – vor Gottes Angesicht. Und aus der fürsorglichen Zuneigung von Annie Lennox spricht die zärtliche Liebe Gottes zu den Menschenkindern:

I’m gonna try to find a way to keep you safe from harm.
I’m gonna be a special place, a shelter from the storm.

Das trifft die Weihnachtsbotschaft doch ganz gut, denke ich beim Zuhören. Und summe leise mit.

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Alltägliches zum Aufhorchen

Manchmal habe ich angesichts der täglichen Nachrichtenlage das Gefühl, es gibt mehr negative Überraschungen als positive; oder dass all das Negative eigentlich auch schon keine Überraschung mehr ist, sondern nur die logische Folge des bisherigen Geschehens.

Doppelt aufhorchen lassen hat mich diese Woche Coldplay. Zum einen, weil die Band bekannt gab, auf ihre nächste Tour zu verzichten und daran zu arbeiten, ihre Auftritte klimaneutral zu organisieren. Die Musiker sind sicher nicht arm, aber sie verzichten eben auch auf beträchtliche Einnahmen.

Respekt!

Zum anderen ist es das neue Album von Chris Martin & Co: Everyday Life. Schöne Musik, eher leise, recht vielfältig im Stil. Nachdenkliche Texte, aber nicht kopflastig. Nach dem ersten Hören habe ich den Eindruck, damit ließen sich gleich mehrere Gottesdienste bestücken.

BrokEn ist ein guter Einstieg:

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Steinbecks Monster

Vor genau 80 Jahren erschien John Steinbecks „The Grapes of Wrath“ (Deutsch: „Früchte des Zorns“). Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise verließen viele Familien aus dem mittleren Westen und Süden Nordamerikas ihre Farmen und zogen als Wanderarbeiter nach Kalifornien. Arte hat aktuell eine sehenswerte Dokumentation dazu in der Mediathek stehen.

Ich habe aus der Doku gelernt, dass die „Okies“ (viele stammten aus Oklahoma) nicht nur Opfer der Wirtschaftskrise, sondern auch veritable Klimaflüchtlinge waren: Dürre und Überbeanspruchung der Böden hatten dazu geführt, dass ganze Landstriche kahl waren. Der Wind trug die Reste des Ackerbodens in gewaltigen Staubstürmen bis an die Ostküste. Dust Bowl nannte man das Phänomen damals.

Die „Okies“ damals waren also zwei Gewalten ausgesetzt: Der Natur (Hitze und Sturm) und dem ungezügelten Kapitalismus, der Profite privatisiert und Kosten samt Nebenfolgen externalisiert. Letzteren bezeichnete Steinbeck im Englischen als Monster. Er beschreibt diese seltsame Daseinsform in ebenso einfachen wie zutreffenden Worten:

Manche Landbesitzer waren freundlich, weil sie das, was sie taten, ungern taten, und manche waren böse, weil es ihnen zuwider war, grausam zu sein, und manche waren kühl, weil sie schon vor langer Zeit herausgefunden hatten, dass man kein Landbesitzer sein kann, ohne kühl zu sein. Und sie allesamt waren in etwas befangen, das größer war als sie selbst. Manche von Ihnen hassten die Zahlen, von denen sie getrieben wurden, manche fürchteten sich, und manche beteten die Zahlen an, weil sie ihnen eine Zuflucht gaben vor Gedanken und Gefühlen. Wenn eine Bank oder Finanzgesellschaft das Land besaß, so sagten die Männer, die gekommen waren: Die Bank – oder die Gesellschaft – wünscht – braucht – befiehlt – muss haben – als sei die Bank oder die Gesellschaft ein Ungeheuer mit Gedanken und Gefühlen, das sie verführt hatte. Und jene, die das sagten, wollten keine
Verantwortung für die Banken oder die Gesellschaften auf sich nehmen, weil sie Menschen und Sklaven waren, während die Banken Maschinen waren und Herren zu gleicher Zeit.
(…) Und die Landbesitzer erklärten das Arbeiten und Denken des Ungeheuers, das stärker war als sie. Ein Mann kann das Land halten, wenn er nur essen und Steuern bezahlen kann. (…) Aber siehst du, die Bank oder eine Gesellschaft kann das nicht, weil diese Kreaturen ja keine Luft atmen und sich nicht von Fleisch nähren. Sie atmen Profite und sie nähren sich von Zinsen. Wenn sie das nicht bekommen, sterben sie, wie du stirbst ohne Luft und ohne Fleisch. Es ist eine traurige Sache, aber es ist einfach so. Es ist einfach so. (…) Ein Mann auf einem Traktor kann zwölf oder vierzehn Familien ersetzen. Zahl ihm seinen Lohn und er macht die ganze Ernte. Wir müssen das machen. Wir machen es nicht gern. Aber das Ungeheuer ist krank. Irgend etwas muss mit dem Ungeheuer geschehen.

