Exzessive Gnade und falsche Rechenwege

Das Thema passt in die Passionszeit: Kevin Vanhoozer hat – sicher nicht als einziger – darauf hingewiesen, dass in der Postmoderne der Gedanke des „Überschusses“ ein wichtiges Element der Lehre von der Versöhnung geworden ist. Gottes Selbsthingabe in Christus übertrifft menschliche Schuld und Verlorenheit. Sie wiegt sie nicht einfach nur auf, tauscht nicht einfach die Plätze oder tilgt einfach nur die Schulden.

In der Passionsmystik – und das ist für viele heute ein fremder und anstößiger Gedanke – wurde die Relation oft umgekehrt und dann wurde das Kreuz nicht nur zum Zeichen dafür, dass wir uns nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen können, sondern dass die persönliche Schuld eines jeden einzelnen so verheerend war, dass man mit Paul Gerhard sagen konnte:

Nun, was du, Herr, erduldet, Ist alles (!!!) meine Last; Ich hab’ es selbst verschuldet, Was du getragen hast.
Die Wunden Christi werden so zum Spiegel meiner individuellen Schuld. Als Dichter darf man durchaus dick auftragen und überspitzt formulieren. Aber für zarte Gemüter war das kein einfacher Gedanke und mündete immer wieder in Selbstanklagen. Oder die Frage, was für ein Gott das eigentlich ist, der sowohl für meine Fehlgriffe als auch für die grauenhaften Verbrechen eines Massenmörders und Folterers unterschiedslos die Todesstrafe und äußerstes körperliches und seelisches Leid fordert, selbst wenn er das nicht an mir selbst vollstreckt. Und genau so bedrohlich wird Gottes „Heiligkeit“ ja gelegentlich dargestellt: Deftige Beschreibungen der Höllenqualen sind die unausweichliche Folge.
Doch wenn wir verstehen, dass – um mit Paulus zu sprechen – die Gnade viel größer war und ist als alle Schuld und Sünde, die Menschen im Verlauf der Geschichte aufgehäuft haben, dann hört das Kreuz auf, zum Maß unserer „privaten“ Schuld zu werden. Sie hört aber nicht auf, ein Verweis auf die unermessliche Größe der Liebe Gottes zu sein! Exzessive Gnade heißt dann auch, dass ich meine Schuld auch nicht rückwirkend wiegen, zählen oder messen muss. Noch muss und darf ich sie mit der anderer Menschen vergleichen.
Die Logik des Umkehrschlusses führt dagegen in die Irre.

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