Diese Woche lieferte wieder einmal großartigen Anschauungsunterricht: Silvio Berlusconi wurde in letzter Instanz verurteilt und versucht nun, die Folgen des Schuldspruchs dadurch zu begrenzen, dass er sich – wieder mal – als Opfer der bösen roten Justiz auspielt. Sein Medienimperium und die politischen Kräfte, die auf sein Wohlwollen angewiesen sind, spielen das Schmierentheater mit. Alle anderen hoffen, dass seine Strategie nicht aufgeht, aber sicher sein kann man sich da nicht.
Jacques Derridas Begriff der Dekonstruktion hat zusammen mit seinem berühmten Satz, dass es nichts außerhalb des Textes gebe, unter anderem auch den in seine „objektiven“ Gewissheiten verliebten modernistischen Flügel der Christenheit dadurch erschreckt, dass er darauf hinweist, dass wir gar nicht anders können, als Erfahrungen, Ereignisse und Gegenstände immer schon zu interpretieren, meist so unbewusst, weshalb wir unsere Interpretation dann auch oft für selbstverständlich und objektiv halten. Dass Berlusconi tatsächlich glaubt, was er sagt, lässt sich nicht völlig ausschließen. Gerade bei Machtmenschen ist das häufig anzutreffen, dass sie keine anderen Interpretationen der Wirklichkeit als die eigene gelten lassen, ja für möglich halten.
Statt in den oft befürchteten grenzenlosen Relativismus zu führen, hat richtig verstandene Dekonstruktion etwas Befreiendes, schreibt James K.A. Smith in Who’s Afraid of Postmodernism?: Taking Derrida, Lyotard, and Foucault to Church:
Wenn die Dekonstruktion anerkennt, dass alles Interpretation ist, eröffnet das einen Raum, wo man Fragen stellen kann – einen Raum, in dem die herkömmlichen und vorherrschenden Interpretationen hinterfragt werden, die oft den Anspruch erheben, gar keine Interpretationen zu sein. Dekonstruktion also solche interessiert sich für Interpretationen, die marginalisiert und ausgegrenzt wurden, und sie aktiviert Stimmen, die verstummt waren. Das ist der konstruktive, ja prophetische Aspekt von Derridas Dekonstruktion. (S. 51)
Dass das Evangelium „nur“ eine Interpretation der Ereignisse um Jesus von Nazareth ist, neben der es schon immer auch andere gab, wussten Christen schon immer. Es ist die Kehrseite der Aussage, dass alles Glauben und Verstehen Gnade ist. Dass es eine unauflösliche Vielfalt an Interpretationen gibt, bedeutet auch nicht, dass alle gleich wahr wären – auch das wird Derrida ja gelegentlich unterstellt – oder dass die Frage nach der Wahrheit sinnlos wäre. Wo man aber die eigene Interpretation für die „objektive Wirklichkeit“ hält, wird es selbst in einer pluralistischen Gesellschaft ganz schnell übergriffig.
Renold Blank hat den Sachverhalt griffig dargestellt (vgl. die Grafik unten): Je nach Prätext (der konkreten, situativ bedingen Absicht einer Aussage) und Kontext (dem Zusammenhang, aus dem heraus ein Text zu verstehen ist) können sich ganz unterschiedliche Interpretationen ergeben. Bei Berlusconi etwa ist der Prätext die Sicherung von Macht und Einfluss, der Kontext ist Korruption sowie das tiefe Misstrauen und die Skepsis seiner Landsleute gegenüber der politischen Klasse und dem Staat.
Der Cavaliere mit dem gefärbten Haar möchte seiner frisierten Wirklichkeit nun durch Proteste auf den Straßen Geltung verschaffen. Dass sich hier ausgerechnet ein Milliardär eine Art Robin-Hood-Image verpasst und dem angeblich gierigen Staat im Namen der Freiheit trotzt, indem er Steuern hinterzieht und Richter besticht, zeigt schon, wie sehr der jeweilige Kontext die Interpretation des Textes (hier: des Gerichtsurteils) bestimmt. So wie der römische Kaiser (und heute der US-Präsident) sich zum Friedensbringer stilisieren ließ, während er zugleich einen gewaltigen Militärapparat befehligte.
Auch Blank weist auf den prophetischen Aspekt authentischer Offenbarung hin. Dabei geht prophetische Kritik immer zuerst nach innen und erst dann nach außen; das Evangelium dekonstruiert also auch die kirchlichen Verhältnisse (und die damit verbundenen Absolutheitsansprüche einzelner Theologien und Richtungen), um in die Gesellschaft hineinzuwirken. Solche Stimmen täten momentan nicht nur in Italien gut.
Smith schreibt über eine „dekonstruktive“ Kirche:
… sie hat einen Sinn fürs Traditionelle, nichtsdestoweniger zeichnet sie sich durch eine Vielfalt aus und ein globales Interesse, das den Status Quo über den Haufen wirft. Die dekonstruktive Kirche hält an der Tradition fest, aber nicht am Traditionalismus des Status Quo. Sie ist eine Gemeinschaft der Interpretation, die unterdrückte Lesarten schätzt – großteils auch deshalb, weil das Evangelium selbst eine Interpretation des Menschseins ist, die von der säkularen Moderne ins Abseits gedrängt wurde. (S. 57f.)