Sicher, riefen die Pächter, aber es ist unser Land. Wir haben es ausgemessen und umgepflügt. Wir sind darauf geboren und wir sind darauf getötet worden, wir sind darauf gestorben. Wenn es auch nicht gut ist, ist es doch unser Land. (…)
Tut uns leid, wir sind‘s ja auch nicht. Es ist das Ungeheuer. Die Bank ist nicht wie ein Mensch.
Ja, aber die Bank ist ja auch nur von Menschen gemacht.
Nein, da hast du unrecht – völlig unrecht. Die Bank ist etwas ganz anderes als Menschen. Jeder Mensch in der Bank hasst das, was die Bank tut, und doch tut die Bank es. Die Bank ist mehr als Menschen sind, das sage ich dir. Sie ist ein Ungeheuer. Menschen haben sie gemacht, aber sie können sie nicht kontrollieren.

John Steinbeck, Früchte des Zorns (1939)
Photo by JR Korpa on Unsplash

Da sind sie wieder…

Heute heißen unsere Probleme unter anderem: Klimakrise, Land Grabbing, Mietwucher, Fremdenfeindlichkeit und die Konzentration von Kapital in den Händen kleine Cliquen von Superreichen. Der wichtigste Unterschied zu damals ist der, dass – Stichwort „Kapitalozän“ – multinationale Konzerne ganz massiv dazu beigetragen haben, den menschengemachten Klimawandel so weit zu verschärfen, dass er die Stabilität unserer Zivilisationen gefährdet und mit ihr den materiellen Wohlstand, den die Industrialisierung nach sich zog. Der Guardian berichtete vor drei Wochen, dass ein Drittel aller Treibhausgase von nur 20 Firmen verursacht wird.

Wir haben es mit ganz ähnlichen Kräften wie damals zu tun. Freilich agieren sie inzwischen global und im Verbund. Mit ihrer Unterstützung konnten Charaktere wie Putin, Trump und Bolsonaro an die Macht kommen und den Raubbau an unserem Planeten dramatisch verschärfen.

Apokalyptischer Aktivismus – geht sowas?

Steinbecks Buch sorgte mit seinen erschütternden Beschreibungen für großes Aufsehen. Er bekam den Pulitzer-Preis, aber er wurde auch massiv angefeindet. Zur Beschreibung tritt aber auch die Deutung: Der Titel und der oben zitierte Abschnitt greifen auf apokalyptische Texte der Bibel zurück. Das „Ungeheuer“ entspricht den Tiergestalten in den Visionen des Danielbuchs und der Johannesoffenbarung. Aus letzterer entlehnt Steinbeck auch den Titel. Der Zorn gilt der Ungerechtigkeit in der Welt, die nicht unbegrenzt zunehmen und fortbestehen darf, weil sie sonst alles zerstört. Die Dust Bowl der Dreißiger ist nur ein kleines Vorspiel dessen, was uns global bevorsteht, selbst wenn wir jetzt energisch handeln.

Roosevelts New Deal und die Sozialstaaten der Nachkriegsära haben Steinbecks Monster einige Jahrzehnte lang wirksam im Zaum gehalten. Dass wir es heute wieder mit ihnen zu tun haben, liegt bekanntlich daran, dass der Neoliberalismus seit den Achtzigern wieder Privatisierung, Deregulierung, Steuersenkung und Kürzung von Sozialleistungen erfolgreich propagiert hat.

Ob es uns Heutigen gelingt, national und global einen „Green New Deal“ zu erreichen, der das größte Chaos noch verhindert, ist eine offene Frage. Die geopolitischen Umbrüche, während derer die die biblische Apokalyptik entstand und die sie mit ihren alarmierenden Bildern beschreibt, sind ja vergleichsweise klein gegen die Risiken, mit denen wir es zu tun haben. Vielleicht erklärt das die verbreitete Passivität – die Monster wirken einfach zu groß.

Besser zornig als untätig

Zorn ist auf jeden Fall eine bessere Reaktion auf die Ungeheuer dieser Zeit, als vor deren Größe und Rücksichtslosigkeit zu kapitulieren oder sie als quasi-göttliche Heilsbringer zu feiern. Zorn schafft Distanz und mobilisiert Energien, wenn zwischenmenschliche Grenzen verletzt werden. Ohne Zorn hätte Steinbeck nicht so brillant geschrieben. Ohne Zorn hätte Greta Thunberg die Staats- und Regierungschefs beim Klimagipfel in New York nicht so vehement gefragt, wie sie es bloß wagen können, so untätig zu bleiben. Wann sie endlich die Verantwortung übernehmen für die Banken, Maschinen, Kommissionen, Prozesse und Produkte, die die Erde unbewohnbar zu machen drohen.

Beim Stichwort Zorn könnte man auch an den Hirten David aus der Bibel denken. Zufall oder nicht – auch die eben erschienene dritte Staffel der Amazon-Serie „Goliath“ spielt im kalifornischen Central Valley. Dort geht es um schwindendes Grundwasser, Gier und Verzweiflung, finstere Verstrickungen. Und ein paar Zornige, Trotzige und Verrückte wie Billy McBride, die einfach nicht aufhören, dem Monster Widerstand zu leisten und dabei Kopf und Kragen riskieren.

