Worte sammeln für den Ernstfall

Letzte Woche saßen wir im Gott-im-Berg-Team beisammen. Wir ließen den letzten Kreuzweg noch einmal Revue passieren und sammelten schon mal ein paar Ideen für das zehnte Mal im kommenden Jahr. Es ist ein bisschen merkwürdig, wenn man im Hochsommer, wo alles so hell ist, intensiv über Kreuz und Passion nachdenkt, fand ich.

Ein Tag später kam es zu dem schweren Anschlag in Nizza und am Freitag dann zum Putschversuch in der Türkei. Und wir waren wieder mittendrin in der Frage, wo Gott in solchen Zeiten zu finden ist, und wohin wir gehen können mit unserer Trauer, Angst und Wut.

Vielleicht ist das ja der tiefere Sinn der Passionszeit, dass wir immer wieder Worte und Bilder sammeln für solche Zeiten. So wie die Maus Frederick aus meinem Lieblingskinderbuch Farben für den Winter sammelt. Damit wir, wenn es wieder einmal ganz plötzlich finster wird um uns herum, nicht bei Null anfangen, nehmen wir uns sieben Wochen jedes Jahr und stellen uns dem Leid.

DSC02802.jpg

Bei Gott im Berg, das fiel mir jetzt beim Nachdenken auf, geht es uns nicht so sehr darum, Antworten zu geben. Es geht mehr darum, Fragen offen zu halten, vorschnelle Antworten zu verhindern und einen Raum zu schaffen, in dem all die Gefühle Platz haben, die uns oft problematisch und unerwünscht erscheinen. Jedes Jahr fragen wir vierzehn Mal, wo Gott in dieser kaputten Welt denn steckt.

Antworten – wenn es sie gibt – brauchen Zeit, und Menschen müssen sie selbst finden. Sie sind nicht in einem stets passenden Allzweckformat vorgegeben. Wir ziehen sie nicht fertig aus der Tasche. Im besten Fall erleiden wir die Dinge, bis sich etwas in uns löst. Die Passion in (sicher etwas willkürlich gewählten) 14 Stationen abzuschreiten ist eben auch eine Lektion darin, dass es ein innerer und oft auch äußerer Weg ist, bis wir unseren Schmerz, Zorn, Verzweiflung und Angst so weit bearbeitet haben, dass das nicht mehr übermächtig ist.

Abgehakt und abgeschüttelt – auch das lehrt das Evangelium – ist das Leiden aber auch dann nicht. Es bleibt in Erinnerung, und diese Erinnerung ist entscheidend wichtig, damit wir die Liebe und Barmherzigkeit Gottes auf den einen Seite und die Verletzlichkeit des Lebens und der Mitmenschen auf der anderen Seite nicht aus dem Blick verlieren. Darum müssen wir sie auch bewusst pflegen. Nur so nämlich wird auch der Sieg der Gerechtigkeit, für den wir beten und auf den wir hoffen, nicht zum Anlass einer gnadenlosen Abrechnung, wie sie jetzt in der Türkei droht, oder zur Jagd auf die üblichen Sündenböcke. Nicht zur Umkehr von Leid, sondern zur heilsamen Verwandlung desselben.

Share

Ist die Liebe noch zu retten? Von Himbeereis, Einsern und kranken Typen

Einige haben heute darüber gepredigt, andere haben zugehört. Falls Ihr (und alle anderen) noch mögt, hier meine Predigt aus St. Leonhard heute morgen – vielleicht ist ein inspirierender Gedanke dabei.

Liebe – Liebe hat so gut wie immer Konjunktur. Zumindest wird pausenlos von ihr geredet. Ganz besonders gern tut es die Werbung:

  • „Wir lieben Bayern, wir lieben die Hits“, flötet die Radiomoderatorin eines Privatsenders.
  • „Wir lieben Lebensmittel“, beteuert eine Supermarktkette (noch lieber verkauft man sie aber)
  • „Echte Liebe“ tönt die Marketingabteilung eines börsennotierten Fußballvereins
  • Und unsere Stars „lieben“ natürlich ihre Fans, denen sie ihren Ruhm und Reichtum verdanken.

Wenn von Liebe die Rede ist, dann meistens deshalb, weil uns jemand etwas verkaufen will. Irgendwann hören wir uns dann selber Sätze sagen wie „Ich liebe Himbeereis“. Spätestens da stellt sich die Frage: „Ist die Liebe noch zu retten?“

Man müsste ein neues Wort erfinden können, um Liebe von diesen Missverständlichkeiten zu befreien: Als ob es da nur um ein unwiderstehliches Produkt ginge oder eine besonders attraktive Person, einen besonderen Reiz, der meinen Appetit weckt und mich dazu bringt, einen Gegenstand oder ein Erlebnis unbedingt haben zu wollen.

Genau das haben die ersten Christen getan: Sie fanden ein neues Wort für die Liebe. Liebe, die nicht darin besteht, im Anderen mein eigenes Spiegelbild zu erkennen und nicht darin, dass sinnliche Reize meinen Pulsschlag beschleunigen und den Hormonhaushalt in Schwung bringen. Diese „Ich brauch dich“-Liebe ist flüchtig, oberflächlich und passiv: Etwas triggert mich von außen und ich reagiere darauf aus einem inneren Mangel. Entfällt der Reiz, ist auch die „Liebe“ am Ende.

***

Johannes war der Meinung: Wer die Liebe verstehen will, muss bei Gott anfangen:

Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.

Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe. (1. Joh 4,16b-21)

Vierzehn Mal kommt das Wort Liebe/lieben in diesen neun Sätzen vor. Und alles gipfelt in der Feststellung: Gott ist die Liebe. Der Satz ist so einfach wie verblüffend. Denn die Götter der antiken Volksfrömmigkeit hatten ihre Günstlinge und ihre Affären, aber sie behandelten Menschen wie Spielfiguren. Der Gott der Philosophen hingegen war zwar ein faszinierendes Wesen, aber er selbst stand der Welt recht leidenschaftslos gegenüber.

Ganz anders der Gott der Christen: Er erschafft eine Welt und Menschen darin, die ihm von Anfang an Ärger machen. Aber Gott ist offenbar der Meinung „Ich bereue diese Liebe nicht“. Er sucht sich aus allen Völkern das unattraktivste aus – Israel. Er kommt in einer Krippe zu Welt, lebt im ärmeren Teil des Landes, teilt die Nöte und Sorgen einfacher Leute. Er lässt sich beschimpfen, schlagen und umbringen. Und statt die Menschen, die ihm all das antun, zu vernichten, vergibt er ihnen.

Martin Luther hat daraus den Schluss gezogen: Gottes Liebe findet das Liebenswerte nicht vor, sondern sie bringt es hervor („Amor dei non invenit sed creat suum diligibile“). Auch wenn es oft eine schmerzhafte Geburt ist. Anders gesagt: Dass er mich liebt, liegt an ihm, nicht an mir. Und weil das so ist, wird es sich auch nicht ändern – egal, wie gut oder schlecht, dumm oder schlau, fair oder unfair ich mich verhalte. Paulus schreibt „sind wir untreu, so ist er doch treu, denn er kann sich nicht verleugnen“. In Jesus ist diese Liebe verbürgt, garantiert – mit Brief und Siegel. Wir haben keinen Anspruch darauf, haben sie uns nicht verdient, dafür können wir sie auch nicht verspielen.

