Ab und zu gibt es diese Gespräche über das Bibelverständnis, die mich ratlos zurücklassen angesichts der Kluft, die zu überbrücken ist. Kürzlich erklärte mir mein Gegenüber, im Buch Hiob seien an einigen Stellen Erkenntnisse vorweggenommen, für die die Wissenschaft erst in den letzten Jahren den Beweis erbracht hat. Es ging um Quellen in der Tiefsee und Sternbilder, die auseinanderdriften. Das sei doch ein klarer Beweis für die göttliche Inspiration der Schrift.
Ich antwortete, dass die Tiefseequellen dem dreistöckigen Weltbild mit Erde, Himmelsgewölbe und Wasser auf allen Seiten entsprechen, das wir in Genesis 1 finden. Klar speist sich das Meer da auch von unten. Wir sprachen auch noch kurz und ergebnislos über Astronomie, dann wurden wir unterbrochen.
Das funktioniert ohnehin nur unter zwei Bedingungen: Erstens muss der geschichtlich-kontextuelle Charakter biblischer Texte ausgeblendet werden, da es ja um vermeintlich zeitlose, absolute Wahrheiten geht. Zweitens lassen sich solche Übereinstimmungen immer nur punktuell finden. Sie dienen dann dazu, die Differenzen und Widersprüche an anderen Stellen zu negieren. Nach dem Motto: Irgendwann wird die Wissenschaft auch da noch ihre Meinung ändern und die Wahrheit anerkennen, die wir schon haben. Oder auch: Der naive Bibelleser, der alles wortwörtlich nimmt, ist klüger als alle Professoren dieser Welt. Dieses Überlegenheitsgefühl hat schon seinen trotzigen Reiz.
Aber was wäre das eigentlich für ein Gott, der zu den damaligen Menschen nicht so redet, wie sie es verstehen, sondern ihnen Botschaften schickt, die erst zweieinhalbtausend Jahre später einen Sinn ergeben?
Was ich zum Thema „Irrtumslosigkeit“ der Schrift denke, habe ich hier vor einer ganzen Weile schon festgehalten. In diesem Gespräch blieb die Differenz stehen, die Diskussion ging nur in meinen Gedanken noch weiter. Ich fürchte, dass die eigentliche Botschaft biblischer Texte – Gottes Zuneigung zu seiner Schöpfung in Genesis 1 oder bei Hiob das Rätsel menschlichen Leides und göttlicher Macht – bei der Suche nach solchen absoluten Wahrheiten und der Bestätigung eines fixen Dogmas in den Hintergrund rückt und gar nicht mehr richtig im Herzen des Bibellesers ankommt.
Dann wären die tiefen Quellen für den Glauben verschüttet. Denn die Bibel ist nicht die finale Beschreibung all dessen, was es objektiv über die Welt zu sagen gibt. Sie konkurriert nicht mit den Naturwissenschaften. Sondern sie erzählt eine Geschichte so subjektiver Dinge wie Ungewissheit und Vertrauen, Streit und Versöhnung, Sehnsucht und Freiheit.
Lutheraner sind unter den Kirchen der Ökumene nicht als große Asketen bekannt. Andere mögen heftig fasten und büßen, wir scheuen eher den Verdacht der Werkgerechtigkeit oder den Vorwurf einer zur Schau gestellten Frömmigkeit. Und verzichten ganz demütig (freilich keineswegs demonstrativ!) aufs Verzichten.
Wobei – nicht ganz. Denn vor allem, wenn Altar und Kanzel lila tragen, während der Advents- und Passionszeit, verzichten wir auf das österlich-frivole Halleluja. Und das ist – überschwänglich und ausgelassen wie wir nun mal sind – wirklich verdammt hart für den gewöhnlichen Lutheraner, sich den Jubel über Wochen hinweg zu verkneifen.
Wir wissen eben, was wirklich weh tut: Dieses kleine Wort zu verschweigen.
Aber nicht nur uns selbst gegenüber sind wir streng, sondern auch gegenüber Gott. Der ist ja der Adressat des entfallenden Halleluja. Ich frage mich manchmal, wie es ihm damit geht, dass wir auch mit auf seine Kosten fasten. Oder ob er sich still und heimlich ein bisschen amüsiert über unsere beeindruckende Enthaltsamkeit?
Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg brachte mich gestern zum längeren Nachdenken. Worum geht es da eigentlich? Gleicher Lohn für gleiche Leistung ist ja auch heute ein Thema, das völlig zu Recht für Diskussionen sorgt. Das wäre trotzdem eine eher vordergründige Betrachtungsweise.
Ich habe mich gefragt, was das Gleichnis für den Gemeindeaufbau bedeutet. Da ist es ja oft genug so, dass die Arbeiter der ersten Stunde alle Schlüsselpositionen besetzen. Wer dann später dazustößt (weil er/sie jünger ist, neu zugezogen, oder bisher mit anderen Dingen befasst war), muss sich einfügen und hat geringere Spielräume. Die „Kerngemeinde“ hat das Sagen, die anderen müssen mit den Vorlieb nehmen, was an Zeit, Kraft, Geld und Gestaltungsspielraum übrig bleibt. Als gäbe es einen Frühbucherrabatt (bzw. -bonus), mit dem man sich die besten Plätze sichern könnte.
Und nun kommt Jesus daher mit einer Geschichte, in der Frühbucherbonus auf den Kopf gestellt wird. Die neu dazu kommen, haben genauso viel zu melden wie die alten Hasen. Verständlich, dass letztere verschnupft reagieren. War der ganze Stress umsonst?
Kirche ist keine Meritokratie
Was sie freilich nicht sehen (der Winzer allerdings schon), ist, dass die Kerntruppe viel zu klein ist, um die Lese auf dem Weinberg zu stemmen. Also nimmt er, wen er kriegen kann und zahlt den Neuen einen absurd großzügigen Lohn. Weil er will, dass sie bleiben. Weil ihre Familien genauso hungrig sind wie die der anderen. Weil er nicht Leistung bezahlt, auch nicht Zeit, sondern Menschen an sich bindet.