Ob da eine Botschaft an die Zuschauer drin steckt?

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Ist Freundschaft uns Wurst?

„Gemüse vom Grill? Und ich dachte, wir sind Freunde!“ So steht es auf einem Plakat, das nicht etwa für eine Metzgerei, sondern für Zigaretten wirbt. Und ich wundere mich: Liebe Raucher, wo ist denn Eure Lässigkeit geblieben? Früher wart Ihr mal entspannt (oder habt so getan); und jetzt geht’s anscheinend immer und überall gleich um die Wurst?

Was ist bloß mit uns passiert, wenn Freundschaften nur noch fleischbasiert funktionieren oder – das wäre der Umkehrschluss, den mir das Plakat unterjubeln möchte – auf der Grundlage gemeinsam genossenen Gemüses? Das antiquierte „Bratkartoffelverhältnis“ wäre auf dem Weg zu ganz neuer Relevanz!

Photo by Bruno Kelzer on Unsplash

Wie viele Gemeinsamkeiten braucht eine Freundschaft? Wie viele Unterschiede halte ich selber aus, bis ich jemanden „entfreunde“, ihr oder ihm aus dem Weg gehe, mich nicht mehr melde? Können wir Differenzen nicht mehr so gut aushalten wie früher oder wollen wir uns die Mühe einfach nicht mehr machen? Freundschaft unter Vorbehalt braucht kein Mensch.

„Liebe Deinen Nächsten“, so lautet die Zumutung Gottes an mich. Nächste, nicht Gleichgesinnte: Diese eine Person, mit der ich es hier und jetzt zu tun habe. Auch wenn uns kulturelle und kulinarische Welten trennen. Dabei auf die Liebe zu setzen – freundlich, zuvorkommend, großzügig und verletzlich zu bleiben – birgt eine Gewinnchance: Sie könnte erwidert werden. 

Und dann wäre es ganz egal, dass heute Gemüse auf den Tisch kommt, an dem ich geliebter Gast bin.

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Tonis Tattoo

Im Radio höre ich ein Interview mit dem Fußballer Toni Kroos. Das Gespräch kommt irgendwann auf die vielen Tätowierungen an seinem Körper. Kroos erklärt, dass er sich für jedes seiner Kinder ein Tattoo stechen ließ. Für das nächste sei auch schon ein Platz vorgesehen.

Photo by Julia Giacomini on Unsplash

Ich bin jetzt nicht so der Tattoo-Typ, aber die Geschichte geht mir aus einem anderen Grund nach: Manchmal fühlen sich Menschen von Gott vergessen, wenn sie schwere Zeiten durchmachen. In eine solche Situation hinein spricht Gott in der Bibel einmal folgenden Satz:

Kann Mutter ihr Kind vergessen? Und selbst wenn sie es vergessen würde: ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.

Jesaja 49,15

Anders gesagt: Auch Gott trägt Tattoos mit den Namen/Gesichtern der Seinen. Er kann das nicht einfach abstreifen oder ausradieren. Wir stellen uns Gott ja eher körperlos vor, aber in der Bibel ist immer wieder von seinen Händen, seinem Arm oder seinem Gesicht die Rede. Ein Gott also, der zupackt. Der hinschaut. Und der nicht schweigt.

Was für eine gewagte Vorstellung: Wie eine Mutter nicht aufhört, ihre Kinder mit sich herumzutragen, bloß weil die inzwischen selber laufen können oder ausgezogen sind, so trägt Gott uns mit sich herum – eintätowiert in seine Schöpferhände.

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Samstags bin ich Superman

Kürzlich hatte ich wieder einmal das Missvergnügen, mehrere Stunden auf deutschen Autobahnen unterwegs zu sein. Ein paar Tage nachdem der Bundestag den Antrag auf ein generelles Tempolimit mit breiter Mehrheit abgelehnt hatte, obwohl Umfragen zufolge eine klare Mehrheit von 57% der Bürger dafür ist. Die 498 Abgeordneten, die gegen die Mehrheit ihrer Wähler*innen stimmten, gehören einer geschlossenen Autofront an, die von der SPD über Union und FDP bis hin zur AFD reicht. Ein Tempolimit würde zwar drei Millionen Tonnen CO2 einsparen. Aber was zählen schon Vernunft und Wählerstimmen, wenn man darüber die Großspender vergrault?

Der Umwelt und der Sicherheit wegen war ich also mit etwa 130 Sachen unterwegs. Es war Samstag Abend, Geschäftsreisende und Wochenendpendler waren schon zuhause. Die LKWs wurden weniger, aber die Zahl derer, die mit 180 und mehr dahinbrettern, nahm spürbar zu. Der „ganz normale Wahnsinn“ eigentlich, nur dass er nicht von allen als Wahnsinn erkannt wird, weil wir – das gehört beim Wahn ja dazu – etwas für „normal“ halten, was es so in keinem anderen Land weit und breit gibt.