Und genau deswegen müssen wir bei Gott anfangen, wenn wir die Liebe verstehen wollen: Gott ist unkaputtbare Liebe. Liebe ist nicht etwas, das Gott (wie manche Menschen) heute tut und morgen wieder lässt. Würde Gott aufhören zu lieben, dann würde er auch aufhören, Gott zu sein. Nach allem, was geschehen ist, als Gott in die Welt kam, ist ein liebloser Gott nicht mehr vorstellbar – das schreibt uns Johannes hinter die Ohren.

***

Wenn ich anfange, Gott so zu sehen, dann befreit mich das von meiner Furcht. Nicht unbedingt von der Furcht vor großen Höhen, vor Spinnen, vor Terror oder Katastrophen; aber von der Furcht, dass der eine, von dessen Wohlwollen mein Leben und Glück abhängt, mir gegenüber launisch oder gleichgültig sein könnte; dass er sich von mir abwendet, wenn ich ihn vor den Kopf stoße; dass er mich bestraft, wenn ich seinen Erwartungen nicht entspreche.

Der Dirigent Ben Zander vom Boston Philharmonic Orchestra sollte am Konservatorium unterrichten. Statt mit schlechten Noten zu drohen, verkündete er in der ersten Stunde, jeder Studierende werde eine Eins bekommen. Die einzige Bedingung dafür war, dass ihm jeder zu Kursbeginn schreiben sollte, was für ein Mensch er am Ende des Kurses sein möchte. Von da ab waren alle angstfrei bei der Sache und Zander stellte fest, dass er mit den Menschen arbeitete, die in den Briefen beschrieben waren. Er stellte keine Erwartung auf, der sie zu entsprechen hatten. Stattdessen gab er ihnen den Raum zu entdecken, welche Möglichkeiten in ihnen steckten.

Die Liebe Gottes schafft ein Klima, in dem sich das Liebenswerte in uns Menschen hervorwagt und gedeihen kann. Ein Klima, in dem niemand fürchten muss, dass er bedroht, bloßgestellt oder beurteilt wird. Wir alle wissen, dass wir unter Angst und Druck mehr Fehler machen. Und dass wir, wenn Strafe droht, diese Fehler auch noch verleugnen und vertuschen, und damit immer noch mehr Unheil anrichten.

Freilich, Gott rettet uns nicht immer vor den Folgen unseres eigenen Tuns. Aber indem er auf Drohungen und Forderungen verzichtet, schenkt er uns genau diesen angstfreien Raum, in dem wir radikal ehrlich sein können vor uns selbst und anderen. Und mit dieser Ehrlichkeit vor mir selbst beginnt jede positive Veränderung. Wer die Liebe verstehen will, muss bei Gott anfangen. Wen sie erfasst, der verliert seine Furcht. Und mit der Furcht vor Gottes Strafe und Zorn schwinden allmählich auch die anderen Ängste: Angst vor der Ablehnung anderer Menschen, Angst vor dem eigenen Versagen, Angst vor den vielen Gefahren und Risiken, denen wir in dieser Welt ausgesetzt sind. Denn selbst wenn uns schlimme Dinge zustoßen – sie trennen uns nicht von der Liebe Gottes in Christus.

„Furcht ist nicht in der Liebe“ – Eine Braut war vor ihrer Hochzeit schrecklich nervös und unsicher. Ihre Freundinnen wollten sie mit diesem Bibelwort trösten. Doch statt (wie es richtig gewesen wäre) 1. Johannes 4,18 auf die Karte zu schreiben, schrieben Sie nur Johannes 4,18. Die Adressatin schlug ihre Bibel auf und las zu ihrer Verblüffung: „Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“

***

Nicht vom Mann, aber vom „Bruder“ schreibt Johannes gegen Ende: Unsere Aufgabe ist es, „in der Liebe zu bleiben“. Sie ist uns geschenkt, aber dieses Geschenk muss man kultivieren. Behalten wir sie für uns, geht sie kaputt. Die Frage, ob ich noch in der Liebe bin oder nicht, lässt sich ganz einfach beantworten. Jesus hat im Gleichnis vom armen Lazarus dieselbe Schlussfolgerung gezogen: Das Verhältnis zu meinen Mitmenschen ist das entscheidende Kriterium dafür, wie es um mein Verhältnis zu Gott bestellt ist. Wer gegenüber dem Armen dicht macht, macht auch Gott gegenüber dicht. Er sperrt die Liebe selbst aus.

Brüder – Geschwister – kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Dafür bleiben sie – anders als manche Freunde – auch ein Leben lang Geschwister. Familien sind Schicksalsgemeinschaften. Die ersten Christen waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen: Arme und Reiche, Gebildete und Ungebildete, aus allen möglichen Ecken des römischen Weltreichs, das ähnlich groß und vielfältig wie die heutige EU war. Auch die Kirche war eine Schicksalsgemeinschaft. Einheit und Harmonie mussten immer wieder ausgehandelt und erkämpft werden. Und in letzter Zeit hat Papst Franziskus wiederholt davon gesprochen, dass auch Muslime und Christen „Brüder“ sind. Bruderliebe ist also keine „Nächstenliebe light“, die nur für Gleichgesinnte gilt.

In der Liebe zu bleiben heißt, sie zu verschenken. So etwas geht nur, wenn ich lerne, mich freiwillig zurückzunehmen. Der polnische Nobelpreisträger Czeslaw Milosz beschrieb diese Haltung so:

Liebe bedeutet, sich so sehen zu lernen
wie man Dinge aus der Ferne sieht.
Denn du bist nur ein Ding unter anderen
und wer so sieht, heilt sein Herz
ohne es zu wissen, von allerlei Krankheiten.
Ein Vogel und ein Baum nennen ihn „Freund“

Ich bin geliebt, so wie ich bin. Nicht weniger, aber auch nicht mehr als alle anderen Geschöpfe. Ich bin nicht der Nabel der Welt. Diese heilsame Erkenntnis, dass Gottes Liebe genauso auch allen anderen gilt, verändert den Blick. Der reiche Mann hielt seinen Reichtum für eine Errungenschaft, die er verteidigen musste. Und sich selbst für etwas besseres. Heute würde er die Tür versperren, Elektrozäune bauen, Videokameras installieren und Sicherheitspersonal patrouillieren lassen, um Lazarus nicht zu Gesicht zu bekommen. Denn dass Gott diesen kranken Typen liebt – ihn wegen seines harten Lebens erst recht liebt – kam ihm gar nicht in den Sinn. Gott aber schenkt dem Unansehnlichen Ansehen, sagt Jesus.

Wenn Gott mir trotz meiner Unansehnlichkeit sein Ansehen schenkt, dann kann ich offen, frei und mutig aus der Wäsche schauen.

Gottes Liebe, die das Liebenswerte nicht schon vorfindet, sondern es hervorbringt, beteiligt mich an dieser Heilung und Verwandlung der Welt. Der unansehnliche Lazarus hat heute viele Gesichter: Arme, chronisch Kranke, Einsame, Verlierer, Chancenlose, Entwurzelte. Aus jedem von ihnen blickt mich Christus an und fragt: Siehst Du mich?

Und wenn ich diesem Blick nicht ausweiche, sehe ich in dem anderen auch mich selbst: Unsicher, bedürftig, verletzlich und zugleich voller Möglichkeiten, die noch nicht ausgeschöpft sind.

Die Liebe muss nicht gerettet werden. In solchen Begegnungen rettet sie uns.