Wie wäre das: Kirche, in der die Newcomer sich nicht erst das Recht verdienen müssen, gehört zu werden. Die jeden, der neu mit anpackt, freudig aufnimmt. Die nicht Buch führt über Verdienste sondern fragt, was jeder braucht, um gut arbeiten zu können. In der keine Besitzstände gewahrt werden, weil dafür angesichts der vielen Arbeit, die vor uns liegt, einfach keine Zeit ist. In der die Neuen ihren Musikgeschmack, ihren Arbeitsstil, ihre Prägung und ihre Ideen ebenso selbstverständlich einbringen können wie die, die seit Jahr und Tag schon in dem Laden aktiv sind: Kirche ist keine Meritokratie, auch keine Meritokratie der Treuen und Beständigen. Und „das war schon immer so“ ist einfach nur die Vermeidung eines guten Arguments.
Ich bin ja selbst gerade einer dieser Neuen. Als Pfarrer ist das freilich noch einmal etwas ganz anderes als für „normale“ Gemeindeglieder. Ich kann, darf und muss vieles mitbestimmen. Meine Fragen und Vorschläge werden nicht so schnell vom Tisch gewischt wie die einer Konfirmandin oder eines neu Zugezogenen. Und ja – in jedem sozialen System braucht man Geduld und Fingerspitzengefühl, wenn man etwas verändern will.
Wie alle gewinnen
Aber es gibt eben auch diesen Spätbucherbonus, auf den die Kirche nicht verzichten darf. All die Neuen, die bei uns hereinschnuppern und andocken (oder es versuchen), sind ein Bonus, ein Geschenk. So, wie sie sind, und nicht erst, wenn sie sich mühsam assimiliert und wir ihnen alle Flausen ausgetrieben haben. In einer Gesellschaft, die immer bunter und vielfältiger wird, wären wir ohne die Fragen, die sie stellen, und die Irritationen, die sie auslösen, bald völlig betriebsblind. Unseren Beschreibungen vom Auftrag der Kirche, unsere Einschätzung des eigenen Beitrages dazu wären wertlos.
Im Gleichnis Jesu behandelt der Winzer die Newcomer so, als hätten sie schon immer dazugehört. Vielleicht gelingt uns dieses Kunststück ja auch. Genug zu tun gibt es allemal vor unserer Nase.
Eine unregelmäßig wiederkehrende Situation in meinem Alltag ist das Geräusch des Martinshorns auf der Straße oder des Rettungshubschraubers im Anflug auf die Klinik. Eine dieser Unterbrechungen, die Anlass geben zum Gebet. Was hätten die alten Iren gesagt? Mein Stoßgebet fällt so aus:
Himmlischer Tröster und Beistand! Blaulicht und Sirene ziehen vorüber Rotoren schlagen gegen den Himmel.
Retter kämpfen um ein Leben, die Zeit drängt jeder Griff muss sitzen.
Schenke klare Köpfe, beherztes Anpacken, freie Bahn und Rettungsgassen.
Lass uns – Gaffer, Weggucker und Irritierte – unsere Verwundbarkeit spüren und sachte weitergehen.
Jemand weint. Jemand hat Angst. Jemand leidet Schmerzen. Kyrie eleison.
Wir Stadtmenschen erhaschen nur ganz selten einen ungetrübten Blick auf den Nachthimmel. Im Hochgebirge, an der Küste und abseits der modernen Zivilisation gibt es das eher noch so wie in der Welt, in der Jesus lebte: Der Himmel ist klarer zu sehen. Und man hat, wenn man ohne Strom und Internet die Nacht nicht zum Tag macht, auch mehr Zeit, sich damit zu befassen. In Bethlehem, auf fast 800m Höhe und meist in trockener, klarer Wüstenluft muss der Anblick des Himmels für unsere Verhältnisse spektakulär gewesen sein.
Für die Menschen im Altertum war ganz selbstverständlich: Zwischen Himmel und Erde existiert ein Zusammenhang. Was oben passiert, hat mit dem zu tun, was unten passiert. Alles steht in Verbindung, alles kommuniziert. Das müssen wir heute erst wieder entdecken, dass die Atmosphäre (der „erste Himmel“) und die Erdoberfläche nicht Rohstoff oder Kulisse ist, sondern dass es Wechselwirkungen hin und her gibt (Simon de Vries schrieb diese Woche über Bruno Latour und sein Terrestrisches Manifest, in dem das eine große Rolle spielt).
Die Weisen (Mt 2,1-12) waren Sterndeuter, keine Esoteriker, sondern Intellektuelle der damaligen Zeit, die nicht unterschied zwischen Astronomie und Astrologie. Wir unterschieden das heute zu Recht. Außer Mond und Sonne haben die Himmelskörper keinen erkennbaren Einfluss auf das private und öffentliche Leben. Horoskope sind Humbug. Den Himmel sehen wir trotzdem gern an – ich komme später darauf zurück.
Sterne spielten anders als heute auch in der Politik eine Rolle. Im Jahr 44 v. Chr., kurz nach der Ermordung Cäsars, stand Berichten zufolge ein Komet am Taghimmel über Rom. Das Volk glaubte damals, Cäsar sei aufgenommen worden unter die Götter. Augustus sah es als günstiges Zeichen über die Spiele, die er zu der Zeit als Nachfolger und Erbe Cäsars abhalten ließ. Der Historiker Plinius kommentiert: „ …in seinem Innern aber war er mit Freude davon überzeugt, dass der Stern für ihn aufgegangen sei, und dass er mit ihm aufgehe – und zwar, wenn wir die Wahrheit sagen wollen, zum Heile der Welt.“ Ein Stern, ein Heilsbringer, eine neue Zeit.
Aber nun, vierzig Jahre später, strahlt ein neuer Stern am Himmel. Weise machen sich auf den Weg – aus Persien oder dem Zweistromland – und kommen nach Jerusalem. Und wir erleben ein Drama mit vertauschten Rollen: Die Heiden haben lange vor Herodes und seinen Leuten kapiert, dass der Messias geboren wird.
Das jedoch wäre das letzte, was Herodes brauchen kann. Der hat weder einen Stern gesehen, noch Besuch von einem Engel bekommen, und wohl auch von ganz anderen Dingen geträumt: Prunkbauten, die seinen Namen tragen eventuell…
Herodes erwartet von dem kommenden Messias alles das, was er selber tun würde und worin er geübt war: einen blutigen Machtkampf. Im Übrigen hat er keine Ahnung vom voraussichtlichen Geburtsort des Messias. Er hält sich selbst für den Messias – oder möchte zumindest so gesehen werden. Dafür hat er den Tempel in Jerusalem prunkvoll erneuert, schöner und größer als je zuvor. Und nun herrscht er von Gottes – und mindestens so sehr von Augustus’ – Gnaden in Jerusalem. Mit harter Hand.