Der Deutsche rast, weil er kann

Termindruck dürfte kaum ein Grund für die Eile sein. Mein Eindruck war, der Deutsche rast schlicht und einfach, weil er kann. Und wenn diese Freiheit, durch das Vorhandensein anderer Fahrzeuge in Frage gestellt wird, drängelt er (es ist fast immer ein er) sich den Weg eben frei, indem er andere nötigt und gefährdet. Irgendwann hörte ich auf, die Szenen zu zählen, in denen (mehrheitlich dunkle) Audis, BMW und Mercedes dem Pöbel in seinen Kleinwagen ein ums andere Mal Lektionen erteilten, die allesamt lauteten: »Egal, wie langsam rechts der Verkehr läuft, die Überholspur befährst du nur unter Lebensgefahr«. Die bewusst martialisch gestylten Kühlergrills der SUVs und Oberklasse-Kombis schreien dir diese Botschaft schon auf hundert Meter Abstand förmlich in den Rückspiegel.

Photo by Blake Barlow on Unsplash

Ich musste an Marshall McLuhan denken, der schrieb: „The car is … an extension of man that turns the rider into a Superman“. Die plumpeste Couch Potato kann sich auf der Autobahn irgendwie „sportlich“ fühlen, genügend PS vorausgesetzt. Das alleine wäre vielleicht nur unfreiwillig komisch. Aber McLuhan, der das Auto auch als „Mechanical Bride“ bezeichnet, sah noch mehr und andere Auswirkungen der überbordenden Automobilität. Das Auto hat alle Räume, die Menschen verbinden oder trennen, neu arrangiert. Das hat Folgen:

… nobody seemed to notice that emotionally the violence of millions of cars in our streets was imcomparably more hysterical than anything that could ever be printed. […] Are people really expected to internalize – live with – all this power and explosive violence without processing and siphoning it off into some form of fantasy for compensation and balance?

Eine automobile Welt ist eine aggressive, gewaltsame Welt. Und diese erlebte und verübte Gewalt bleibt nicht ohne Folgen für die Menschen. Dann schreibt er weiter:

Strangely, in so progressive an age, when change has become the only constant in our lives, we never ask „Is the car here to stay?“ The answer, of course, is „No.“ […]

At the heart of the car industry, there are men who know that the car is passing, as certainly as the cuspidor was doomed when the lady typist arrived on the business scene. What arrangements have they made to ease the automobile industry off the center of the stage?

Marshall McLuhan, Understanding Media, erschienen im Jahr 1964 (!)

Angst und „Krieg“: Können wir nicht mehr aussteigen?

55 Jahre später, womöglich etwas langsamer, als McLuhan dachte, erfüllen sich seine Ankündigungen. In einer Welt rasender Veränderung darf sich nur das Rasen nicht verändern. Es weist alle Qualitäten eines Fetisch auf, der etwas längst verloren Gegangenes irgendwie noch gegenwärtig erscheinen lässt. So wird ein Schuh aus der Tempolimitverhinderung: Denn wenn unsere Landsleute auf internationale Normalgeschwindigkeit eingebremst würden, dann könnte all die unverrichtete Trauer über das, was wir schon längst verloren haben, mit einem Schlag über uns hereinbrechen. Droht also eine echte Identitätskrise, wenn das Rasen ein Ende hat?

Manche politischen Akteure scheinen das zu befürchten, wenn Sie den Befürworter*innen der Verkehrswende vorwerfen, einen „Krieg gegen das Auto“ zu führen. Wir kennen das vom „Krieg gegen die Kohle“: Politiker, die diese Phrase verwenden, spielen den Anwalt „der kleinen Leute“ und einfachen Menschen. Sie werden allerdings (in den USA gut zu sehen) von Milliardären wie den Koch-Brüdern dafür belohnt und unterstützt. Und so lesen sich McLuhans Sätze aus den Sechzigern wie Prophezeiungen, die gerade in Erfüllung gehen. Wie aber schützt man sich vor dem Grauen, das immer mehr ans Bewusstsein drängt? Zum Beispiel, indem man ein SUV kauft. Vor ein paar Wochen las ich in der taz:

Das SUV, das sind wir. Niemand kauft ein solches Monstrum wider besseres Wissen. Er kauft es, eben weil er über den Krieg auf den Straßen – und nicht nur dort – informiert ist, buchstäblich nicht unter die Räder kommen will.

… [es ist ein] dystopisches Fluchtfahrzeug. Wenn dereinst alles zusammenbricht, dann kann ich damit querfeldein den Abflug machen. Notfalls … auch über Leichen. Es ist in seiner aggressiven Defensivität das Fahrzeug der Stunde.

… Spätestens hier wird klar, was das Ding eigentlich soll. Es ist nicht unmenschlich, sondern allzu menschlich. Wir wollen das, wir brauchen es. Es reinigt die von uns verpestete Außenluft, sobald sie zur Innenluft wird …
Es schützt uns vor einer allzu … gefährlichen Welt, wobei es die Welt noch gefährlicher macht, wovor es uns aber schützt. Denn wir sitzen hoch droben. Das zentralverriegelte SUV ist die Lösung für alle sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme unseres Jahrhunderts.
Und deswegen können wir nicht mehr aussteigen.