Share

Die Vermessung der Liebe

Vor gut zehn Jahren erschien der Roman „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann. Er erzählt die Geschichte zweier bedeutender Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt. Während Humboldt unter großen Strapazen den Urwald Südamerikas durchquert und dabei Pflanzen und Tiere katalogisiert, arbeitet der menschenscheue Mathematiker Gauß zeitlebens im Königreich Hannover, in einer Sternwarte und als Landvermesser. Alle seine Entdeckungen spielen sich im Kopf ab. Gegensätzlicher können Lebenseinstellungen und -entwürfe kaum ausfallen. Es gibt für Kehlmann keinen Gewinner: Am Ende ziehen beide eine recht ernüchternde Bilanz ihres Lebens.

I.

In Epheser 3,14-21 ist, so könnte man sagen, von der „Vermessung der Liebe“ die Rede. Von Länge und Breite, Höhe und Tiefe lesen wir, die es zu ermessen gilt. Es geht um eine gewaltige Ausdehnung – eine Weite, in der ganz viel Platz ist. Das Ergebnis dieser Vermessung wird auch gleich verraten: Unfassbar groß. Alle unsere Versuche, an die Grenzen und das Ende der Liebe Christi zu gelangen, sind zum Scheitern verurteilt.

Nun ist Liebe ja ohnehin kein Gegenstand im herkömmlichen Sinn, sondern ein Verhältnis zwischen Personen. Der zupackende Humboldt würde also entdecken: Liebe lässt sich nicht abmessen, kartographieren oder wiegen. Kleine Kinder spreizen manchmal die kurzen Arme, so weit sie können (wohl wissend, dass es nicht weit genug ist), und sagen dazu „ich hab dich soooo lieb.“ Als Erwachsene kommen wir über solche Gesten und Andeutungen kaum hinaus – es sei denn, wir werden zu Dichtern.

Obwohl menschliche Zuneigung ja oft bedrückend endlich sein kann, glauben selbst totale Beziehungschaoten noch an die „große Liebe“ und hören nicht auf, sie zu suchen. Denn irgendwie fühlt jeder, der sich verliebt, dass Liebe ihrem Wesen nach etwas Grenzenloses ist. Sie stellt keine Bedingungen und keine Forderungen, sie ist kein Tauschgeschäft, keine Dienstleistung, sie kennt kein Verfallsdatum. Sie fragt nicht nach Obergrenzen – „Wie viel muss ich geben?“, „wie oft muss ich verzeihen?“ – sondern sie verschenkt sich und bleibt gerade darin sie selbst.

„Die Liebe hört niemals auf“, schreibt Paulus an die Korinther. Sie lässt sich auch nicht berechnen, würde der grüblerische Gauß frustriert anmerken. Es gibt für sie keine Formel: Weder die jüdischen Schriftgelehrten noch die großen Denker der Griechen hatten vor 2.000 Jahren einen Gott auf dem Zettel, der die Welt mit sich versöhnt, indem er Mensch wird, sich brutal umbringen lässt und von den Toten aufersteht.

II.

Nun ist es eine Sache, den Versuch, die Liebe Gottes zu ermessen, von vornherein als sinnlos anzusehen – und sich deshalb weder Gedanken zu machen noch die riskanten und anstrengende Erkundung zu wagen –, und eine ganz andere, wenn man ihr mit wachem Verstand und offenem Herzen nachspürt. Da lässt sich die Begegnung mit Gott in der Stille nicht ausspielen gegen die Begegnung mit dem Nächsten. Gerade die Armen und die Fremden sind, wie Mutter Teresa oft sagte, Jesus, der sich verkleidet hat. Die Weite der Welt und der Trubel der Stadt sind ebenso heilige Orte wie das stille Kämmerlein oder dieser Kirchenraum.

Am Himmelfahrtstag standen Jesu Jünger noch etwas unschlüssig auf dem Ölberg herum, als ein Engel im weißen Gewand zu ihnen sprach: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht zum Himmel?“ Also gingen sie wieder zurück – in die Stadt, aber eben auch ins gemeinsame Gebet und das Warten auf die Kraft aus der Höhe. Vom Kommen der Kraft haben wir ja auch gelesen. Der Apostel betet:

„er [Gott] möge euch aufgrund des Reichtums seiner Herrlichkeit schenken, dass ihr in eurem Innern durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt.“

Damit deutet er schon Richtung Pfingsten – nicht nur das Kirchenfest einmal im Jahr, sondern als Zustand lebendigen Glaubens. Wie eine Quelle, die stetig sprudelt und aus der erfrischendes, klares Wasser an die Oberfläche kommt:

„So werdet ihr mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt.“

Wo und wie aber findet diese Erfüllung statt? Gottes Liebe kann uns im Gottesdienst begegnen, zugleich aber ist sie so viel mehr als heilige Worte und sakrale Räume. Gott gibt dem Intellekt etwas zum Staunen und Nachsinnen, aber er ist so viel mehr als eine gelungene Theorie der Welt. Gott ist uns in den Gänsehautmomenten nahe: dem ersten Kuss, dem Gipfelerlebnis in der Natur, dem magischen Augenblick in einem Konzert, wenn gefühlt die Zeit stillsteht und ich mit tausend anderen den Atem anhalte. Aber er ist mehr als die besondere Erfahrung, die große Idee, das gelungene Projekt. Es bleibt immer ein Überschuss. Es gibt immer noch mehr zu entdecken. Und so wie der Ungebildete keine Ahnung hat, was er alles nicht weiß, so käme auch mir jedes Gespür für die Weite und Größe von Gottes Liebe abhanden, wenn ich gleichgültig oder resigniert darauf verzichtete, etwas zu erwarten, mich überraschen zu lassen, mich Gott zuzuwenden – „mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft“, wie es das erste Gebot sagt.

Das rückt auch die Momente in ein anderes Licht, wo wir Gott schmerzlich vermissen, wo uns seine Nähe fehlt, wir uns leer fühlen und ganz und gar nicht erfüllt: So wie Wissen uns zunehmend sensibel macht für unser Nichtwissen, so ist schon unsere unerfüllte Sehnsucht nach Gott ein Zeichen für unsere Verbundenheit und Vertrautheit mit ihm.

Dass wir mit dieser Erkundung niemals fertig werden, das gilt nicht nur für Gott, sondern auch für jeden geliebten Menschen. Nur der oberflächliche Blick auf den anderen ist blind für das das Geheimnis. Abraham Heschel schrieb dazu:

„Für den Philosophen ist Gott ein Objekt, für betende Menschen ist er das Subjekt. Ihr Ziel ist nicht, […] über ihn informiert zu sein, als wäre er eine Tatsache neben anderen. Sie sehnen sich danach, von ihm ganz in Besitz genommen zu werden, Gegenstand seines Erkennens zu sein, und das zu spüren. Die Aufgabe ist nicht, das Unbekannte zu kennen, sondern von ihm durchdrungen zu sein; nicht zu kennen, sondern von ihm erkannt zu werden“.

III.

Mit der Liebe und dem Erkennen setzt der Apostel hier auch ein: Er verbeugt sich im Gebet vor Gott als dem kosmischen „Vater“, von dem alle Menschen abstammen. „Jedes Geschlecht“ – das könnte auch eine Anspielung sein auf die Verheißung an Abraham im ersten Buch Mose, dass durch ihn alle Völker, Sippen und Geschlechter auf Erden den Segen Gottes erfahren sollen. Schon da deutet sich die unermessliche Weite der Liebe Gottes an. Er ist

„der Vater, nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird.“

Die Segensgeschichte, die mit einer einzelnen Familie beginnt, breitet sich aus in die ganze Welt. Jesus, der gekreuzigte und auferstandene Messias, hat ein neues Kapitel dieser Story aufgeschlagen und uns, seine Nachfolgerinnen und Nachfolger, zu Mitwirkenden gemacht.