Daher der Schrecken. Wir wissen, was folgt: Blutvergießen im großen Stil.
Geschichte wiederholt sich
Herodes ist in dieser Erzählung des Matthäus der Schurke. Die größte Gefahr droht dem Messias also aus den eigenen Reihen. So weit ist es mit Israel gekommen.
Aber vielleicht ist das ja öfter der Fall: Den schlimmsten Schaden haben unserem Land die Nationalsozialisten zugefügt. Nicht die Russen, Franzosen oder Amerikaner.
Den schlimmsten Schaden haben den Kirchen nicht die Christenverfolgungen zugefügt, sondern machtgierige, prunksüchtige Kirchenfürsten, kontrollwütige Kleriker, verlogene und selbstgerechte Fromme.
Hier steht nun der wahre König der Juden gegen den falschen. Und der wahre Heilsbringer für den Erdkreis gegen den falschen. All die Geschichten, die jetzt noch folgen, werden das entfalten.
Dieser Messias „gehört“ nicht seinem Volk und auch keinem anderen. Er ist größer als der Gegensatz zwischen Juden und Heiden und die Konflikte, die daraus folgen. Er gehört auch nicht den christlichen Kirchen. Er ist niemandes Besitz. Wenn, dann verhält es sich genau umgekehrt. Wieviel darf er von mir haben, von uns, von dieser Welt?
Nochmal von vorn
Herodes tritt hier in die Fußstapfen des Pharao aus dem Buch Exodus. Auch der ließ um des Machterhalts willen kleine Jungs umbringen. Und Jesus ist der neue Moses, der dem Gemetzel entgeht, der in der Wüste verschwindet und als Prophet zurückkommt, um sein Volk in die Freiheit zu führen.
In Jesus nimmt Gott die Geschichte Israels auf, er rekapituliert sie und führt sie seinem großen Ziel entgegen. Die Weisen sind ein Hinweis darauf, dass wir uns dieses Ziel nicht zu klein vorstellen dürfen.
Wahre Weisheit
Herodes ist also nicht das Vorbild in dieser Geschichte, die Weisen sind es. Sie machen eine ganze Menge richtig. Das zum Beispiel:
Sie suchen Gott (bzw. den Messias / die Wahrheit) um seiner selbst willen, ohne ihn für sich vereinnahmen zu wollen.
Sie hören auf ihre jüdischen Kollegen, die Schriftgelehrten und führen (so würden wir das heute sagen) ein respektvolles, fruchtbares interreligiöses Gespräch.
Sie bringen Geschenke, ohne sie mit Erwartungen zu verbinden. Ein Neugeborenes hat ohnehin nichts, was es zurückgeben könnte.
Sie denken nicht nur analytisch, sondern sie stehen auch in gutem Kontakt mit ihrem Inneren. So können sie aus Träumen die richtigen Schlüsse ziehen. Sie lassen Jerusalem und Herodes links liegen und gefährden das Kind nicht.
Wir haben heute keinen Stern am physischen Himmel, der uns hilft bei der Suche nach Gott. Aber wir haben unsere Sehnsucht als Kompass. Es könnte sich lohnen, ihr zu folgen. Sehnsucht nach dem Wahren, Schönen und Guten (für die Intellektuellen und Ästheten), nach Frieden und Gerechtigkeit (für die Aktivisten), nach der Heilung der Welt (für die Leidenden und Mitfühlenden) kann uns auf die richtige Spur bringen.
Und weil auch uns Aufgeklärte mit all der Naturwissenschaft im Hinterkopf der Blick zu den Sternen, wenn sie mal wieder gut zu sehen sind, an diese Sehnsucht erinnert, sollten wir uns den Nachthimmel, so oft es geht, gönnen. Und uns von Gott ergreifen lassen.
Das Jahr mit den größten Veränderungen seit langer Zeit ist zu Ende. Viele haben gefragt, wie es so geht. Ganz gut soweit eigentlich. Ich versuche einfach mal einen kurzen Abriss für alle, die mehr Details möchten:
Der Examenstunnel
Die erste Hälfte verlief eher anstrengend. Das zweite Examen überschattete alles ein bisschen. Insgesamt lief es ganz okay, ich war wegen einiger privater Sorgen allerdings reichlich zerstreut. Die eigentliche Prüfung lag für mich (und für viele der Kolleg*innen) darin, es auszuhalten, von Leuten bewertet zu werden, die nicht allesamt den souveränsten Eindruck machten. Kurz: Ich war froh, als alles vorbei war. Ein paar Tage nach der letzten Prüfung ging ich eine Runde spazieren und hatte dabei das Gefühl, wieder ein paar Zentimeter gewachsen zu sein. Schon seltsam, wie der Körper auf all das reagiert.
Naturgemäß waren Prüfungsstress, Prüfungsfrust oder Prüfungsangst immer wieder ein Thema im Kollegenkreis. Und wenn das Stichwort „Examen“ fällt, erzählen auch nicht akut Betroffene – die Älteren. Dabei hat mich erstaunt, wie nachhaltig belastend solche Prüfungen offenbar sind, und wie sehr das bei ganz vielen Jahrzehnte später noch sehr präsent ist. Da handeln wir uns Probleme ein, indem wir das staatliche Prüfungswesen zum Vorbild nehmen. Der Staat aber möchte – im Unterschied zur Kirche, wo das häufig beschworen wird – von seinen Vertreter*innen nicht geliebt werden. Insofern kann er sich das leisten.
Der Abschied
Es folgten Wochen des Abschieds. ELIA-Gottesdienste, Teamsitzungen, Gemeindeversammlungen, auf denen schon Dinge verhandelt wurden, die ich nicht mehr miterleben werde. Das letzte Mal predigen, die letzte Seminarreihe, alles bekam ein anderes Gewicht und eine besondere Stimmung. Im Juli fand dann das große Abschiedsfest statt. Menschen und Erinnerungen aus 25 Jahren kamen zusammen; mehr gute Worte, als ich in so kurzer Zeit richtig aufnehmen konnte. Ich brauchte erst wieder ein paar Tage, um emotional Boden unter die Füße zu bekommen.