Arno Frank in der taz

Keine zehn Jahre nach McLuhans vorausschauenden Worten spielte sich eine Episode ab, an die ich in diesen Tagen öfter denken musste: Autofreie Sonntage im Zuge der Ölkrise 1973. Menschen fingen an, über die Grenzen des Wachstums nachzudenken. Wir machten als Familie einen Spaziergang über die Umgehungsstraße unseres Dorfes, auf der sonst in unschöner Regelmäßigkeit Menschen tödlich verunglückten. Leider blieb es nur eine Episode. Und die Autos von damals erscheinen heute lächerlich klein und zerbrechlich.

Vom Gas gehen

Mit oder ohne Zwang: Vielleicht täten uns solche Pausen gut. Aussicht auf Erfolg besteht allerdings wohl nur da, wo sie nicht zum Anlass für rechtes Kriegsgeschrei genommen werde, sondern als Chance, mal nach unseren dauernden unterschwelligen Angstzuständen zu fragen, über das zu trauern, was schon längst verloren und vorbei ist: Die Zeiten nämlich, als wir nach Herzenslust konsumieren und emittieren konnten, ohne von den globalen Auswirkungen dieses Lebens eingeholt zu werden.

Am großen Klima-Freitag Ende September fand in Nürnberg eine „Critical Mass“ statt. Am Treffpunkt des Fahrradpulks stöckelte eine Dame mittleren Alters auf und ab und begann, einzelne Radfahrer persönlich zu beschimpfen. Sie benutzte eine nicht nur in rechten Kreisen beliebte Argumentationsfigur: Wer auch nur irgendein Kleidungsstück aus Kunstfaser trug, den stellte sie als Heuchler und Lügner hin, der kein Recht habe, Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen zu üben. Irgendetwas an dieser bunten, friedlichen Fahrradtruppe hatte sie offenbar maßlos provoziert.

Immer wieder mal wird ja den Aktivisten die Schuld an solchen Gegenreaktionen angehängt. Und freilich gibt es klügere und weniger kluge Formen des Protestes. Trotzdem – wer sich an diesen Zuweisungen beteiligt, verwechselt meines Erachtens Ursache und Auslöser: Keine(r) der Anwesenden hatte dieser Frau etwas getan. Die Selbstgerechtigkeit, die sie uns so erbittert vorwarf, war ihre höchst eigene Bewältigungsstrategie – für eine Welt, die sich bedrohlich verändert hat, wenn man mal die Autotür öffnet.

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Das Gute und die Zeit – Erntedankgedanken

Heute wurde fast überall Erntedank gefeiert. Die Früchte, die wir ernten und von denen wir leben, brauchen neben Wasser, Luft, Sonne und Boden noch eins, um zu Wachsen: Zeit. Im Buch Kohelet heißt es:

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: … eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen.

Von meinem Büro aus kann ich einen Kastanienbaum sehen. Schon vor zwei Wochen standen Kinder darunter und wollten die unreifen Kastanien „ernten“. Weil die aber nicht von selbst herabfielen, warfen sie Stöcke hinaus und rissen Zweige ab – mit bescheidenem Erfolg. Inzwischen fallen die reifen Kastanien ganz von selbst herunter. Die Erfahrung zeigt: Wer keine Zeit zu Warten hat, braucht mehr Energie und bekommt schlechtere Resultate.

Diese Woche berichtete der BR, dass Unterfranken dieses Jahr die kürzeste Weinlese aller Zeiten erlebt hat. Die Winzer stellte das vor große Probleme, sie hatten statt früher sechs bis acht nur noch zwei Wochen Zeit. Die Zeit fehlt. Es hat sich etwas beschleunigt. Oder besser: Wir haben es beschleunigt.

Vor ein paar Wochen sprach ich mit einem alten Bauern, einer vom ganz alten Schlag. Er sagte, das Gras, das er gerade geschnitten hatte, müsse ein paar Tage liegen, bis er es an die Kühe verfüttern kann. Viele Kollegen haben ein Silo, da ist das Gras dann nach 24 Stunden schon „fertig“. Allerdings sind auch die Kühe, die es fressen müssen, auch nach fünfeinhalb Jahren „fertig“, während seine mehr als doppelt so lange leben.

Massentierhaltung, synthetisches Fertigessen, ungesundes Fast Food, das sind nur ein paar Symptome der Beschleunigungsgesellschaft, die nicht mehr warten will, bis die Zeit da ist. Zeit, die Dinge brauchen, um gut zu wachsen. Durch Importe aus fernen Ländern oder vollklimatisierte Aufzucht ist nun das ganze Jahr über Erdbeerzeit (oder auf welches Obst auch immer sonst ich gerade Appetit verspüre). Man könnte freilich auch sagen: Wenn immer Zeit ist für alles, ist keine Zeit mehr für irgendwas.

