Torn (9): Ein neues Dilemma

Der erneute Durchgang durch die Bibel hatte für Justin Lee ergeben: Überall da, wo Homosexualität ausdrücklich erwähnt wurde, wurde sie negativ bewertet. Andererseits war nicht eindeutig klar, dass sich diese ablehnenden Aussagen auch auf verbindliche und liebevolle gleichgeschlechtliche Partnerschaften bezogen. Justin Lee entschloss sich, im fortbestehenden Zweifelsfall lieber weiterhin allein zu bleiben, und die Texte nicht weiter hin und her zu drehen.

Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte. Die entscheidende Frage war nicht die nach dem Inhalt der einzelnen Textstellen, sondern aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet, die Frage nach (das sind jetzt meine Worte) der Mitte der Schrift. In früheren Streitfragen – ob die Bibel Sklaverei billigt oder Frauen von Gemeindeämtern ausschließt und ob man das Recht oder gar die Pflicht zu zivilem Ungehorsam hat – haben sich Christen durchaus auch über den ausdrücklichen Wortlaut einzelner Schriftstellen hinweggesetzt.

Lee findet den Schlüssel zur biblischen Ethik in Römer 13,8-10, wo Paulus die Liebe als die Erfüllung des ganzen Gesetzes bezeichnet, die bedingungslose, selbstlose, verletzliche Liebe, die den anderen so achtet und ihm so zugewandt ist, dass sie ihm nichts Böses zufügt. Wer aufrichtig liebt, tut automatisch das Richtige. Lee verfolgt den Gedanken durch das Corpus Paulinum und findet ihn immer wieder in unterschiedlichen Facetten: Der Weg der Freiheit liegt zwischen den beiden Polen der Gesetzlichkeit und des Hedonismus oder der Willkür.

Dieselbe Logik liegt auch bei Jesus zugrunde, wenn er sich über das Sabbatgebot hinwegsetzt. Für seine Zeitgenossen war das keine Kleinigkeit, sondern der unmissverständliche Beweis, dass Jesus kein echter Prophet sein konnte, sondern nur ein raffinierter Verführer. Zum Streit in Markus 3,4 merkt Lee an:

Aus der regelkonformen Perspektive ergibt das Argument Jesu keinen Sinn. Aber aus einer liebe-deinen-Nächsten-Persepektive ist der Sinn sonnenklar.

Jesus streitet also mit den Pharisäern gar nicht darum, ob das Verbot, am Sabbat bestimmte Dinge zu tun, in seinem Fall (Heilung, Ährenausraufen) zutrifft, er bestreitet also gar nicht, dass er das Sabbatgebot „bricht“. Stattdessen erklärt er, dass das Gebot „für den Menschen“ da ist, oder, um es mit Paulus zu sagen, um uns zu Christus zu führen, um dort dem Geist des Gesetzes zu begegnen, statt beim Buchstaben stehen zu bleiben.

Und so wie ein Arzt dem Patienten manchmal in einem konkreten Fall rät, den Beipackzettel mit seinen Warnungen und Dosierungsanleitungen zu ignorieren und das verschriebene Medikament anders einzunehmen, so kann der Geist Gottes Menschen in bestimmten Situationen dazu anleiten, den Buchstaben des Gesetzes zu missachten. Ob es tatsächlich Gottes Geist war, der diesen Weg gewiesen hatte, muss sich dann an der Frucht dieses Handelns erweisen.

Zweifellos gab es viele Arten homosexuellen Verhaltens, die von Selbstsucht angetrieben wurden und nicht von Agape-Liebe. Vergehen wie Vergewaltigung, Götzenkult, Prostitution, und der Missbrauch von Kindern sind klare Beispiele für die Resultate selbstsüchtiger, fleischlicher Motivation, die keine Liebe zu Gott und anderen ist.

… Aber angenommen, zwei Menschen lieben sich von ganzem Herzen, und sie wollen einander im Angesicht Gottes versprechen, sich zu lieben, zu ehren, wertzuschätzen; einander selbstlos zu dienen und zu ermutigen; gemeinsam Gott zu dienen; einander treu zu bleiben für den Rest ihres Lebens. Wären sie unterschiedlichen Geschlechts, würden wir das heilig nennen und schön und einen Grund zum Feiern. Aber wenn wir nur eine Sache ändern – das Geschlecht eines der beiden – während immer noch die gleiche Liebe, Selbstlosigkeit und Hingabe da wären, würden viele Christen es plötzlich als Gräuel bezeichnen, dem die Hölle droht.