Und doch war es kein schwerer Abschied. Das lag im Wesentlichen daran, dass ich nie ins Zweifeln oder Grübeln kam, ob das der richtige Schritt zur richtigen Zeit war. Parallel wurde die Frage entschieden, wo ich ab September eingesetzt werde. Das waren noch ein paar spannende Wochen im Sommer. Und mit ein paar Verzögerungen hat sich auch die Nachfolge bei ELIA geklärt – im März kommt Martin Benz aus Basel/Lörrach mit seiner Familie, nicht nur für mich eine gute Nachricht.
Plötzlich Pfarrer…
Vier Monate sind inzwischen vergangen seit meinem Dienstantritt zum ersten September an der Auferstehungskirche in Zerzabelshof. Mitte September war die Ordination durch Regionalbischof Ark Nitsche zusammen mit drei Kolleg*innen im idyllischen Barthelesmaurach. Mein Freund Jason Clark war eigens aus London gekommen, das war ein ganz wunderbares Geschenk. Zwei Tage vor dem Termin starb mein Schwiegervater mit 83 Jahren und meine erste Amtshandlung nach der Ordination war dann auch, ihn zu beerdigen. Freude und Trauer waren nicht zu trennen.
Ein Platz bleibt leer…
Da es meine Stelle bisher gar nicht gab, gibt es in Zabo auch keine Dienstwohnung. Was bedeutet, dass ich von Erlangen aus pendele. Kenne ich schon, nur ist es noch ein bisschen weiter als zuletzt nach Sündersbühl. Ich versuche, das Auto möglichst stehen zu lassen und bin mit Öffentlichen und/oder Fahrrad unterwegs. Im Schnitt bleibt so etwa eine Stunde in jeder Richtung auf der Straße/Schiene liegen.
Es war natürlich auch kein zusätzliches Büro vorhanden. Meine Zelte vor Ort schlage ich nun im Jugendhaus „Arche“ auf. Da ist von Mittags bis halb vier überwiegend fröhlicher Kinderlärm um mich herum und es riecht nach Essen auf dem Flur – zuletzt Fisch. Schrank, Schreibtisch und Sofa stehen inzwischen, ein paar Bilder hängen an der Wand und das eingerostete WLAN tut es auch wieder. Es fühlt sich trotzdem noch etwas nach Camping an. Das hat auch mit der zeitlichen Befristung auf drei Jahre zu tun. Aber ich habe ja Erfahrung mit Provisorien und Unschärfen.
Die Gemeinde hat mich sehr freundlich aufgenommen. Schnell bekam ich Hilfsangebote für Konfirmandenarbeit und andere Projekte, etwa das Krippenspiel im Familiengottesdienst am Heiligabend. Hin und wieder spricht mich jemand auf der Straße oder beim Einkaufen an, der mein Bild im Gemeindebrief gesehen hat. Auch das ist für mich eine neue Erfahrung und eigentlich gar nicht großstadttypisch.
„Zabo ist ein ein Dorf“
Der Satz fällt oft im Gespräch mit Zaboranern. Er bedeutet je nach Kontext, dass man einander kennt, dass man Anteil nimmt und hilft, dass man gute oder auch schwierige Vorgeschichten miteinander hat. Und dass hier und da auch kräftig geratscht wird, oder Gerüchte sich in Windeseile verbreiten.
Im Zerzabelshofer Forst
Wer nach Zabo hinein möchte, muss entweder durch den Wald oder durch den Tunnel einer der vielen Bahnunterführungen. Das – die klaren Konturen und baulichen Barrieren – erklärt vielleicht auch, warum viele sagen, der Stadtteil sei „doch recht für sich“. Es gibt tatsächlich einen winzigen dörflichen Kern mit einer Handvoll alter Häuser. Darum herum gruppieren sich heute allerlei Geschäfte. Stilprägend sind jedoch die Genossenschaftsbauten aus den zwanziger Jahren. Die Straßennamen deuten das noch an: Heimgartenweg, Waldluststraße, Siedlerstraße. Dazu passen Restaurant- und Kneipennamen wie „Heidekrug“ oder „Sängerlust“. Mittendurch fließt der Goldbach, und seit der nasse Dezember die hartnäckige Dürre beendet hat, ist er auch wieder mehr als nur das kleine braune Rinnsal auf dem Foto.
Niedrigwasser im September
Ein paar Premieren
Zu den neuen Erfahrungen gehört das erste Clubspiel, das ich live miterlebte: Die Wasserschlacht gegen Leverkusen vom November. Immerhin unentschieden.
Oder die Waldweihnacht im Tiergarten am dritten Advent, mit echtem Schnee und echten Schafen um mich herum.
Es war Zeit, ein paar Radioandachten zu schreiben und aufzunehmen – in Nürnberg mit Christoph Lefherz und in München mit Melitta Müller-Hansen.
Auch ein Novum, freilich weniger erfreulich, war die Brandstiftung in der Auferstehungskirche nach dem dritten Advent, als ein Transparent, das wir in der 11-Uhr-Kirche zuvor aufgehängt hatten, von Unbekannten abgefackelt wurde. Zum Glück entstand kein größerer Schaden. Aber es war für alle ein Schreck und die Kirche bleibt tagsüber nun erst einmal geschlossen.
Der im Herbst neu gewählte Kirchenvorstand nimmt nun seine Arbeit auf und dann werden wir im neuen Jahr sehen, wohin die Gemeinde sich entwickelt und wie unternehmungslustig alle sind. Ich bin ganz zuversichtlich, dass ich etwas Sinnvolles dazu beitragen kann.
Im Vikariat habe ich meine Gitarre wieder öfter ausgepackt und bin auf den Geschmack gekommen. Meine bescheidenen Fertigkeiten möchte ich im neuen Jahr ein bisschen kultivieren. Seit vorgestern steht eine neue neben meinem Schreibtisch. Jetzt muss die Hornhaut auf den Fingerkuppen schnell zulegen.
Draußen böllert es immer lauter. Das neue Jahr ist nicht mehr weit. Wer weiß, was es in 365 Tagen zu erzählen gibt… Ich wünsche Euch allen Gottes Segen auf Schritt und Tritt.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.
Joh 1,14
Worte werden Fleisch
Das ist eine alltägliche Sache, im Großen wie im Kleinen.
Parolen, Polemik und Propaganda setzen Dinge – Ideen, Forderungen, Stimmungen – in die Welt. Sie bewegen Menschen, gehen ihnen schließlich in Fleisch und Blut über und führen ein Eigenleben. Dann folgen menschliche Köpfe, Hände und Füße einem Aufruf zum Streik, sie begehren auf, stimmen ab, randalieren. Und weil Propaganda immer ein problematisches Verhältnis zur Wirklichkeit hat, kommt dabei derzeit oft nichts Gutes heraus.