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Gerade wird wieder über ein Tempolimit auf Autobahnen gestritten, als handele sich es um ein allgemeines Menschenrecht, mit 200 über den Asphalt zu brettern. Aber Zeit ist schließlich Geld, oder?

Doch der Preis, den wir dafür tatsächlich bezahlen (oder den wir anderen aufbürden) ist einfach zu hoch. Beim Energieverbrauch, bei der Reinhaltung des Grundwassers, bei der Qualität und Art des Essens, bei der Mobilität – überall muss sich etwas ändern. Diese Veränderung kostet wieder: Zeit. Und weil wir sie so lange vor uns her geschoben haben, wird es jetzt mehr Zeit kosten, bis wir Gutes ernten:

Eine Zeit, Probleme zu verstehen, und eine Zeit, sie zu lösen,
eine Zeit, Gewohntes zu verlernen, und eine Zeit, uns in Neues einzuüben,
eine Zeit, über Verluste zu trauern, und eine Zeit, sich über Geglücktes zu freuen
eine Zeit, Experimente zu machen, und eine Zeit, ihre Wirkungen auszuwerten
eine Zeit, die Zerstörung zu bekämpfen, und eine Zeit, wieder Hoffnung zu schöpfen.

Lasst uns das Warten auf die rechte Zeit wieder üben. Das ist so ziemlich das einzige, was keinen Aufschub duldet.

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Greta und der Regenbogen: Bibel, Borniertheit und Weltpolitik

Greta Thunberg hat mit ihrer nachdrücklichen, konfrontativen How-dare-you-Rede vor den Vereinten Nationen am Montag letzter Woche ordentlich Staub aufgewirbelt. Unter den vielen Reaktionen fand sich auch ein US-Geistlicher, der zu Donald Trumps Umfeld gehört, Robert Jefress von den Southern Baptists. Der gab im Fernsehen zu Protokoll, Greta solle sich halt einen Regenbogen anschauen, wenn sie sich Sorgen wegen des Klimas macht. Das Wetterphänomen beweise doch, dass Gott die Katastrophe schon noch verhindern werde.

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Da wird also mit Bibelsprüchen Weltpolitik in ihrer brachialsten Form begründet. Mich erinnerte das an einen Kommentar, den ich hier vor vier Jahren auf einen Blogpost zur Klimakrise bekam, und der mit Links zu allerlei irreführenden, unseriösen „Studien“ garniert war:

Zudem solltest Du, der Du ja behauptest Christ zu sein, wissen, dass Gott folgendes versprochen hat: 1Mo 8,22 Von nun an soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht, solange die Erde besteht! Da Gott versprochen hat, dass keine weltweite Flut mehr kommen soll und das die Jahreszeiten, die nach der Flut aktiviert wurden, bis zum Ende der Welt bleiben, brauchen wir uns durch so falsche Klimaapostel nicht aus dem Konzept bringen lassen, die durch ihre angeblichen Forschungsergebnisse Millionen verdienen.

Das Spannende ist ja nun, dass es tatsächlich eine historische Verbindung zwischen Sintflut und Klimawandel geben könnte. Als der Meeresspiegel nach der letzten Eiszeit wieder angestiegen war, durchbrachen die Fluten irgendwann den Bosporus und ergossen sich ins Schwarze Meer. Auf dessen Grund fand man Spuren eines früheren Küstenverlaufs. Gut möglich, dass manche der vielen Sintflut-Erzählungen der alten Welt auf so eine vorgeschichtliche Erinnerung zurückgehen: Schmelzende Gletscher, steigende Meere, versinkende Landstriche. Freilich damals ohne menschliche Verursacher, wohl aber mit menschlichen Opfern.

Die altorientalischen Erzähler konnten noch verschiedene Götter für das Hereinbrechen der Katastrophe und der Rettung der Menschheit verantwortlich machen. Israels Nach- und Neuerzählung muss den Zwiespalt von Zorn und Barmherzigkeit innerhalb des einen Gottes ansiedeln und dort lösen. Folglich liegt die Pointe der biblischen Sintflutgeschichte am Ende, im Gottesbild: Gott beschließt, den Hang der Menschen zum Bösen künftig nicht mit Gewalt zu bekämpfen. Die Liebe zu seinen Geschöpfen – Menschen und Tieren, das ist ja wichtig angesichts des sechsten Artensterbens im Anthropozän – behält die Oberhand.

Überhaupt nicht am Horizont der alten Welt erschien jedoch die Möglichkeit, dass Menschen die Zyklen des Klimas und der Jahreszeiten aus dem Takt bringen und sich selbst so massiv gefährden könnten, wie wir das tun. Folglich spielt das auch in Gottes Zusage, dass Saat und Ernte, Frost und Hitze nicht aufhören, keine Rolle. Aber genau das geschieht im Augenblick!

