Wenn man den Erfolg populistischer Parteien im Europawahlkampf betrachtet, oder über die Macht autoritärer Politiker wie Erdogan und Putin rätselt, dann ist Richard Sennett eine gute Adresse. Sein Buch „Autorität“ erschien schon 1980, aber es scheint mir aktueller denn je, wie der folgende Ausschnitt zeigt:
Heutzutage besteht das Dilemma der Autorität, die eigentümliche Furcht, die sie uns einflößt, nämlich darin, dass wir uns zu starken Gestalten hingezogen fühlen, die wir nicht für legitim halten. Diese Anziehungskraft ist kein spezifisches Merkmal unserer Zeit. Die mittleren Kreise von Dantes Inferno sind von jenen bevölkert, die Gott liebten und doch dem Satan folgten; aber sie waren Sünder, die zu ihren Lebzeiten gegen die Regeln der Gesellschaft verstießen. Eigentümlich für unsere Zeit ist, dass die formell legitimen Mächte in den dominierenden Institutionen bei denen, die ihnen unterworfen sind, einen nachhaltigen Eindruck von Illegitimität hervorrufen. Und dennoch verwandeln sich diese Mächte in Bilder menschlicher Stärke: in Bilder von Autoritäten, die über Selbstsicherheit und ein überlegenes Urteilsvermögen verfügen, die andere einer moralischen Disziplin unterwerfen und ihnen Furcht einflößen. Diese Autoritäten ziehen andere in ihren Bann, sie wie die Flamme den widerstrebenden Nachtfalter. Eine Autorität ohne Legitimität, die gerade durch das Misstrauen und die Unzufriedenheit zwischen den Menschen zusammengehalten wird – diese merkwürdige Situation können wir nur begreifen, wenn wir verstehen, wie wir verstehen.