Aber auch Lieder und Liebeserklärungen „werden Fleisch“. Menschen fassen Vertrauen und versprechen sich einander. Sie bekommen Kinder, für die sie sorgen und die irgendwann ihre eigenen Liebeserklärungen wagen. Keine glückliche Beziehung ohne Gesten und Worte der Zuneigung. Keine soziale Bewegung ohne diesen Treibstoff.
Entscheidend ist, welches Wort genau Fleisch wird. Und wo. Und wozu.
Sagen, was wird
Das Wort, von dem hier die Rede ist, ist nicht irgendein Wort unter anderen. Es ist das Wort des schöpferischen Anfangs. Nicht so sehr eines zeitlichen Anfangs, der mit jedem Jahr in größere Ferne rückt, sondern der verlässliche, tragende Grund der Wirklichkeit.
Es ist keine „Information“, sondern ein Anruf – an die Sterne, das Meer und die Menschen: „Tretet ins Leben“ – „zeigt euch“. Und seither geschieht es, andauernd: Leben entsteht und erneuert sich. Beziehungen entstehen und entfalten sich. Geschöpfe antworten auf die An-Sprache Gottes, der sie beim Namen ruft, mit ihrer eigenen Stimme.
Das Wort, mit dem Gott sagt, was wird, ist also der Grund-Satz, der uns in die Wirklichkeit stellt und dort erdet. Vor aller Zwiespältigkeit, Verzerrung und Lüge, die es nun freilich auch gibt. Die Lüge aber ist eben deshalb ein Skandal, weil es Wahrheit gibt und weil Vertrauenkönnen für uns so wichtig ist.
Die Lüge sagt das, was nicht ist, so, als wäre es der Fall.
Sagen, was (nicht?) ist
„Sagen, was ist.“ Das Motto des Spiegel-Begründers Rudolf Augstein ist das Mantra des deutschen Journalismus. In der vergangenen Woche hat dieser ehrgeizige Anspruch auf Wahrhaftigkeit durch den Skandal über erfundene – erlogene! – Reportagen von Claus Relotius schwer gelitten. Eine Flut von Erklärungen, Kommentaren und Diskussionen war die Folge.
„In Sozialen Netzwerken und unwahrhaftigen Medien entstehen Debatten bar jeder Wahrhaftigkeit. Von Lügen angetrieben, lösen sie eine Welle der Empörung aus, die sich in tausenden Kommentaren und Wutausbrüchen Bahn bricht. Getreu der Regel, „Sagen, was ist.“ beziehungsweise „Nachricht oder keine Nachricht“ ist völlig klar, dass die falsche Information nicht berichtet wird, weil sie keine Nachricht ist. Allerdings ist die Empörung im Netz eine wahre Nachricht. So erschaffen Populisten Berichterstattung über Dinge, die nicht sind, indem sie eine Welle aus Wut erzeugen, die dann wahrhaft da ist und damit auch berichtet wird. […] Genau diesem Prinzip folgt die Strategie Donald Trumps. Er lügt und ist sich der Kritik seiner Lüge gewiss. Damit schafft er es, dass jeden Tag gesagt wird, was nicht ist.“
Skrupellose Widerworte und die vergeblichen Erwiderungen darauf. Gnade und Wahrheit verschüttet unter Lügen. Licht mitten in der Finsternis.
Kein Wunder, dass DAS Wort in eine Welt kommt, die nichts begreift, es nicht wahr- und aufnimmt. Es trifft ja nicht auf Stille des Anfangs, sondern auf ein Gewirr von Stimmen und Worten. Zu viele Lügen. Zuviel Misstrauen. Zuviel Resignation. Damals wie heute.
Übersetzt man Joh 1,14 wörtlich, dann steht da: „Das Wort wurde Fleisch und zeltete unter uns.“ Eine Anspielung auf den nomadischen, vagabundierenden Gott Israels, der mit seinem Volk umherzieht und sich in keinen Tempel einmauern lässt. Und auf den umherziehenden, mobilen Messias, der das Wandern in der Fremde wieder aufnimmt.
Ich wohne in einem Reihenhaus. Ein Bekannter hat einmal gesagt: Im Reihenhaus wohnst du wie auf dem Campingplatz. Und er hat Recht: Man bekommt alles mit: Bellende Hunde, Klavierstunden, Partys, den Qualm vom Grill, maulende Kinder und schimpfende Eltern. Das kann nerven, aber auch tröstlich sein. Eine Nachbarin sagte neulich zur anderen „Es hat mir so gut getan, zu hören, wie du dein Kind angeschrien hast“. Deswegen ist es ganz zutreffend, dass Eugene Peterson hier statt „zeltete unter uns“ übersetzt: „Das Wort wurde Fleisch und Blut und zog in die Nachbarschaft.“
Nachbarschaft. Ich halte diese Predigt ja zweimal, und zwar in benachbarten Gemeinden: Zabo und Mögeldorf. In Zabo hat es in der jüngeren Vergangenheit mächtig geknirscht. Neulich sagte ein Gemeindeglied traurig und ein bisschen beschämt: „Jetzt reden sogar die Mögeldorfer über uns“. Ich habe dann nur gesagt: „Mag sein. Aber ich könnte mir vorstellen, die Mögeldorfer sind vor allem froh, dass gerade nicht über sie geredet wird.“ So ist das eben unter Nachbarn. Mal hat die eine die Krise, mal der andere.
Man wird mit seinen Nachbarn häufig in einen Topf geworfen, nach dem Motto: „Mitgefangen, mitgehangen“: „Die Zaboraner zanken.“ „Die Mögeldorfer wollen immer das letzte Wort haben.“ Das kann ärgerlich sein oder lustig, und ab und zu auch gefährlich.
Gefährliche Nachbarschaften
Ich habe in diesem Jahr den Begriff der „gefährlichen Nachbarschaft“ gelernt. Da geht es um gesellschaftpolitische Fragen. Zum Beispiel so: Pegida kapert traditionelle Weihnachtslieder und gibt ihnen damit eine völkische, fremdenfeindliche Bedeutung. Es wird plötzlich schwerer, sie unbefangen zu singen, weil wir ja das genaue Gegenteil damit verbinden: Den menschenfreundlichen Gott, der alles nationale Pathos ins Leere laufen lässt. Aus ähnlich gegensätzlichen Motiven hängen Menschen seit diesem Jahr Kreuze auf (oder lassen es bleiben).