Ein anderer „Regenbogen“ – der globale Temperaturverlauf seit 1850 visualisiert

Und es wäre nun fatal, diesen Satz aus seinem Kontext (der Fürsorge des Gottes, der das Leben und die Geschöpfe liebt) zu lösen, um menschliches Versagen bei der Fürsorge für Mitmenschen und Mitgeschöpfe zu verharmlosen und für dessen drohende, inzwischen allenthalben spür- und nachweisbaren Wirkungen eine wundersame Lösung zu postulieren. Weder eine übernatürliches Eingreifen noch eine technokratische Wundermaschine werden uns den Gefallen tun.

Wie trügerisch eine solch falsche Sorglosigkeit sein konnte, hatte Israel im babylonischen Exil erlebt. Zuvor hatte es Stimmen in Jerusalem gegeben, die dem Volk einredeten, die Stadt Gottes sei uneinnehmbar. Aber die falschen Propheten behielten nicht recht. So wie diejenigen heute auch nicht Recht behalten, die uns weismachen wollen, wir könnten sorglos fossile Energieträger verfeuern, ohne Tempolimit durch Land und Lüfte düsen, den Regenwald abfackeln und so weiter. Diese Analogie sollte uns beschäftigen. Damals gab es ein „zu spät“. Jeremia wusste das und sprach darüber. Robert Jefress hingegen steht auf der Seite der falschen Propheten, die ohne jegliche innere und äußere Substanz vom Frieden faselten.

Wenn am Erntedankfest diesen Sonntag in vielen Kirchen wieder von Gottes Verlässlichkeit in den Rhythmen der Natur die Rede ist, dann sollte uns das dazu bewegen, uns zusammen mit ihm auf die Seite der bedrohten, seufzenden Kreatur zu stellen. Und seine Verheißung nicht als Freibrief für ein ignorantes oder auch nur halbherziges, abgeschmacktes „Weiter so“ zu missdeuten.

In der biblischen Erzählung von der großen Flut tut Gott etwas Bemerkenswertes, auch für biblischen Verhältnisse. Er bereut – gleich zweimal. Zu Beginn reut es ihn, die Menschen geschaffen zu haben, die seine Erde verderben. Am Ende denkt er erneut um und verwirft die Strategie der Vernichtung.

Wenn Gott das zweimal innerhalb weniger Monate kann, dann könnten wir es doch wenigstens einmal ernsthaft versuchen…?

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Columbas Küste

Kintyre im Westen Schottlands ist eine Ecke, an der die ganz großen Touristenströme vorbei fließen. Um so größer mein Staunen, als ich diesen Sommer entdeckte, dass es dort nicht nur prähistorische Steinkreise zu besichtigen gibt, sondern auch Spuren der frühen iroschottischen Kirchengeschichte.

Mull of Kintyre

Besonders hängen geblieben sind bei der Gelegenheit die Orte, an denen St. Columba (oder Columcille) der Gründer des Klosters von Iona genannt wird. Der südlichste davon liegt unweit des Mull of Kintyre und damit, selbst bei mittelprächtigem Wetter, in Sichtweite der irischen Küste: Keil Caves und St. Columba’s Footprints. Wenn jemand von Ulster aus übersetzt, dann ist das tatsächlich ein geeigneter Ort, um an Land zu gehen.

Ein ganzes Stück weiter nördlich, bei Ellary am Loch Caolisport, liegt St. Columba’s Cave. Auf dem Weg von Tarbert dorthin kommt man in Kilberry vorbei und kann dort ein paar alte Steinkreuze und Grabplatten mit keltischen Ornamenten besichtigen.

Die Spur führt weiter nach Norden, ins Zentrum des Königreichs Dal Riata, auf dem Burgfelsen von Dunadd. Columba stammte aus dem Adelsgeschlecht der Ui Neill, und hier regierten Verwandte. In den Ruinen der Burg findet sich wieder ein Fußabdruck. Man vermutet, dass Könige den Fuß zur Einsetzung in ihr Amt dort hineinstellten. Und von Columba ist bekannt, dass er bei Krönungszeremonien mitwirkte.

Von Dunadd aus sind es nur noch wenige Meilen zu den uralten Steinkreisen im Tal von Kilmichael. Das nahegelegene Museum lockt mit einem Coffeeshop und einer informativen Ausstellung zur wechselhaften Geschichte dieses Landstrichs. Und wenn man sich an der Mündung des malerischen Crinan Canal einschifft, dann ist Iona schon nicht mehr weit mit seiner Abbey (übrigens ab Juni 2020 wieder offen für Gäste) und den Königsgräbern.

Es war für mich ein unerwarteter Pilgerweg. Wer es gern still mag, ist hier gut aufgehoben.

Kilmartin

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Das ist doch nicht normal!

Feierabend. Ich radle flott durch die Innenstadt nach Hause. Ein weißer BMW parkt mitten auf dem Radweg und zwingt mich zu einer Vollbremsung. Ich weiche lieber nicht auf die Fahrbahn aus, sondern zwänge mich vorsichtig auf dem Fußweg vorbei. Der Fahrer sitzt im Wagen, das Fenster ist offen. Ich spreche ihn an und bitte ihn freundlich, sich einen anderen Parkplatz zu suchen.

