Fanatismus: Was bringt interne Kritik?

Kritik von Außen zieht bei Fanatikern selten, sie wird ja erwartet oder gar bewusst provoziert. Ein Weg wäre daher die interne Kritik. Man lässt sich auf die Denkvoraussetzungen des Gegenübers ein und versucht, den Fehler darin zu finden. Im Christentum bedeutete das oft genug, „dieselbe Bibel anders zu lesen“, sagt Hubert Schleichert.

Der Humanist Castellio etwa argumentiert gegen Calvins Intoleranz nicht, indem er dessen Ansichten komplett verwirft (nach dem Motto: Wer andere verbrennt, der kann nicht Recht haben), sondern er akzeptiert Calvins Theologie im Wesentlichen. Einserseits wird solch ein interner Kritiker eher gehört, für Außenstehende (und spätere Generationen) scheint er sich jedoch in den abstrus erscheinenden Details zu verhaspeln. Ähnlich wirkt heute die Argumentation mancher Aufklärer gegen den Hexenwahn. Ich würde noch dazu setzen: Heute wundern wir uns über Theologen (bzw. distanzieren uns), die rassistische Sprache und Denkmuster stehen ließen und zugleich versuchten, die Kirche vor den Nazis und gelegentlich auch Juden vor dem KZ zu retten. Und die Argumentation islamischer Feministinnen sieht anders aus als die von Alice Schwarzer. Die Frage ist, wer mehr bewirkt. Also fragt Schleichert (S. 96):

Vielleicht muss, solange überhaupt gekämpft werden muss, stets maskiert gekämpft werden, halb maskiert jedenfalls. Paradox formuliert: Sobald man laut und ohne Einschränkung sagen darf, dass es weder Teufel noch Hexen gibt, braucht man es eigentlich nicht mehr zu sagen.

Andere Möglichkeiten interner Kritik sind

  • aus den jeweils heiligen Texten auszuwählen und andere Schwerpunkte zu setzen. Schleichert hält das von der logischen Seite her für schwierig, weil man entweder die Autorität der Texte zu akzeptieren hat oder sie komplett verwirft. Ich halte diese Argument im Blick auf den biblischen Kanon und innerbiblische Sachkritik für nicht ganz zwingend. Notfalls, so sagte schon Luther, muss man Christus gegen die Schrift treiben, und er hatte eine Art Kanon im Kanon. Heute mag das anders aussehen als zu seiner Zeit.
  • Der Nachweis innerer Widersprüche gelingt oft schwer, weil er formalisierte Systeme voraussetzt; er wird von den Anhängern einer Ideologie zudem heftig bestritten werden. Schleichert fragt etwa, wie das denn zusammenpasse, dass Moses der demütigste Mensch gewesen sein soll und dann an einem Tag dreitausend Mann töten lassen könnte. Aber das sei eben nur unter bestimmten Bedingungen ein Widerspruch, andere sehen auch den Todesbefehl als Akt demütigen Gehorsams an (wir hatten dieselbe Problematik letzte Woche im Blick auf Lüge bzw. vorsätzliche Täuschung).
  • Man kann nun auch mit unterschiedlichen Textschichten argumentieren (der frühe Darwin/der späte Darwin, um mal ein anderes Beispiel zu wählen) oder anstößige Passagen durch allegorische Deutung zu entschärfen (z.B. das Hohelied als Bild der Liebe von Christus und Gemeinde, nicht als erotisches Gedicht über ein noch nicht verheiratetes Paar).
  • Interessant sind auch die Ausnahmen, die mancher bei der Forderung nach Toleranz macht (etwa: Ausländer ja, aber nur bestimmte). Hier zitiert Schleichert John Locke, der zwar religiöse Toleranz fordert, Atheisten davon aber ausdrücklich ausnimmt, mit folgender Begründung:

Doch sind diejenigen ganz und gar nicht zu dulden, die die Existenz Gottes leugnen. Versprechen, Verträge, Eide, die das Band der menschlichen Gesellschaft sind, können keine Geltung für einen Atheisten haben. Gott auch nur im Gedanken aufzuheben, heißt alles dies aufzulösen. Außerdem können die, die durch ihren Atheismus alle Religion untergraben und zerstören, sich nicht auf eine Religion berufen, auf die hin sie das Vorrecht der Toleranz fordern könnten.

  • weiter kommt man mit subversiver Kritik, wie sie sich in Voltaires Bibelkommentar findet. Der Absatz bei Schleichert ist spannend zu lesen, ebenso wie der Exkurs über wahre und falsche Propheten und das Dilemma von Orthodoxien gegenüber jedem Anspruch neuer Offenbarung. Der Grundkonflikt von Offenbarungsreligionen wird nicht nur in zahlreichen Sektenbildungen anschaulich, sondern auch im Verhältnis von Christentum, Judentum und Islam. Christen glauben, dass sich Gott in Jesus offenbart und damit die Offenbarung des ersten Testaments erfüllt und überbietet, aber sie lehnen den Anspruch Mohammeds ab, der 600 Jahre später den Anspruch erhob, von einem Engel eine weitergehende Offenbarung empfangen zu haben. Mit den Mitteln der Vernunft lässt sich das kaum entscheiden.
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