Verliebt in Theorien

Iain McGilchrist berichtet in seinem Buch The Master and His Emissary von einem Experiment, bei dem die Probanden vorhersagen mussten, ob ihnen als nächstes Rot oder Grün gezeigt wird. Sie absolvierten den Test mit mehr oder weniger Erfolg, dann aber wurde ihnen (ohne dass sie es wussten) immer die Farbe gezeigt, die sie genannt hatten – sensationelle hundert Prozent Trefferquote stellten sich ein.

Als man die Teilnehmer danach interviewte, konnte ein großer Teil auch ganz genau erklären, wie es dazu gekommen war. Sie hatten komplizierte Theorien zur Abfolge der Farben und Methodik ihrer makellosen Vorhersage entwickelt. Das Problem war nur: sie waren alle falsch. Es gibt in uns einen starken Drang, zu gewinnen und Recht zu haben. So nützlich dieser hin und wieder ist, so fatal kann er in anderen Situationen sein. Er „rettet“ uns aus Ambivalenz und Unsicherheit, indem er illusionäre und riskante „Gewissheiten“ und eine über-optimistische Selbsteinschätzung produziert und alle Absurditäten, Widersprüche und Gefahren dieses Standpunktes abblendet, also zu Realitätsverlust führt.

So lange sich das auf banale Dinge bezieht, kann es ja ganz lustig sein. Wenn es aber dazu führt, dass wir fatale politische Entscheidungen treffen (oder versäumen, wie bei den internationalen Klimakonferenzen), dass zwanghaft ideologische Systeme entstehen oder krankmachende Dogmen (passende Beispiele darf hier jeder selbst einfügen), dann wird es schon unheimlicher. Man muss also auch bei Theorien und Weltbildern (selbst wenn sie „biblisch“ sind…) dem Rat das Paulus aus 1.Kor 7,29f. folgen, sie zu „haben, als hätte man nicht.“

 

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Denken ist Glaubenssache

Ich arbeite mich derzeit durch das ungemein interessante Buch The Master and His Emissary von Iain McGilchrist. Er geht den Grundlagen menschlichen Denkens, Erkennens und Verhaltens nach und verbindet Neurowissenschaften mit Kulturtheorie.

Denken beruht im Wesentlichen auf dem Sprachvermögen, und hier geht es neben Wortschatz und Grammatik auch um die Frage von metaphorischem Reden und Denken. Aller Erfahrung, sagt McGilchrist, ist Erfahrung von Differenz, und alles Wissen (da verweist er auf Gregory Bateson) beruht auf Unterscheidung. Bei Wissen und Wahrnehmung geht es also immer um Beziehungen zwischen Dingen, und vielleicht gilt dies für jegliche Form von Existenz, wie manche Aspekte der Quantenphysik nahelegen.

Jedes Ding ändert sich daher, wenn sich sein Kontext ändert. Wenn wir etwas betrachten, dann geschieht dies im Blick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zu anderen Dingen. Je nachdem, womit man etwas nun vergleicht, treten bestimmte Aspekte hervor und andere zurück. Das Modell, das unserer Auffassung zugrunde liegt, bestimmt, was uns auffällt. McGilchrist schreibt:

Wenn es der Fall ist, dass unser Verstehen eine Wirkung der Metaphern ist, die wir verwenden, dann gilt ebenso, dass es ihre Ursache ist: unser Verstehen bestimmt die Auswahl einer Metapher, anhand derer wir es verstehen. Die gewählte Metapher ist sowohl Ursache als auch Wirkung der Beziehung. Daher offenbart sich, wie wir über uns selbst und unser Verhältnis zur Welt denken, schon in den Metaphern, die wir unbewusst wählen, um darüber zu sprechen. Diese Entscheidung verfestigt unsere Teilansicht des Themas weiter. Paradoxerweise scheinen wir genötigt, etwas – einschließlich unserer Selbst – gut genug zu verstehen, um das angemessene Modell zu wählen, bevor wir es verstehen können. Unser erster Sprung bestimmt, wo wir landen.

Jedem Erkennen geht also ein mehr oder weniger geglückter intuitiver Sprung voraus, der sich nicht umgehen lässt. Als besonders fatal erweist sich dies im (Wissenschafts-)Positivismus, der in seinem Beharren auf „Tatsachen“ stets mechanistische Metaphern verwendet und auch gar keine anderen versteht. Freilich gibt es auch analoge Engführungen in der Theologie und anderen Wissenschaften. McGilchrist hält diese Verarmung für schwerwiegend.

Dieser Mangel macht übrigens einen guten Teil der Frustration aus, die man erlebt, wenn man zum Beispiel die spannende und unterhaltsame Diskussion in Gott – wo steckst Du? zwischen Harald Lesch, Manfred Spitzer und Gunkl verfolgt, wo letzterer immer wieder deutlich hinter dem Einfallsreichtum seiner Gesprächspartner zurückbleibt und sich auf Karikaturen und Polemik beschränken muss.

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Vorerst gescheiter

Passend zu den Themen dieses Tages las ich heute bei Miroslav Volf in Exclusion and Embrace:

„»Das habe ich getan«, sagt mein Gedächtnis. »Das kann ich nicht getan haben« – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“ (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 4. Hauptstück, 68).

In der Frage nach der Wahrheit steht jedoch nicht nur unser Stolz auf dem Spiel, sondern unsere Macht. Indem wir uns die Vergangenheit in Erinnerung rufen, rangeln wir um eine Position. Je verbissener der Kampf, desto weniger werden wir bereit sein, irgendeine Aussage zu akzeptieren, die unsere Macht in Frage stellt.