Diese Weite hat konkrete Folgen: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit war ein Problem unter den Christen in Kleinasien. Damals waren sich Juden- und Heidenchristen nicht grün – der Epheserbrief spricht sogar von einer „Mauer der Feindschaft“. Hier und heute wachsen Angst und Misstrauen zwischen Einheimischen und Einwanderern (und manchmal sind die Einwanderer von gestern die größten Kritiker der Einwanderer von heute). Stacheldrähte werden quer durch Europa ausgerollt. Von einer bedrohlichen „Flut“ ist die Rede. Religiöse, kulturelle und ethnische Vorurteile werden gehätschelt, Ängste und Ressentiments geschürt: „Alle Muslime sind Terroristen“ oder „alle Nordafrikaner sind potenzielle Vergewaltiger“ oder umgekehrt „alle Christen sind Agenten des Westens und der CIA.“ Irgendwann brennt eine Asylunterkunft, erhalten humanitäre Helfer Todesdrohungen, explodieren Sprengsätze.  Aber Gott ist Vater – und im Blick auf Gott ist das Muttersein in die Vaterschaft nicht etwa aus-, sondern eingeschlossen – aller Sippen und Geschlechter. Also auch der Türken und Araber, Sunniten und Aleviten, Ost- und Westeuropäer, Hell- und Dunkelhäutigen, Homo- und Heterosexuellen (und wem noch ein Reizwort fehlt in meiner Aufzählung, der kann es hier gedanklich einsetzen).

Der Apostel betet also zu diesem Gott, der allen Geschöpfen das Leben geschenkt hat, ihnen Raum gibt zum Wachsen, der sich zurücknimmt und kümmert, der mitfiebert, mitleidet, sich mitfreut. Er betet, dass der Strom dieser unermüdlichen und unerschöpflich nachwachsenden, alle Grenzen überwindenden Liebe uns erfasst – bis alle Angst, alles Misstrauen, alle Gleichgültigkeit und alle Feinschaft darin versinken. Wir sagen ja manchmal über andere, dass ihnen die Freude (oder der Ärger) „zu jedem Knopfloch herauskommen“. So können wir uns das auch mit der Liebe Gottes vorstellen: Die tiefsten Erfahrungen im Leben – Liebe, Verbundenheit, Zusammenhalt, Schönheit, Kreativität – beginnen mit dieser Bewegung des Geistes in unserem Inneren. Und dann trägt sie uns über unser kleines Selbst hinaus in die Weite.

Soooo weit.

Das wäre dann eine Entdeckung, die auch Gauß und Humboldt beeindruckt hätte.

Er aber, der durch die Macht, die in uns wirkt,
unendlich viel mehr tun kann, als wir erbitten oder uns ausdenken können,
er werde verherrlicht durch die Kirche und durch Christus Jesus
in allen Generationen, für ewige Zeiten.

Share

Die Spiritualität des Boxers

In den letzten Wochen bin ich wenig zum Schreiben gekommen. Aber vielleicht hat ja der eine oder die andere Lust, sich ein paar Gedanken vom gestrigen Sonntag anzuhören. Was hat Boxen mit friedlicher Revolution zu tun, was das Kreuz Christi mit dem Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts, was bedeuten Taufe und Abendmahl für die Überwindung von Angst und Zwängen und ein unbekümmertes Leben in einer konfliktgeladenen Welt?

Hier gehts zum Podcast.

 

Share

Weisheit der Woche: Komplexe Freiheit

Parker Palmer zitiert in „Let Your Life Speak“ aus einer Rede von Václav Havel vor dem US-Kongress. Dort setzt sich Havel mit dem marxistischen Credo auseinander, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Palmer merkt an, dass der Kapitalismus genauso materialistisch denkt: Es gilt nur das, was man zählen oder messen kann. Der Mensch wird primär als Kostenfaktor wahrgenommen, die Welt von ökonomischen Zwängen beherrscht. Parker hält dem entgegen:

 …die große Einsicht unserer spirituellen Traditionen ist, dass wir – vor allem jene von uns, die politische Freiheit und relativen Wohlstand genießen – keine Opfer der Gesellschaft sind; wir haben sie mit erschaffen. Wir leben in und durch eine komplexe Wechselwirkung von Geist und Materie, der Kräfte in unserem Inneren und der Dinge „da draußen“ in der Welt. Die äußere Wirklichkeit wirkt nicht wie eine letztgültige Beschränkung auf uns; wenn wir, die wir privilegiert sind, Beschränkung erleben, dann deshalb, weil wir an unserer eigenen Gefangenschaft mitwirken.

Share

Empathiestress und gesundes Mitgefühl

Unsere Welt wird gerade an vielen Stellen immer unbarmherziger, wie diese Nachricht von Übergriffen gegen Muslime in Frankreich oder diese Nachricht vom immer weiter fortschreitenden Rechtsruck der Atommacht Israel zeigen, um nur zwei Themen zu nennen, die im Lärm dieser Tage praktisch untergegangen sind. Carolin Ecke hat es in der SZ so formuliert:

An manchen Tagen schnürt einem der Kummer und die Not (ob in der Ferne oder ganz nah) die Kehle zu. Man merkt es daran, dass man abends spät, vorm Ins-Bett- gehen, zögert, Nachrichten zu hören oder in die Post zu schauen, als ob sich so wenigstens die Nacht schützen ließe vor dem Zuviel. Als könnte man sich so wappnen gegen die Bilder aus Aleppo oder die Meldungen von neuen Anschlägen auf Flüchtlingsheime oder einem weiteren tiefen Unglück, das zu betrauern wäre.

Ich musste beim Lesen an diesen TED-Talk von Matthieu Ricard denken. Meditation ist für ihn keineswegs eine Flucht vor der Herausforderung, diese Welt durch mehr Mitmenschlichkeit umzugestalten, sondern der beste Weg dorthin – und der beste Weg hinaus aus einer Überflutung, die in Panik, in Apathie oder blinder Aggression endet. Und seinen Schlussfolgerungen über eine altruistische Revolution würden die meisten christlichen Theologen, die ich kenne, vermutlich zustimmen.

 

Share

Über die Sinne ins Herz

Die Jahreslosung für 2016 – „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ – schlägt in eine Kerbe, die mich schon ein Weilchen beschäftigt. Ich komme gleich drauf, muss zuerst aber ein Missverständnis anschneiden: Dass Gott selbst dann, wenn wir ihn „Vater“ nennen, damit nicht als männlich im menschlichen Sinne qualifiziert ist ) weil „männlich“ in der Umgangssprache als „nicht weiblich“ verstanden wird), das hat sich zum Glück ja schon ziemlich weit herumgesprochen. Bei Gott schließt die „männliche Seite“ seine „weibliche Seite“ (wenn man von ihm so überhaupt reden möchte) also nicht aus, sondern ein.

Aber die Bibel bezeichnet Gott nirgends als Mann (und ebensowenig als Frau), und Begriffe wie „Vater“ und „Mutter“ beschreiben daher nicht in erster Linie das Geschlecht (weder biologisch, noch sozial), sondern die Beziehung, die Gott zu uns hat und die Rolle, die er für uns spielt. Wer meint, Gott auf das reduzieren zu müssen, was er/sie für maskulin hält, ist damit in seiner Gotteserfahrung schwer eingeschränkt.