Als ich Römer 13,8-10 wieder und wieder las, fand ich keinen anderen Weg, diese Sicht der Dinge mit dem in Einklang zu bringen, was Paulus uns über Sünde sagt. Wenn alle Gebote in der Regel zusammengefasst sind, dass wir einander lieben sollen, dann waren homosexuelle Paare entweder die einzige Ausnahme von dieser Regel, und Paulus hatte Unrecht – oder meine Kirche hatte einen schlimmen Fehler gemacht.

Mit Furcht und Zittern betritt Justin Lee Neuland, für das er noch keine Karten hat. Wenn er mit seiner Einschätzung falsch liegt, macht er sich schuldig und verleitet andere zur Sünde. Ein erschreckender Gedanke! Aber was, wenn er umgekehrt Recht und die kirchliche Tradition sich geirrt hatte? Was, wenn sie zahllose Menschen unnötigerweise vor den Kopf gestoßen und ihnen den Weg zum Glauben verbaut hatte? War es dann in Ordnung, einfach den Mund zu halten?

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Torn (8): Zurück zur Bibel

Der Kulturkampf zweier Lager und Lebenskonzepte, die nach eigener Überzeugung die jeweils andere ausschließen, stellt Justin Lee vor die Frage, auf welche Seite er sich schlägt. Die christliche Subkultur ist ihm bislang jede Antwort auf die Frage, wie er denn nun als (alleinstehender) mit seiner homosexuellen Orientierung leben solle, schuldig geblieben.

Bei seiner Suche in der Bibel beginnt er in Genesis 19, mit dem Untergang Sodoms. Und er stellt fest, dass Homosexualität dort keineswegs als das Hauptproblem oder die Kardinalsünde der Bewohner von Sodom erscheint. Dass diese geschlossen über Lots Gäste herfallen wollen, ist kaum sinnvoll als Folge gleichgeschlechtlichen Begehrens zu verstehen, sondern als ein Akt gewaltsamer Erniedrigung Fremder. Darauf deuten auch die auffälligen Parallelen zu Richter 19 hin. Über auf Liebe und gegenseitige Treue hin angelegte Beziehungen zwischen Partnern gleichen Geschlechts sagt die Geschichte nichts aus.

Ähnlich ist es in Levitikus 18,22. Lee erkennt schnell, dass die gern verwendete Unterscheidung zwischen Kultgesetzen und Moralgesetzen hier nur zu künstlichen und willkürlichen Resultaten führt, weil den Texten selbst ein solcher Unterschied völlig fremd ist. Selbst konservative Exegeten (er zitiert Robert Gagnon) sind hder Auffassung, es gehe bei diesem Verbot um Tempelprostitution. Damit wäre es erstens nachvollziehbar, zweitens aber auf einen Kontext bezogen, der heute kaum anzutreffen ist.

Der große gedankliche Bogen, den Paulus in Römer 1,18-32 schlägt, wirft eine Menge Fragen auf. Zum Beispiel, ob Homosexualität als Strafe Gottes gegenüber Menschen anzusehen ist, die sich von ihm abkehren. Wie aber könnte diese Strafe jemanden treffen, der im Glauben groß geworden war und ihn nie hinter sich gelassen hatte? Von wem spricht Paulus also da in der dritten Person Plural? In den Kommentaren zu dem Abschnitt wird immer wieder auf heidnische Kulte Bezug genommen. Und „Götzendienst“ war der pauschale Grundvorwurf des religiösen Judentums gegenüber der heidnischen Umwelt. Paulus greift diese relativ grobe Polemik, der die meisten Juden ohne Zögern zustimmen würden, in Römer 1 auf, um ihr negatives Urteil über die heidnischen Zeitgenossen in 2,1 dann gegen sie selbst zu wenden – mit demselben Überraschungseffekt, den Nathan gegenüber König David schon erfolgreich eingesetzt hatte.

