Gestern habe ich mit ein paar klugen Leuten über Zygmunt Baumans Buch „Collateral Damage“ diskutiert. Bauman erneuert und verschärft darin seine Kritik an der „flüchtigen Moderne“ des Konsumzeitalters, dessen Wesen darin besteht, immer neue Bedürfnisse zu erzeugen. Die Konsequenz ist nicht mehr (nur) die Ausbeutung von Arbeitskraft wie in der Frühphase der Industrialisierung, sondern die Ausbeutung der Konsumenten, die sich wiederum in deren „freiwilliger“ Selbstausbeutung äußert. Man muss sich möglichst gut anbieten und „verkaufen“. Der Rückzug des Sozialstaates (Seit Reagan und Thatcher im angelsächsischen Raum, seit den Neunzigern dann auch bei uns) hat zu vielerlei sozialen Verwerfungen geführt und Risiken produziert, denen der einzelne weithin schutzlos ausgeliefert ist, während die Macht und der Reichtum einer kleinen globalen Elite, die im Unterschied zu den einfachen Leuten nicht an einen Ort gebunden ist, exponential wächst.
Bauman beschreibt das als Aufgabe, ohne einen Lösungsweg vorzugeben. Und dann nahm die Diskussion jene Wendung, die ich schon hundertfach erlebt habe. Jemand sagte: Aber der Kommunismus sei ja gescheitert [stimmt, und Bauman erklärt auch einleuchtend warum], und „der Kapitalismus“ sei doch immer noch „das beste“ System, das wir haben. Wobei sich niemand Illusionen über die katastrophalen sozialen und ökologischen Begleiterscheinungen machte. Eine gewisse Betretenheit machte sich breit in der Runde.
Die Resignation und das Verstummen an genau diesem Punkt ist bezeichnend: Wenn wir uns schon gar nicht mehr vorstellen können, dass wir uns Alternativen vorstellen und entwickeln könnten (vom zähen Ringen um eine politische Durchsetzung ganz zu schweigen), wird sich natürlich nie etwas ändern, bis alles von allein zusammenbricht – und das hätte dann apokalyptische Ausmaße. Es geht also zuallererst um Einfälle, Ideen und Phantasie. Eben jede Dinge, zu denen Jesus Menschen mit seinen Gleichnissen anregte und die Propheten mit ihren Bildern. Die Frage nach der „Machbarkeit“ ist erst einmal zweitrangig. Und es ist auch völlig in Ordnung, wenn wir statt ein paar Wochen Jahrzehnte brauchen, um eine praktische Alternative zu entwickeln. Um so wichtiger, jetzt das Gespräch anzustoßen, die Fragen auf den Tisch zu packen und möglichst viele Leute zum Denken zu verführen. Es lohnt sich auch dann, wenn wir noch 20 Jahre brauchen. Bauman dagegen hat von Günther Anders gelernt:
Die moralische Katastrophe unserer Zeit ‚erwächst nicht aus unserer Sinnlichkeit oder Durchtriebenheit, Unehrlichkeit oder Lässigkeit, nicht einmal aus der Ausbeutung, sondern aus einem Mangel an Vorstellungsvermögen‘; wobei das Vorstellungsvermögen, wie Anders beharrlich behauptet, mehr wahrnimmt von der Wahrheit […] als, das, wozu unsere maschinengetriebene empirische Wahrnehmung in der Lage ist. Ich würde hinzufügen: Das Vorstellungsvermögen erfasst auch viel mehr von der moralischen Wahrheit, der gegenüber unsere empirische Betrachtung besonders blind ist.
Freilich ist es nicht möglich, am Schreibtisch oder Reißbrett ein neues System zu entwerfen. Aber immerhin ist es im 20. Jahrhundert schon einmal gelungen, eine menschlichere Form des Wirtschaftens zu etablieren und damit die Härten und Ungleichheiten des Systems Kapitalismus leidlich auszugleichen – bei uns hieß das „Soziale Marktwirtschaft“. Es muss also kein „großer Wurf“ sein, es dürfen auch viele kleine Schritte und Maßnahmen werden.
Was dagegen keine Alternative ist, wäre so resigniert weiterzuwursteln wie immer. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (der Name täuscht über die Absicht hinweg) und andere neoliberale Think Tanks würden uns die Arbeit nur zu gerne abnehmen.