MOTHERS LOVE by VinothChandar, on Flickr
MOTHERS LOVE“ (CC BY 2.0) by VinothChandar
Wenn dieses Hindernis nun aus dem Weg ist, dann stellt sich die Frage, wie eine Mutter eigentlich tröstet. Das ist das wirklich interessante an Jesaja 66,13. Nicht, dass Väter nicht trösten könnten. Dennoch suchen die meisten Kinder (und viele Erwachsene) instinktiv die Nähe der Mutter. Das liegt nicht nur daran, dass in vielen Situationen die Mütter viel mehr Zeit mit den Kindern verbringen als die Väter. Denn die Beziehung vom Kind zur Mutter ist von Anfang an sinnlicher als das Verhältnis zum Vater.

Mütter können nämlich nicht nur Hunger stillen, sondern auch Kummer – und das weit über das Säuglingsstadium hinaus. Wenn ein Kind sich verletzt hat und zu seiner Mutter läuft, dann ist es mehr der Klang der Stimme als der Informationsgehalt ihrer Worte, der tröstet; es ist die Umarmung, der Geruch, das Wiegen und Streicheln, das Geborgenheit vermittelt und an die Ur-Geborgenheit erinnert. Das bekommt selbst der empathischste Vater nicht ohne Weiteres hin. Kinder haben ein anderes Zeitgefühl als Erwachsene. Ihnen zu sagen, dass der Schmerz irgendwann schon wieder nachlässt, ist relativ sinnlos.

Da, wo nicht nur Männer und Väter, sondern auch alle anderen Frauen um das rechte Wort verlegen sind, braucht die Mutter keine Worte, um zu trösten. Sie putzt dem Kind die Nase, küsst die tränenverschmierte Wange, setzt es auf ihren Schoß, verbindet das lädierte Knie oder den Schnitt im Finger, sie findet den verlorenen Schnuller oder sie hat etwas Warmes oder Süßes zur Hand, an dem man herumnuckeln und mit dem man den Kummer herunterschlucken oder -spülen kann.

Gott tröstet den resignierten und deprimierten Elia, indem er ihm etwas zu Essen schickt. Im Angesicht der Feinde – wenn mir zu Recht angst und bange wird – deckt er mir den Tisch und schenkt mir voll ein, sagt der 23. Psalm. Und im Neuen Testament macht Jesus, der große Berührer und Gastgeber, Platz für den Tröster: Gottes Geist, der keineswegs nur im Reden und im Wort gegenwärtig ist, sondern unseren Leib von innen heraus erfüllt und berührt. Das ist ein bisschen so, als würden wir den beruhigenden Herzschlag Gottes spüren. Schließlich berührt er uns auch durch andere Menschen, die uns anstelle und im Namen des irdischen Jesus nahe kommen.

Die reinen Worttheologen sind 2016 gegenüber den Mystikern schwer im Hintertreffen. Wenn ich an meine dunkelsten Stunden denke, dann waren es nicht primär Worte, sondern Gottes hautnahe, oft wortlose Gegenwart, die mir am meisten geholfen hat. Diese Stille ist keine Leere oder Abwesenheit. Und sie ist eine ungemein sinnliche Erfahrung. Ich vermute mal, damit bin ich nicht allein.

Die Dixie Chicks haben dafür die passenden Worte gefunden:

I come to find a refuge in the
Easy silence that you make for me
It’s okay when there’s nothing more to say to me
And the peaceful quiet you create for me
And the way you keep the world at bay for me

Wir alle werden 2016 Trost brauchen, aus unterschiedlichsten Gründen. Dann ist es gut, sich daran zu erinnern: Gottes Trost erreicht er das Herz über die Sinne. Und er stillt unseren Kummer.

Share

Fehl am Platz

In diese Welt, in diese wahnwitzige Herberge, in der für ihn absolut kein Platz mehr ist, kam Christus ungebeten.

Aber weil er in ihr nicht zuhause sein kann, weil er fehl am Platz ist in ihr und doch in ihr sein muss, ist sein Platz bei denen, für die kein Platz ist.

Sein Platz ist bei denen, die hier nicht hingehören, die von der Macht Abgelehnten, die man für schwach hielt, die in Verruf Gebrachten, denen man das Personsein nicht zugesteht, die Gefolterten und Vernichteten.

Bei denen, für die es keinen Raum gibt, ist Christus in dieser Welt gegenwärtig.

Thomas Merton

Share

Warum wirklich „geistlich“ sein immer mit dem Leib beginnt – und was das mit Aktivismus zu tun hat

Aus Gründen, die wohl nur Google kennt, ist einer meiner populärsten Posts auf diesem Blog ein Text, der sich mit dem Begriff „Leib“ befasst. Ich kam damals auf dieses Thema durch Iain McGilchrist, der sich mit unserer Art beschäftigt, die Welt wahrzunehmen und uns zu ihr zu verhalten. Ein paar theologische Implikationen habe ich damals hier festgehalten – unter dem Stichwort „Herzensglaube“.

Von Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) stammt der berühmte Satz, die „Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes“. Eine spirituelle Praxis, die das beherzigt, kann einen befreienden und beflügelnden Vorgeschmack auf die Wiederherstellung der Welt vermitteln, die im Evangelium verheißen ist. Anders gesagt: Sie kann eine Quelle der Hoffnung werden, und Hoffnung ist das Lebenselixier aller Aktivisten.

In den letzten Wochen habe ich mich daher wieder intensiver gefragt, was die Erfahrung der Leiblichkeit für menschliches Dasein bedeutet. Man kann Theologie und Spiritualität ohnehin nicht sauber trennen, aber im Bezug auf den Leib findet beides zusammen. Daraus sind ein paar Predigten geworden, die wir mitgeschnitten haben. Nichts zum Lesen also, sondern zum Hören – ein bisschen sinnlicher also, als es dieser Blog normalerweise hergibt.

Für In-up-and-out-Fans: Es kommt alles vor. Der Leib, der wir sind (nicht der Körper, den wir haben), ist der Schnittpunkt dieser Dimensionen. Hier nimmt alles seinen Anfang. Für alle, die gern das etwas spröde Wort „inkarnatorisch“ oder das mittlerweile überstrapazierte „ganzheitlich“ verwenden: Dito.

In der ersten Predigt geht es um unser Gottesverhältnis. Nach Römer 12,1 ist unser Leib der Angelpunkt für alle spirituelle Praxis, und er ist es deshalb, weil Gott seinerseits uns leiblich begegnet – in dem fleischgewordenen Wort, in der Sinnlichkeit der Sakramente. All das ist also Teil der missio dei.

In der zweiten Predigt geht es um unser Verhältnis zu den Mitmenschen. Die Begriffe Barmherzigkeit und Mit-Leid sind unglücklicherweise durch wiederholten Missbrauch belastet, aber sie eröffnen uns den Zugang zu einer anderen Ethik, die gerade im Blick auf die Flüchtlingsdiskussion hochaktuell ist. Passend dazu dieses Video:

In der dritten Predigt spricht Andreas Ebert über die Gemeinde als Leib und wirft einen systemischen Blick auf die Beziehungen unter Christen. Kluge Gedanken über das Menschsein, Heilung und Zugehörigkeit.