Photo by AbsolutVision on Unsplash

Statt sich zu entschuldigen, wird der Mann am Steuer wütend. „Das ist doch nicht normal!“ schreit er mir von seinem Sportsitz entgegen, und dass er ja sowieso nur kurz… Ich habe keine Lust, mit ihm zu streiten. Offenbar ist es für ihn normal, Radwege als Parkstreifen zu nutzen. Für andere ist es normal, den Hund sein Häufchen in den Park setzen zu lassen, Zigarettenkippen am Bahnhof ins Gleisbett zu schnippen oder sexistische Sprüche zu klopfen.

Unsere Normalität kann ziemlich problematisch sein. Deshalb ändern sich manchmal die Regeln. Privilegien fallen weg. „Normal“ ist plötzlich nicht mehr normal. 

Was gilt noch, wenn sich alles ändert? Die „goldene Regel“ aus der Bibel hilft mir: Gehe mit anderen so um, wie du es dir selber auch wünschst. Wenn ich mich in andere, vor allem Schwächere, hineinversetze – Fußgänger, Kinder, Fremde, alte Menschen – dann werde ich Rücksichtslosigkeit auch da nicht „normal“ finden, wo die Gesellschaft noch ein Auge zudrückt.

Wer’s lieber hört, kommt hier auf seine Kosten

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Eines schönen Tages

Es hat ein bisschen gedauert, mich in Stings Album 57th and 9th hinein zu hören. Der Titel „One Fine Day“ passt perfekt in die Woche des globalen Klimastreiks, weil er die ganze Ambivalenz der öffentlichen Debatte anspricht.

Da spricht die Skepsis der Historiker, ob man der Menschheit zutrauen kann, sich gegen kurzfristige Bequemlichkeit und für nachhaltiges Leben und Wirtschaften zu entscheiden („Histories say we’re doomed to make the same mistakes again“), und die Optimisten, die versuchen, düstere Ausblicke zu relativieren. Und dann folgt das Mantra der Vielen: Ich kann mich nicht entscheiden, mich einer Seite anzuschließen.

Es folgen Debatten-Schnipsel der Klima-Apologetiker („Wetter hat sich schon immer geändert“), der Widerspruch der Wissenschaftler („Wir haben die Regelkreise gestört“) und dann der – zaghafte? hilflose? lauwarme? – Appell an die politischen Verantwortungsträger:

„Dear leaders, please do something quick. Time is up, the planet’s sick.“ Mit einem ironisch nachklappenden „But hey, we’ll all be grateful one fine day“

One fine day – eines schönen Tages, werden wir wissen, was Sache war und wer Recht hatte. Aber dann ist es zu spät, um noch etwas zu ändern. Die Anzeichen dafür, dass der Klimawandel schneller kommt und heftiger ausfällt als bislang prognostiziert („Three penguins and a bear got drowned. The ice they lived on disappeared. Seems things are worse than some had feared“) werden ähnlich halbherzig kolportiert. Und überhaupt: Wer weiß denn schon, was wir noch alles entdecken?

Sting fragt, wie wir uns entscheiden sollen. Kopf und Herz erscheinen hier als gegenläufige Pole:

So do you trust your head or heart
When things all seem to fall apart?

Für mich sind Rationalität und Empathie keine Gegensätze. Es wäre interessant, mit Sting ins Gespräch zu kommen, wie er das meint. Er führt das nicht aus, vielmehr kippt der Text (vordergründig) ins Absurde. Extreme Wetterphänomene werden wie ein Zauberkunststück bestaunt, ihre schnelle Abfolge hält alle in Atem. Aber mit dem Hinweis auf biblische Plagen spielt Sting (hintergründig) auch auf eine andere Dimension der Ereignisse an – nämlich die des drohenden Gerichts und menschlicher Verstockung. Ein Zustand, in dem nicht mehr zu unterscheiden ist, ob es noch Unwilligkeit oder schon Unfähigkeit ist, angemessen auf die Wirklichkeit zu reagieren. Oder anders gefragt, ob wir uns schon so effektiv immunisiert haben gegen die Einsicht, wie ernst die Lage ist, die wir heraufbeschworen haben:

Today it’s raining dogs and cats
Rabbits jumping out of hats
And now what’s got us all agog
Tomorrow it’s a plague of frogs
We must do something quick or die
When snakes can talk and pigs will fly

Aber hey, bis wir eines Tages wissen, wie das Ganze ausgeht, wird der absurde Eiertanz der Unentschlossenheit erst mal weitergehen.

Ist Sting also ein Pessimist? Oder will er uns mit einer Ladung Sarkasmus aufrütteln? Doch wer macht sich überhaupt die Mühe, den vordergründig unbeschwert-fröhlichen Song zu verstehen?

Oder, um es biblisch auszudrücken: „Wer Ohren hat, der höre!“

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