Aber es betrifft nicht nur religiöse Fragen: Die Feministin Antje Schrupp skizzierte vor einer Weile die äußerliche Nähe zwischen den Anstrengungen zur gesellschaftlichen Anerkennung unbezahlter (in der Regel weiblicher) Haus- und Pflegearbeit auf der einen Seite und einer Verklärung des hausfraulichen Apfelkuchenbackens à la Eva Herman auf der anderen. Die einen wollen Gleichbehandlung unterschiedlicher Tätigkeiten, die anderen patriarchale Geschlechterrollen festschreiben. Schrupp stellt fest, dass diese Nachbarschaft zu schwierigen Reflexen führen kann:
»Sagen sie „Heimat“, erklären wir das Wort für prinzipiell unbrauchbar. Kritisieren sie die „Systempresse“ müssen wir die Medien auf jeden Fall in Schutz nehmen. Jede Position, die Rechte vertreten, wird prinzipiell problematisch, weil man damit automatisch in den Verdacht gerät, ebenfalls rechts zu sein: Was, du backst gerne Apfelkuchen? Aber Eva Herman!!!«
Mir fällt ein Bekannter ein, der immer ausgesprochen progressiv (und im damaligen Sinne „links“) war. Dann hat er sich wie Thilo Sarrazin zum zornigen Islam- und Migrationskritiker mit repressiven Tendenzen gewandelt. Wir haben äußerlich immer noch einiges gemeinsam, trotzdem sind wir uns fremd geworden.
Ich könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Aber zurück zur Bibel:
In genau solche Nachbarschaften mit ihren Animositäten, Allergien und Vorurteilen begibt sich das Wort: Noch im selben Kapitel lesen wir, wie Nathanael fragt: „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?“ Damit beginnt eine ganze Reihe von Urteilen, die über Jesus gefällt werden:
„Was, du willst den Römern nicht an die Gurgel? Dann bist du ein Verräter an der Sache Gottes! Oder einfach nur ein Feigling?“
„Was, du gibst dich mit Sündern ab und verurteilst sie nicht? Du setzt dich über die Reinheitsvorschriften unserer Religion hinweg? Du störst den Opfergottesdienst im Tempel? Dann bist du ein falscher Prophet.“
„Was, du verkündest das Reich Gottes in dieser Welt? Dann bist Du ein Aufrührer und Terrorist. Besser, wir bringen dich gleich um.“
Das leibhaftige Wort umgibt sich mit Menschen, die ihrerseits eine gefährliche Nachbarschaft bilden: Simon, der Zelot (ein Terrorsympathisant), Levi, der Zöllner (ein Profiteur der Besatzung), Petrus, der Hitzkopf – und natürlich Judas…
Die Tür in der Nähe
In dieser Nähe liegt nicht nur ein Problem, sondern auch eine Hoffnung. „Rechts“ und „links“ liegen nicht Lichtjahre auseinander. Das eine ist nicht in jeder Hinsicht das komplette Gegenteil des anderen. Irgendwann hat sich mein autoritaristischer Nachbar oder Bekannter entschlossen, durch diese problematische Tür ganz in der Nähe zu gehen. Die Nähe braucht mich aber nicht zu irritieren oder zu alarmieren, auch nicht die Gemeinsamkeiten wie der Apfelkuchen.
Weihnachten heißt: Das Wort hat sich auch in meine gefährliche Nachbarschaft begeben. In dem „unter uns“ des Evangelisten Johannes sind ja auch wir Heutigen eingeschlossen. Meine Fehler und Dummheiten, meine Versäumnisse und Verstrickungen fallen auf ihn zurück. Gott nimmt das ganz bewusst in Kauf. Und für mich ist eine Tür offen in ein neues, anderes Leben. Ganz in der Nähe. Überall da, wo ich falsch abgebogen bin und Lügen auf den Leim gehe oder mich selbst betrüge. Denn das mit der Tür funktioniert auch in umgekehrter Richtung – von der Ausgrenzung zur Umarmung, von der Feindschaft zum Frieden.
Kann ich das auch: Zankenden und zeternden, zugänglichen und zauberhaften Menschen ein guter Nachbar sein? Vielleicht handle ich mir das eine oder andere Missverständnis ein. Aber das hier ist nun eben die Nachbarschaft, in die Gott mich stellt. Wie schön, dass Sie alle dazugehören. Und wenn wir dieser Spur folgen – wer weiß, was wir nächstes Weihnachten einander alles über Gnade und Wahrheit erzählen können?
Ein Morgen im Spätherbst: Ich wache auf und alles ist noch dunkel und still. Mein Blick geht zum offenen Fenster und wandert über den Sternenhimmel. Über dem östlichen Horizont erkenne ich den Morgenstern. Mir fällt ein: Meine Astronomie-App hat mich kürzlich informiert, dass die Venus ab jetzt wieder morgens zu sehen ist, nicht abends.
Den Blick auf die Uhr kann ich mir also schenken. Wenn der Morgenstern leuchtet, ist die Sonne nicht mehr weit. Liegenbleiben und Weiterschlafen lohnt sich nicht mehr. Ich stehe auf, ziehe mich an und bereite mich innerlich auf das vor, was an diesem neuen Tag zu tun ist.
Im letzten Kapitel der Bibel erscheint der auferstandene Christus und spricht von sich als dem Morgenstern. Noch ist die Sonne der Gerechtigkeit über der Welt nicht aufgegangen. Aber der Morgenstern leuchtet schon am Himmel. Und allen, die seine Botschaft verstehen, ist klar: Jetzt ist es Zeit, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, die düsteren oder verschwommenen Träume der Nacht abzuhaken. Die Wirklichkeit, die gleich folgt, stellt sie in den Schatten. Buchstäblich.
Also: Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
In den nächsten Tagen könnt Ihr mich, wenn Ihr mögt und Zeit habt, im Radio hören. Diesmal beim Bayerischen Rundfunk in „Auf ein Wort“. Gestern haben wir in München sieben Mini-Andachten aufgenommen. Weihnachten und der Jahreswechsel sind ja keine ganz einfachen Anlässe. Es hat aber bei aller Anstrengung Spaß gemacht und ich hoffe, das merkt man auch, wenn man die Sendungen hört.
Morgen geht es los – abends kurz vor zehn auf Bayern 3 und (außer Sa/So) kurz vor elf auf Bayern 1. Weiter dann am Heiligabend, am 26., 28. und 30. Dezember und am 2. und 4. Januar im neuen Jahr.