(Übermorgen geht es übrigens weiter. 10:00 im Theater der Franconian International School)

Share

Unvergessliche Tage

Den Gottesdienst am Sonntag, den 21. Mai 2006 werde ich so schnell nicht vergessen. Ich war gerade mitten in meiner Predigt, da sah ich, wie sich hinten im Saal ein paar Quadratmeter Stuck von der Decke lösten und aus etwa sieben Meter Höhe herabfielen. In meiner Erinnerung läuft die Szene immer noch wie in Zeitlupe ab, in Wirklichkeit waren das nur Sekundenbruchteile. Es gab einen dumpfen Schlag und einen überrumpelten vielstimmigen Aufschrei in der Nähe der Staubwolke, die sich zeitgleich vor dem Krabbelteppich mit den Kleinkindern in die Luft erhob. Wie durch ein Wunder wurde niemand ernsthaft verletzt. In einer leeren Babytrage lagen drei bis vier Kilo Gipsbrocken. Die Eltern hatten das Kind Minuten vorher auf den Arm genommen. Wir räumten das Haus umgehend, alles lief besonnen und diszipliniert ab.

Keine Ahnung mehr, was ich damals hatte sagen wollen. Die Predigt war Makulatur, um sprachlich noch etwas im Bild zu bleiben.

Vielleicht ging es den Menschen ähnlich, die in einem überfüllten Haus in Kafarnaum glücklich einen Platz ergattert hatten, um Jesus zu hören, während weitere Neugierige vor der Tür standen und hofften, einen Blick zu erhaschen oder etwas mitzubekommen von der Botschaft. Der Deckendurchbruch dürfte sich durch Geräusche und herabfallenden Dreck ein paar Minuten lang angekündigt haben und vermutlich waren viele schon ziemlich sauer, als schließlich eine Bahre von oben herabgelassen wurde, auf der ein Gelähmter lag. Vier seiner Freunde hatten nichts unversucht gelassen, um ihn in Jesu Nähe zu bringen (vgl. Markus 2,1-12).

Hätten die Freunde den Andrang vorhergesehen, wären sie vielleicht eher da gewesen. Dass auf normalem Weg kein Durchkommen war, hielt sie jedoch nicht davon ab, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen. Irgendwer war der Meinung „wir schaffen das“, und irgendwer hatte einen unorthodoxen Einfall, wie das anzustellen wäre. Den Freund draußen zu lassen oder wieder umzukehren, kam für sie nicht in Frage. Er war einer von ihnen. Nicht nur ein Teil der Gruppe, sondern ein Teil jedes einzelnen.

Kranke und Versehrte waren im Tempel – Gottes primärem Aufenthaltsort in dieser Welt, an dem er Bitten und Beschwerden entgegennahm und über Lebensschicksale entschied – nicht zugelassen. Aber ein Hausgottesdienst mit einem Wanderpropheten war prinzipiell zugänglich, da mussten nur praktische Probleme gelöst werden.

Hole in Synagogue roof from inside_0734m by hoyasmeg, on Flickr
Creative Commons Creative Commons Attribution 2.0 Generic License by hoyasmeg

Und Jesus schien von der Lösung, die sie schließlich fanden und die seine Predigt jäh unterbrach, ganz und gar nicht negativ berührt. Er wendet sich dem Kranken ohne Umschweife zu, mit einem Wort der Vergebung und der Aufforderung, aufzustehen und mit seiner Bahre loszumarschieren. So geschieht es – zum Erstaunen der Normalos, zum Ärger der Religiösen, zur hellen Freude der Freunde. Dass Jesus von Vergebung spricht, bedeutet nicht, dass er die Krankheit für eine Strafe Gottes hielt, sondern er sagt damit, dass auch dieser Kranke nicht außen vor bleibt, wenn Gott seine Verheißungen wahr macht und den Bund mit seinem Volk erneuert. Die Heilung ist daher kein zweiter Schritt, sondern nur die sichtbare, spürbare Konkretion dieser Heilszusage.

Mich hat diese Geschichte ins Nachdenken gebracht über viele unterschiedliche Anlässe, Gottesdienste wie persönliche Gebetszeiten, wo ich gesagt bekam oder mir selbst sagte, ich solle meine leidenden Freunde gedanklich besser draußen lassen, weil sie die Begegnung mit Jesus stören: Kranke und gebrechliche Angehörige, Trauernde und Depressive, Verschuldete und Entmutigte, Nahe und Ferne.

Das Problem ist nur, dass es nicht geht. Denn sie sind in vieler Hinsicht ein Teil von mir selbst. Sie draußen zu lassen, sie irgendwie auszublenden, hieße, einen Teil von mir selbst außen vor zu lassen. Das geht durchaus, ich habe es erfolgreich ausprobiert. Aber wenn ich das tue, bin auch ich selbst nicht richtig präsent. Wenn ich aber nicht richtig präsent bin, kann ich auch die Gegenwart Gottes nicht erfahren. Und genau da liegt für viele von uns das Problem.

Der vergebliche Versuch, die Freunde draußen zu lassen, geht oft einher mit dem Bemühen, auch unsere Feinde draußen zu lassen. Nicht nur die äußeren Feinde, sondern auch unsere inneren Bedrohungen – Dinge, die wir an uns selber nicht leiden können, die uns erschrecken und zusetzen, deren wir uns schämen. Wir singen was lauter, kneifen die Augen etwas fester zu, verscheuchen die unschönen, lästigen Gedanken und Bilder. Notfalls mit passenden Bibelversen. Am Ende bleibt so viel von uns draußen, dass nicht mehr viel da ist, was die Botschaft der Heilung und Vergebung hören könnte, die diese Welt (und ich selbst) so dringend braucht. Und was noch trauriger ist: Immer wieder mal bekomme ich mit, dass jemand nicht mehr oder kaum noch betet oder an Gottesdiensten teilnimmt, weil es ihr/ihm nicht gelingt, das vermeintlich Störende draußen zu halten.

Um Gott zu begegnen, muss ich ganz da sein. Und das bedeutet, dass Freunde, Feinde und meine dunklen, unansehnlichen der peinlichen Seiten auch da sein dürfen müssen. Für Gott ist das gar kein Problem, und wir können getrost aufhören, eins draus zu machen. Ich habe einmal einem geistlichen Begleiter erzählt, dass ich mich beim Beten fühle wie im 23. Psalm, wo von dem „Tisch im Angesicht meiner Feinde“ die Rede ist. Er antwortete: „Dann lade sie doch ein!“

Immer wieder erinnere mich seither an diesen Rat. Ich muss mich auch tatsächlich immer wieder daran erinnern, dass ich nichts zu verscheuchen oder zu verdrängen brauche. Nolens volens bringe ich alles mit, was zu mir gehört. Ich erkenne an und gestehe ein, dass es ist, wie es ist. Und dann stelle ich jedesmal wieder erstaunt fest, dass Gottes Gastfreundschaft die ungebetenen Tischgenossen alle einschließt. Und so hören sie allmählich auf, mich zu nerven und mein Denken zu beherrschen. Ich stelle fest, dass ich Angst habe oder wütend bin, aber dass ich mehr bin als meine Angst, meine Traurigkeit oder mein Frust. Und auch mehr als meine Freude und mein Erfolg. Und dass Gott mehr ist als beides zusammen.

Unendlich viel mehr.

Und das ist der Moment, in dem etwas heil zu werden beginnt und sich verändert.

Ich habe mir vorgenommen, ganz genau darauf zu achten, wie ich mit anderen über diese Dinge rede. Wie ich Menschen einlade, in einem Gottesdienst achtsam anwesend zu sein und sich auf Gott einzulassen. Ich halte die Augen auf nach Liedern und Texten, die das ausdrücken und transportieren: einen Gott und einen Glauben, der mit der ungeschminkten Wirklichkeit klar kommt und sich nicht in abgeschirmte Heiligtümer flüchtet.

Also – lieber ein Loch in die Decke hauen und einen unvergesslichen Tag erleben.