Beim Verständnis von 1.Kor 6,9-11 hängt dagegen alles an einem in seiner Bedeutung strittigen Wort, dem griechischen Begriff arsenokoitai, der außer in 1.Tim 1,10 nirgends mehr auftaucht. Unter diesen Bedingungen ist seine Bedeutung schwer zu klären. Geht es wieder um Kultprostitution, geht es um die griechische „Knabenliebe“ (ein verheirateter, älterer Mann hält sich einen jugendlichen Liebhaber), oder werden tatsächlich auch Liebesbeziehungen auf Gegenseitigkeit und Augenhöhe, wie es sie heute gibt, damit abgelehnt? Vorschnelle Verallgemeinerungen sind problematisch. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, das negative Urteil der Bibel über „Zöllner“ auf unsere heutigen Finanz- und Zollbeamten zu übertragen.

Hätte irgendeiner dieser Schriftstellen irgendetwas zu verantwortlichen und treuen homosexuellen Beziehungen gesagt, pro oder contra, oder über ernsthafte Christen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen, oder von der Notwendigkeit, dass Menschen wie ich allein bleiben, hätte ich das so hingenommen. Aber das taten sie nicht.

Andererseits war zumindest bei dem Begriff arsenokoitai nicht zweifelsfrei klar, dass er sich nicht auch auf homosexuelle Partnerschaften beziehen könnte. Eine Pattsituation: Man konnte es so herum betrachten oder andersherum. Lee fragt sich, ob er den Texten vielleicht voreingenommen begegnet sein könnte und stellt eine doppelte Tendenz bei sich fest: Den Wunsch nach einem Partner und zugleich die Angst, all das in Frage zu stellen, was ihm über die Bibel und Homosexualität beigebracht worden war. Kann man diesen inneren Knoten entwirren?

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Torn (7) Die Bombe im Gepäck

Je länger, je mehr hat Justin Lee den Eindruck, dass seine evangelikalen Mitchristen Fehlinformationen über Homosexualität aufgesessen sind, und dass aufgrund der Fehlinformationen nun wohlmeinende Menschen dazu beitrugen, dass die Fronten, zwischen denen er und andere sich wiederfanden, zunehmend härter und undurchlässiger wurden.

Er beschreibt eine Szene aus einem Actionfilm: Die Protagonisten verfolgen einen Lieferwagen, in dem Terroristen angeblich eine Bombe versteckt haben, quer durch einen belebte Stadt. Als sie den Wagen endlich einholen und nachsehen, stellen sie fest, dass er leer ist. Die Bombe befand sich schon die ganze Zeit in ihrem eigenen Auto, und nun haben sie selbst den Sprengsatz ans Ziel gebracht. Ein Bild für konservative Christen und ihren verbissenen, oft unbarmherzigen Kulturkampf, der viele vor den Kopf stößt:

Der Sauerteig der Fehlinformation über Homosexuelle hat sich in der ganzen Kirche ausgebreitet, und er hat die Kirche nicht nur zum mutmaßlichen Feind der Homosexuellen gemacht, sondern auch zu ihrem eigenen schlimmsten Feind.

Freilich betrifft das nicht alle Christen. Lee räumt ein, dass er den Begriff „Christen“ bis dahin für den Evangelikalismus als wichtigste Kraft im nordamerikanischen Protestantismus verwendet hat (was wiederum auch dem Sprachgebrauch vieler Evangelikaler entspricht). In theologisch liberalen Kreisen hat man als Homosexueller keine Probleme. Der Preis dieser Freiheit aber ist für ihn eine theologische Unverbindlichkeit und Schwammigkeit in ganz zentralen Glaubensfragen, etwa bei der Auferweckung Jesu von den Toten (theoretisch liegt zwischen diesen beiden Polen noch ein weites Feld, das kommt aber an dieser Stelle nicht in den Blick).