Wer da anderweitig beschäftigt ist oder es verpasst hat, kann es im BR-Podcast nachhören. Und wer regelmäßig diesen Blog liest, wird das eine oder andere Motiv vielleicht wiedererkennen.
Im Krippenspiel am Heiligabend spielt Gott mit. Er trägt Pferdeschwanz und Brille und geht in die siebte oder achte Klasse. Anscheinend hat Gott dem Religionslehrer von seiner Rolle erzählt. Der fragte prompt zurück, ob das nicht eine sehr persönliche Vorstellung von Gott sei, wenn er da leibhaftig mitspielt. Gott schaut mich fragend an, ich bin ja der Pfarrer. Wenn das ein Problem sei, antworte ich, dann dürften wir ja auch nicht „Vater unser im Himmel“ beten. Gott nickt zufrieden und spielt weiter.
Natürlich ist Gott in einem anderen Sinn Person als wir. Das Attribut bezeichnet „nur“ eine Ähnlichkeit. Aber ihn als Nichtperson zu betrachten wäre noch viel falscher. Vielleicht sind wir manchmal nicht Person genug, um Gott sinnvoll abzubilden. Eine Grundähnlichkeit bleibt allerdings.
Ursprünglich hatten wir eine andere Besetzung im Auge, mit erkennbarem Migrationshintergrund, aber der streng (christlich-) religiöse Vater verbot dem Darsteller den Auftritt mit Verweis auf das mosaische Bilderverbot. Dieses bezieht sich jedoch nicht auf Gott allein, sondern auf Lebewesen aller Art. Buber übersetzt:
„Nicht mache dir Schnitzgebild, — und alle Gestalt, die im Himmel oben, die auf Erden unten, die im Wasser unter der Erde ist.“
Ex 20,4
Jede Art gegenständlicher religiöser Kunst wäre damit streng genommen tabu. Wenn wir aber wie hier über Schauspiel sprechen, darf man ja nicht übersehen, dass Gott im Ersten Testament rituell ständig repräsentiert wird, nämlich durch Priester. Also Menschen.
Das eigentliche Problem liegt darin, dass wir meinen könnten, ein ganz bestimmter Mensch sei exklusiv Gottes Bild und Stellvertreter. Oder dass unsere Inszenierungen von Macht, Reichtum und Schönheit Annäherungen an Gott darstellen. Der Menschensohn, das authentischste Bild Gottes, das wir haben, fällt nicht in diese Kategorie des Spektakulären. Vielmehr weiß der Prophet:
Wie ein Keimling stieg er auf vor sich hin, wie eine Wurzel aus dürrer Erde, nicht Gestalt hatte er, nicht Glanz, daß wir ihn angesehn hätten, nicht Aussehn, daß wir sein begehrt hätten,
Jes 53,2 (Buber)
Wenn wir dann noch ernst nehmen, dass Gottes Geist auch in Menschenkindern wirkt, die Pferdeschwanz und Brille tragen, in die achte Klasse gehen oder sonst irgendwelche gewöhnlichen Dinge tun – wie wir alle –, dann sollte es auch kein Problem sein, ihn am Heiligabend mitspielen zu lassen.
Und wenn uns Weihnachten daran erinnert, dass Gott nun ganz viele menschliche Gesichter hat, dann kommen wir vielleicht nicht so schnell auf die Idee, Gott zu spielen. Wie manche Eltern im Leben ihrer Kinder. Wie manche Chefs und Professoren. Wie manche Ärzte und Wissenschaftler oder auch Pfarrer und Bischöfe. Wie manche – nein, alle! – Kriegsherren.
Vielleicht gibt es wirklich spirituelle Menschen, aber der sichere Test, sie von den falschen zu unterscheiden, besteht darin, ob sie ihre Gesprächspartner »nach oben« führen, indem sie versuchen, den Wegen der Information mit anderen Mitteln Konkurrenz zu machen, oder sie im Gegenteil nach und nach herabführen zu Sprechakten, die den Sprecher transformieren, ohne seinen Wissensdurst im geringsten zu schmälern. (…)
Das Beste wäre noch (…) sich ein paar Jahre den Reflex abzugewöhnen, Religion mit Höhe zu verbinden.
Kürzlich habe ich nach längerer Zeit wieder einmal an einer „allgemeinen Beichte“ teilgenommen. Ich weiß gar nicht, ob es diesen Ritus in anderen Konfessionen überhaupt gibt, oder ob das ein lutherisches Proprium ist:
Ein paar allgemeine Aussagen in Bekenntnisform dazu, dass wir Sünder sind und der Vergebung bedürfen,
ein Augenblick der Stille, um das für sich persönlich zu konkretisieren,
die Frage nach der Reue und dem Glauben, dass die bevorstehende Absolution im Namen und Auftrag Gottes erfolgt,
schließlich der Zuspruch der Vergebung, Dank und Segen.
Was ich aber sagen kann: Ich finde diese Form, mit Schuld umzugehen, seltsam. Und zwar auf mehreren Ebenen: Zum einen betont die lutherische Liturgie hier den Zusammenhang von Schuld und Strafe ganz massiv. Indem man das eine bekennt, wendet man das andere ab. Das ist der theologische Aspekt meiner Unzufriedenheit.
Zum anderen scheint mir, dass ich bei dieser Form der „Beichte“ alles Wesentliche doch mit mir selbst ausmache. Das muss kein Schaden sein, aber dann brauche ich auch keinen Pfarrer und keinen hörbaren Zuspruch. Ich habe in der Regel keine große Mühe, ernsthaft zu glauben, dass Gott mir vergibt, wenn mir etwas wirklich leid tut.
Aber es gibt Situationen, wo ich das hören muss, weil ich es nicht glauben kann. Dann aber von jemandem, der (wie Gott auch) tatsächlich weiß, worum es konkret geht, und mich trotzdem nicht verurteilt. Das nämlich hat eine heilsame, befreiende und beflügelnde Wirkung, die sich in der allgemeinen Form, in der alles Konkrete unausgesprochen bleibt, zumindest bei mir nicht einstellt. Es bleibt eine einsame Sache.