Share

Das Ende der Ungleichmacherei

Beim Thema Schöpfungsspiritualität bin ich (nicht zum ersten Mal) auf einen Zusammenhang gestoßen, der mich noch weiter beschäftigt hat. Ob bei den keltischen Christen oder in der mittelalterlichen Tradition des Franziskus oder der Hildegard von Bingen, überall da, wo ein positives Verhältnis zu Natur und Schöpfung vorherrschte (so häufig war das in der westlichen Christenheit nicht), hatten Frauen einen besseren Stand in der Kirche.

Und dort wo Frauen unterdrückt wurden, stellte sich oft auch kein ungetrübtes Verhältnis zur Natur ein. Heute wieder wunderbar zu besichtigen im neoreformierten Christentum, während der „grüne“ Papst Franziskus bei seinen Kritikern, die das Feindbild des Ökofeminismus pflegen, auch schon im Verdacht steht, Frauen zu viele Zugeständnisse zu machen.

Sind das lediglich Koinzidenzen oder besteht ein innerer, theologischer und spiritueller Zusammenhang? Wächst beides aus einer gemeinsamen Grundhaltung? Ich habe bei Ina Praetorius, die sich in Wirtschaft ist Care unter anderem mit der „Dichotomisierung der Menschheit“ befasst, Auszüge aus dem dritten Buch von Aristoteles’ Politik gefunden, die offenbar eine lange Wirkungsgeschichte hatten.

That Way by Wil C. Fry, on Flickr
Creative Commons Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 2.0 Generic License   by  Wil C. Fry 

Bisher hätte ich ja eher auf manichäische Tendenzen aus der augustinischen Theologie getippt. Aber aus den folgenden Zeilen lässt sich unschwer erkennen, wie soziale, geschlechtliche und geistig/materielle Dualismen schon seit der hellenistischen Zeit eng verknüpft sind und wie tief die Polemik gegen eine angebliche „Gleichmacherei“ in einer symbolischen Ordnung wurzelt, die zum Glück längst tiefe Risse bekommen hat, dafür aber um so verbissener verteidigt wird:

Das Lebewesen besteht primär aus Seele und Leib, wovon das eine seiner Natur nach ein Herrschendes, das andere ein Beherrschtes ist. […] Denn die Seele regiert über den Körper in der Weise eines Staatsmannes oder Fürsten. Daraus wird klar, dass es für den Körper naturgemäß und zuträglich ist, von der Seele beherrscht zu werden. […]

Gleichheit oder ein umgekehrtes Verhältnis wäre für alle Teile schädlich. […] Desgleichen ist das Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen von Natur so, dass das eine besser, das andere geringer ist, und das eine regiert und das andere regiert wird. […] Auf dieselbe Weise muss es sich nun auch bei den Menschen im Allgemeinen verhalten.

Diejenigen, die so weit voneinander verschieden sind wie die Seele vom Körper und der Mensch vom Tier […] , diese sind Sklaven von Natur, und für sie ist es, wie bei den vorhin genannten Beispielen, besser, auf die entsprechende Art regiert zu werden. […] Es ist also klar, dass es von Natur Freie und Sklaven gibt und dass das Dienen für diese zuträglich und gerecht ist.

So gesehen könnte man sagen, dass sich von der Abschaffung der Sklaverei und autoritärer Staatsformen über die Gleichstellung der Geschlechter und die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt bis hin zum Ringen um ein gewaltfreies Verhältnis zur Natur ein einziger langer Kampf darum abspielt, diese fatalen Machtverhältnisse aufzulösen, die Aristoteles mit all seinen Zeitgenossen und Nachfolgern für die Grundordnung der Welt hielt. Die Spur der Dichotomisierung lässt sich über Bacon und Kant bis zu Hegel und Marx verfolgen, wie Praetorius zeigt. „Männliche“ Naturaneignung (der Eroberer, der Wissenschaftler, der Technokrat) und passive „Weiblichkeit“ stehen einander gegenüber.

Männer, die sich selbst gern als intellektuelle und spirituelle Wesen betrachten, die ihre Körperlichkeit verachten und, so gut es geht, verdrängen, projizieren diesen Aspekt des Menschseins auf Frauen und sehen in diesen vor allem das körperliche Wesen, das sie nicht sein wollen. Jede Form von Gleichheit zwischen Männern und Frauen erschüttert dieses illusionäre Selbstbild – und den damit verbundenen hierarchischen Machtanspruch.

Luther hielt ja bekanntlich gar nichts von Aristoteles. Er hatte wohl andere Gründe dafür als wir, aber vielleicht war seine Intuition ja trotzdem gar nicht so falsch. Bringen wir also zu Ende, was er begonnen hat, indem wir eine postdualistische Sicht auf die Welt entwickeln, die mit Unterschieden anders umzugehen lernt. Zum Beispiel auch dem zwischen Autochthonen und Zuwanderern.

Share

Die Sehnsucht, die nicht warten kann

Beim Impulstag Schöpfungsspiritualität am Samstag in Köln habe ich auch als Mitwirkender Neues entdeckt. Martin Horstmann war ein wunderbarer Gastgeber und Moderator.

Und Jan Frerichs aus Bingen hat die franziskanische Tradition beleuchtet. In diesem Zusammenhang zeigte er auch diesen Clip des WWF, der das Verhältnis von Mensch und Schöpfung schön darstellt.

Ich finde das auch aus theologischer Sicht gelungen, weil auf der einen Seite die Identifikation mit der Schöpfung steht – Laub, Gras, Erde –, auf der anderen Seite der Begriff der Sehnsucht auch das menschliche Bewusstsein, das die reine Materie transzendiert. In der Sehnsucht nach einer heilen Schöpfung verbindet sich beides. Erst dann sind auch wir wirklich heil.

Share

Wende und Wandlung

Vor einer ganzen Weile schrieb ich hier über Joanna Macys ökologischem Narrativ der großen Wende, das sie in Active Hope: How to Face the Mess We’re in Without Going Crazy von zwei anderen populären Erzählungen unterscheidet, nämlich dem Business as Usual und der apokalyptischen Geschichte vom großen Crash, zwischen denen unsere Politik in der Regel oszilliert, im Merkelland mit starker Tendenz zum ersten.

Die Sache beschäftigte mich noch einmal beschäftigt, als ich diese Woche Frederick Buechners Telling The Truth. The Gospel as Tragedy, Comedy and Fairy Tale las. Für Buechner hat die Tragik, mit der es die Wahrheit über die Menschen und die Welt immer zu tun hat, mit dem Unvermeidlichen zu tun, während er die Komik mit dem Unerwarteten assoziiert. Das Märchen schließlich ist die wundersame Wandlung. Eine tiefere Dimension der Wirklichkeit kommt zum Vorschein, das wahre Wesen der Dinge enthüllt sich: Die Königin ist in Wirklichkeit eine Hexe, der Frosch in Wirklichkeit ein Prinz. Es wird keineswegs immer alles gut, schon gar nicht alles auf einmal, aber immer bricht die Hoffnung durch Finsternis und Resignation.

Die Parallele zwischen  Märchen und dem Narrativ der Wende liegt auf der Hand. Man kann das Evangelium freilich kaum als „alles gut – weiter so“-Geschichte lesen. Man muss nur bis zum Magnificat blättern, um zu sehen, das der Status Quo (obwohl beliebt bei der kirchlichen Bürokratie) keine Option ist. Die apokalyptischen Elemente mit ihren Bildern von Krise, Untergang und schmerzhaften Geburtswehen hingegen  sind, wie im Grunde die Tragik bei Buechner auch, nicht das letzte Wort, sondern das vorletzte. Allerdings eines, das ernst genommen werden will.