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Reichlich verwirrt

Diese Woche blätterte ich kurz in einem Buch, das behauptete, wir hätten alle früher schon einmal gelebt. Ganz besonders apart fand ich dabei die Aussage einer Frau, die sinngemäß sagte, sie sei sich jetzt sicher, dass sie schon einmal gelebt habe, denn ein einziges Leben reiche gar nicht aus, um so verwirrt zu sein wie sie.

Das hat mich auch gleich überzeugt…

… das Buch sofort wieder wegzulegen.

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Kapstadt und eine christliche Postmoderne

Beim gestern schon erwähnten „Runden Tisch“ war eine gewisse Grundspannung hörbar. Da war einerseits Volker Gäckles eher (er)nüchtern(d)e Frage, ob sich der Kongress von Kapstadt und das Cape Town Commitment in seinen „ethischen Passagen“, die den Schwerpunkt bilden, nicht nur der gewachsenen und verstärkt wahrgenommenen Weltverantwortung der Bewegung gestellt, sondern sich mit der Fülle und Komplexität der Themen nicht zu viel vorgenommen und zugemutet haben könnte. Auch die Frage nach einem „Machbarkeitswahn“ eher reformiert-angelsächsischer Provenienz stand im Raum, deren Kontrast die lutherisch-teutonische Selbstbescheidung der Kirche auf die Rechtfertigung des Sünders bildet.

Den Gegenpol bildete Ansgar Hörstings engagierter Aufruf, doch endlich „Maximalisten“ zu werden, wobei die konkrete Näherbestimmung seines Schlagwortes so ausfiel, dass sich kaum jemand noch freiwillig als „Minimalist“ geoutet hätte, der Gott weniger zutraut, als dass er über Bitten und Verstehen unvorstellbar viel Gutes bewirken möchte.

Zwischendurch geisterte auch immer wieder der Begriff „postmodern“ durch die Debatte, in der Regel als vages Synonym für Dinge, die uneinheitlich, widersprüchlich oder einfach nur fremd erscheinen.

Vielleicht könnte das Neue, das alle zu fassen suchten, besser mit der vorsichtigen (mehr ist es noch nicht) Abkehr von Totalitätsansprüchen aller Art beschrieben werden. Wenn das so ist, und wenn die ethischen Appelle gar nicht darauf abzielen, den Himmel auf Erden zu schaffen, sondern nur darauf, das jeweils Mögliche zu tun und damit ein Zeichen zu setzen, dass Gott (und mit ihm sein Volk) sich nicht einfach abfindet mit Unrecht, Leid und heilloser Zerrüttung, deren endgültiges Ende zwar erst Gottes neue Welt bringt, die aber auch jetzt unter den Bedingungen der alten Welt – freilich immer wieder von Neuem – überwunden werden können. dann könnte man doch gut damit leben. Und wenn das einherginge mit dem Verzicht auf theologische Totalitätsansprüche (z.B. auf Unfehlbarkeiten jeglicher Art), dann wäre damit nur die Türe für vertiefte Ökumene und einen respektvollen, aber auch klaren Dialog mit anderen Religionen geöffnet.

Der für (die Postmoderne kennzeichnende) Verzicht auf einen Totalitätsanspruch – darauf, sich der irreduzibel komplexen Welt in einer umfassenden Theorie oder auch einer alle Probleme lösenden Praxis zu bemächtigen – muss keineswegs in einen radikalen oder auch nur naiven Relativismus führen, wie mancher vielleicht minimalistisch-pessimistisch argwöhnt. Man kann ihn christlich auch als die Demut interpretieren, dass unser Tun und Erkennen Stückwerk bleibt. Als dieses Stückwerk ist es aber keineswegs wertlos und kein Grund, das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen. Insofern wäre Capetown 2010 mit seiner Tendenz zu einer Hermeneutik der Liebe und deren Praxis vielleicht tatsächlich ein Schritt in eine christliche Postmoderne.

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Emergenz – einfach erklärt

Im Wissenschaftsblog „Die Natur der Naturwissenschaft“ geht Josef Honerkamp in einem kurzen und gut lesbaren Post dem Thema „Emergenz“ nach. In einem System entstehen auf der Makroebene neue Eigenschaften, die die einzelnen Bestandteile für sich nicht aufweisen.

Er nennt zwei Beispiele aus der Physik: Gase haben Eigenschaften wie Druck und Temperatur, die sich bei den einzelnen Atomen nicht messen lassen. Und in der Quantenphysik gelten ganz andere Gesetzmäßigkeiten als der „klassischen“ Physik, deren Gesetze unseren Alltag vielfach bestimmen.

Von daher ist es plausibel, dass auch menschliches Bewusstsein nach dieser Logik funktioniert, schreibt Honerkamp:

Wenn man sich diese beiden Beispiele für Emergenz vor Augen hält, würde man sich nicht mehr wundern, wenn man eines Tages unser Bewusstsein auch als emergentes Phänomen wirklich überzeugend erklären könnte. Man erahnt aber auch, wie weit der Weg noch sein wird, ein Viel-Neuronenen-Systemen ist sicherlich viel komplexer als ein Multi-Agenten-System oder ein Viel-Quantensystem. Man wird aber mit der Zeit die verschiedensten emergenten Verhaltensweisen und Fähigkeiten bei solchen Systemen entdecken, vielleicht ist eine davon unsere Form von Bewusstsein.

Bei staatenbildenden Insekten (Stichwort „Schwarmintelligenz“) gibt es ähnliche Phänomene. Und in der Theologie- und Kirchengeschichte wird der Begriff inzwischen auch angewandt, um reduktionistische Erklärungen komplexer Entwicklungen zu überwinden.

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