Und ein letzter Aspekt: Oft muss die Vergebung der Sünden der Erkenntnis derselben vorausgehen. Anders gesagt: Der wahre Charakter meines Denkens und Handelns wird mir erst dann bewusst, wenn ich es nicht mehr beschönigen oder rechtfertigen muss und es zum ersten Mal ehrlich anschauen kann. Beichte wäre für mich dieser Prozess,
etwas anzusprechen – ans Licht zu bringen –, das sich ungut anfühlt und mich belastet,
ein Gegenüber zu haben, das mich nicht verurteilt, mich wohlwollend anhört und mir damit im Angesicht Gottes
einen angstfreien Raum gewährt, in dem sich verknotete Verhältnisse klären und Versöhnung möglich wird.
Kommen wir also mit der allgemeinen Beichte Menschen auf halbem Weg fürsorglich entgegen oder versäumen wir es, ihnen gerade die Schritte zuzumuten (und sie dabei zu begleiten), durch die sie wachsen und heil werden könnten? Ob halb voll oder halb leer – in diesem Glas ist mir zu wenig drin.
Für Bruno Latour ist die Religion kaputt: Sie ist unverständlich und selbstreferenziell geworden, sie spaltet die Menschen in Insider und Outsider, Gläubige und Ungläubige, statt zwischen ihnen Brücken zu bauen. Es hat vor allem mit der Sprache zu tun. Statt sie lebendig zu halten, haben die Kleriker sie eingefroren und festgeschrieben.
In der Religion gibt es wie in der Wissenschaft Artefakte, die es sorgsam abzubauen gilt. Denn die Zeit vergeht, die Wörter, die Sinn hatten, verlieren ihn. Die aber, deren Beruf darin besteht, die Wörter zu ändern, um den Sinn zu bewahren, die Geistlichen, haben es vorgezogen, die Wörter fromm zu bewahren, auf die Gefahr hin, den Sinn zu verlieren. … Indem sie ihr Erbe zu schützen glaubten, verschleuderten sie es.
Inzwischen ist die Distanz kaum noch zu überwinden. Aber damit findet er sich nicht ab:
Ich habe weit Besseres zu tun, als in den Schoß der Gemeinde zurückzukehren, denn nicht mehr ein Schaf hat sich verirrt, die ganze Herde samt Weide, Tal, Gebirge, samt dem ganzen Erdteil ist unterwegs verlorengegangen; ja, es ist am Hirten, zur Herde zurückzufinden, es ist am Schoß, an der Schäferei, am Bauernhof, am Dorf, sich wieder auf den Weg zu machen, um die verlorene Zeit einzuholen, das verheißene Land wiederzugewinnen, das sie brach hinter sich ließen.
Morgen ist Buß- und Bettag, einer dieser Feiertage mit permanenter Existenzkrise. In Bayern versinnbildlicht dadurch, dass Schüler frei haben, Lehrer Konferenzen machen und arbeitende Eltern sich was einfallen lassen müssen.
Letzteres müssen auch die Pfarrer*innen, die morgen Gottesdienste halten. Unerwartete Hilfe kommt diesmal ausgerechnet vom geschätzten philosophie magazin, das pünktlich zum November mit den Thema „Vergebung“ aufwartet.
Das Dossier nimmt religiöse Bezüge auf, etwa durch den Erfahrungsbericht eines jungen Katholiken mit der Beichte. Aber eben auch da, wo Gott und christliche Tradition nicht explizit vorkommen, ist es eine gewinnbringende Lektüre. Weil ganz unterschiedliche Perspektiven zusammentreffen. Denn unser kirchliches Reden von Vergebung krankt gelegentlich daran, dass wir uns wenig neue Gedanken machen und lieber das Bekannte wiederholen.
Mir kommt es jedenfalls so vor. Es ist nicht falsch, was ich dann höre, aber oft eben auch nicht ganz taufrisch. Vergebung ist womöglich so tief in liturgische und homiletische Routine gegossen, dass wir seltener über selbstbezügliche Selbstverständlichkeiten hinausdenken, als uns gut täte.
Wer also noch in der Predigtvorbereitung für morgen steckt, findet hier reichlich gute Denkanstöße. Bei mir ist die Formulierung von Emanuel Levinas hängen geblieben, dass Verzeihen es ermöglicht, „das Band mit der Vergangenheit neu zu knüpfen“ (Seite 44). Dafür müssen alte Knoten erst mal gelöst werden. Und Derridas Hinweis (Seite 3), dass sich die Frage der Vergebung eigentlich erst richtig vom Unverzeihbaren her stellt. In einer Zeit, wo ganz fatale Verknüpfungen mit der Vergangenheit (Gaulands „Fliegenschiss“) die Runde machen und gleichzeitig Schlussstriche gefordert werden, die ins Schweigen und die Täter-Opfer-Umkehr führen, ist das hilfreich und wichtig. Die Vergangenheit bleibt dieselbe. Sie wird nicht gut. Aber wir werden frei von den Zwang, sie zu verharmlosen, zu verdrängen oder gar zu wiederholen.
Kürzlich begleitete ich einen Mitarbeiter der Kirchengemeinde in eine Flüchtlingsunterkunft. Es wurde allmählich dämmrig, als wir das abgelegene Gelände betraten. Ein Schlagbaum versperrte die Einfahrt. Als wir den zu Fuß umkurvten, näherte sich ein in Schwarz gekleideter Wachmann und sprach uns an.
Mir kamen sofort diverse Presseberichte in den Sinn, die alle davon handelten, wie Mitarbeiter von Security-Firmen Flüchtlinge schikanierten und Helfer abwimmelten. War das auch so einer?
Wir kamen ins Gespräch, und unser Gegenüber erzählte uns, wie friedlich und angenehm die Geflüchteten seien. Und zwar nicht nur hier, sondern überall in der Stadt. Niemand brauche sich zu fürchten. Und dass man es doch verstehen müsse, wenn ein Geflüchteter Frust schiebe, weil er von Behördenmitarbeitern unfreundlich behandelt wird, unter miesen Bedingungen lebt und trotz bester Voraussetzungen keine Ausbildung oder Arbeit antreten darf. Er wurde richtig leidenschaftlich, als er auf die Ungerechtigkeit solch arroganter Willkür zu sprechen kam.
Je länger er sprach, desto beschämter betrachtete ich meine anfängliche Voreingenommenheit. Aber dann überwog die Freude, dass da jemand das Herz am rechten Fleck hat. Wenn mir das nächste Mal jemand Unbekanntes in Security-Uniform begegnet, werde ich mich an dieses Erlebnis erinnern. Und erst mal das Beste über ihn denken.
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