Der Dreiklang bei Buechner könnte Macys Narrativ noch mehr Tiefe geben: Unser aller Tragik ist ja nicht zu leugnen. Ebensowenig lässt sich das Lachen unterdrücken, wenn jemand beim Versuch, besonders würdevoll zu erscheinen, richtig albern aussieht, oder wenn der Underdog die Nase am Ende vorn hat.

Die Dimension des Märchens ist aber noch nicht im glücklichen Zufall erfüllt, sondern sie birgt in sich die Ahnung, dass solche Wendungen (so flüchtig und episodisch sie auch sein mögen) Zeichen sein könnten , in denen sich Größeres ankündigt: eine tiefere Magie. Die Tatsache, dass Märchen bis heute in praktisch allen Kulturen ungemein lebendig sind, könnte ihrerseits ein Zeichen dafür sein, dass sich darin mehr als bloß weltfremdes Wunschdenken oder Zweckoptimismus ausspricht.

Share

Die Sprache der Wahrheit

Der großartige Frederick Buechner schreibt in Telling the Truth über die Poesie der hebräischen Propheten:

Sie fassten die Dinge in Worte, bis ihnen die Zähne klapperten, aber unter ihren Worten, oder tief in ihren Worten klingt etwas hindurch, das neu ist, weil es zeitlos ist, die Stille klingt durch, die Wahrheit, die nicht in Worte zu fassen ist, die Mysterium ist, die ist, wie die Dinge nun einmal sind, und der Grund, warum man sie heraushört, scheint der zu sein, dass die Sprache die die Propheten verwenden, im Wesentlichen die Sprache der Poesie ist, die, mehr als Polemik oder Philosophie, Logik oder Theologie, die Sprache der Wahrheit ist.

?Speak the truth, even if your voice sha by dullhunk, on Flickr
Creative Commons Creative Commons Attribution 2.0 Generic License   by  dullhunk 
Share

Schlecht über Gott reden

Gläubige Menschen können ja mitunter sehr empfindlich reagieren, wenn schlecht über Gott (und alles, was sie mit ihm verbinden) geredet wird. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist, kommt das regelmäßig vor, und man muss lernen, mit Spott, Verdrehungen und Anfeindungen zu leben.

Ich findes es, ehrlich gesagt, schwieriger, damit zu leben, wie schlecht viele Gläubige über Gott reden. Nicht, dass sie gehässige Dinge über ihn sagen würden, ganz im Gegenteil. Sie sagen nur das gut Gemeinte so häufig gedankenlos, phantasielos und banal, dass es weh tut – so wie es allen leidlich musikalischen Menschen weh tut, wenn jemand schräg singt, oder wie das Quietschen von Kreide auf der Schultafel schmerzhaft sein kann. Vergangene Woche habe ich mich mit ein paar Menschen unterhalten, die von Gott und vom Reden etwas verstehen, und dabei bemerkt, es geht nicht nur mir so (dass ich gerade wieder mal David Bentley Hart lese, schärft den Kontrast ebenfalls).

Um richtig verstanden zu werden – mir geht es nicht um eine theologische Correctness oder um unnatürliche Gestelztheit im Reden. Mir ist auch bewusst, dass es erhebliche Unterschiede in Bildung, Eloquenz und Sprachgefühl gibt innerhalb der Christenheit. Aber manchmal wünsche ich mir jene Ehrfurcht vor dem Gottesnamen zurück, die darin besteht, ihn “nicht unnütz“ zu gebrauchen und die im Judentum dazu führte, ihn nicht mehr direkt auszusprechen.

Vielleicht ist es das (in diesen Fällen freilich gescheiterte…) Anliegen, von Gott auf „unfrommme“ Art zu reden, in einer Sprache, die auch für Menschen zugänglich ist, die nicht kirchlich sozialisiert wurden, das zu dieser Banalisierung geführt hat, denn sie betrifft viele, die sich irgendwie als „missionarisch“ verstehen. Vielleicht soll es die Alltäglichkeit der Gottesgegenwart unterstreichen, dass sie von einem Kumpel-Gott sprechen, der „überallhin mitgeht“, „immer dabei“ ist und der sich im Bedarfsfall (miese Stimmung, Ratlosigkeit etc.) bereitwillig nützlich macht. Ich glaube, dass die Bibel selbst da, wo sie von Freundschaft zwischen Gott und Menschen spricht, etwas ganz anderes meint als dieses übernatürliche Maskottchen. Das Gerede vom privaten Kumpelgott ist freilich längst nicht mehr unkonventionell oder „authentisch“, es hat einen hohen Grad von Stereotypisierung und Formelhaftigkeit erreicht. Es ist, um es anders zu sagen, zu einer festen Liturgie geronnen.

Der Kumpelgott ist ebenso eine Karikatur des lebendigen Gottes wie es sein Vorgänger, der Polizistengott, war, oder dessen Vorläufer und Verwandter, der National- und Stammesgott, der die Interessen einer bestimmten, klar umrissenen Klientel (z.B. des Abendlands oder der wahren Kirche) vertritt. Der Kumpelgott gibt keine Rätsel auf, er stellt mich im Leben vor keine zusätzlichen Herausforderungen, sondern er hilft mir auf Zuruf bei denen, die das übliche Streben nach Glück schon mit sich bringt.

 

Von mir aus soll jede und jeder im stillen Kämmerlein mit Gott so reden, wie ihr oder ihm der Schnabel gewachsen ist. Aber so, wie es peinlich ist, wenn Paare sich vor anderen mit albernen Kosenamen anreden, auf Kindersprache und -stimmchen umschalten oder andere Dinge tun, die hinter verschlossenen Türen nur ihrem eigenen Geschmack und Vorlieben unterliegen, so ist es auch beim Reden von und mit Gott, zumal in der Öffentlichkeit.

Ich glaube, Gott hat es verdient, dass wir gut von ihm reden. Ich glaube auch, dass der Maßstab für „gut“ nur der sein kann, dass wir alle unser Bestes geben und an die Grenzen unserer jeweiligen sprachlichen und geistigen Möglichkeiten gehen. Ich glaube außerdem, dass die Menschen, vor und zu denen wir mit und über Gott reden, das verdient haben. Und ich hoffe, dass die Spötter und Zyniker in Zukunft weniger Quatsch finden, den sie genüsslich ausschlachten können.

Zugegeben: Solche Überlegungen können zu einer gewissen Befangenheit führen. Wenn ich mir selber kritisch zuhöre und überlege, ob ich das gerade wirklich so sagen will, stockt die Sprache gelegentlich, zeitweise bleibt sie auch ganz weg. Das ist anstrengend, aber es legt sich wieder in ein paar Monaten. Kein Grund also, sich der Mühe zu verweigern. So lange das mit den eigenen Worten noch nicht so recht klappt, lässt sich die Zeit zum Lesen und Zuhören nutzen. Zum Beispiel bei Abraham Heschel, der schrieb:

Die Kraft des Glaubens liegt im Schweigen, und in Worten, die Winterschlaf halten und warten. Der Ausdruck des Glaubens muss als Überschuss aus dem Schweigen hervorkommen, als Frucht gelebten Glaubens und anhaltender Innigkeit. Theologische Bildung muss diese private Seite vertiefen, um eine tägliche Erneuerung des Inneren ringen, die Zutaten religiöser Existenz kultivieren, Ehrfurcht und Verantwortung.

 

Share