Er lernt parallel zu den christlichen Aktivitäten die Schwulen- und Lesbenszene kennen, die sich auch organisiert hat und sich zum Teil aggressiv gegen die „Christen“ positionierte. Dort wird er mit seinen eigenen Hemmungen und Verkrampfungen konfrontiert, der Fremdheit, die er aus seiner evangelikalen Kinderstube mitbringt. Zögernd begleitet er ein lesbisches Paar in eine Szenebar – es wird ein Kulturschock vor allem insofern, als er als braver Southern Baptist das Rauchen, den Alkohol und das Tanzen überhaupt nicht gewohnt und schon allein deshalb alles andere als entspannt war. Andererseits muss er sich dort keiner Avancen oder gar Übergriffe erwehren.

Die Spannung zwischen den beiden Welten, der verinnerlichte Kulturkampf, stürzt Justin Lee schließlich in eine tiefe Krise. Die Lösung findet er nicht in Medikamenten, sondern in dem Entschluss, sich nicht mehr zu fürchten und sich nicht mehr durch die bestehenden Konfrontationen definieren zu lassen. Um die Frage nach seinem weiteren Weg im Leben zu klären, greift er erneut zur Bibel.

(hier geht’s zu Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5 und Teil 6)

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Torn (5): Ein schwerer Entschluss

Der besondere Charme dieses Buches liegt darin, dass Justin Lee seine Leser mitnimmt auf einen Weg. Es ist keine abstrakte, trockene und scheinbar emotionslos-objektive Theorie, sondern eine aufrichtige, intensive Suche, die über verschlungene Pfade führt. Man bekommt nicht einfach ein Resultat präsentiert, sondern vollzieht beim Lesen die einzelnen Schritte nach, die dahin führten, und was es den Autor kostete.

Nach seiner Abkehr von der Ex-Gay-Bewegung und der bis dahin verlockenden Vorstellung, er könne „hetero“ werden, sieht Lee sich vor der Entscheidung, seine Homosexualität zu verleugnen oder zu unterdrücken, sich auf eine homosexuelle Beziehung einzulassen, oder allein zu bleiben. Aber das würde nicht nur den Verzicht auf Sex bedeuten, sondern auch auf innige Nähe, auf Anerkennung und ungeteiltes Dasein füreinander. Sogar Paulus, der doch die Ehe mehr als ein Zugeständnis betrachtet hatte, war klar, dass wenige seinem Ideal der Ehelosigkeit gewachsen waren, schreibt Lee und fügt hinzu:

Menschen heiraten nicht, weil sie dann das Recht auf Sex haben; sie heiraten aus Liebe und um der Gelegenheit willen, mit jemand anders ein gemeinsames Leben aufzubauen. Sie heiraten, weil es dann, wenn alles im Leben schief geht und die Probleme am Größten sind, tröstlich ist, wenn man eine Hand halten kann. Weil in der Dunkelheit der Nacht ein Bett sich viel weniger leer anfühlt, wenn da jemand neben dir liegt. (S. 103)

Aber eine echte Alternative scheint nicht in Sicht. Über die Frage, ob denn wenigstens eine nichtsexuelle, romantische Beziehung zu einem Mann erlaubt sei, schweigt sich die Bibel aus. Vielleicht gibt es da ohnehin keinen großen Unterschied? Ist also das zölibatäre Leben der Wille Gottes? Lee schreibt:

Ich habe keine Worte, die beschreiben könnten, wie sehr diese Frage auf mir lastete. Ich wusste, ich könnte mich nicht weiterhin als Christ bezeichnen, wenn ich nicht bereit war, alles hinzunehmen, was Gott für mich geplant hatte, selbst wenn das ein Leben in Einsamkeit bedeutete. Ich wusste auch, ich konnte Gott nicht belügen und so tun, als wäre mir das alles recht, um dann nach einer anderen Lösung zu suchen. Gott kennt dein Herz. Du kannst Gott nicht belügen. … schließlich kam ich zu der unausweichlichen Schlussfolgerung: Ich musste Gott folgen, was auch immer das hieß. (S. 104)

Er spricht das in einem sehr ehrlichen, berührenden Gebet aus und spürt, wie eine Woge des Friedens über ihn kommt.

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Torn (4) – Erfahrungen mit der „Ex-Gay-Bewegung“

Justin Lees Eltern, damit beginnt das sechste Kapitel von „Torn“, nehmen ihn auf eine Konferenz über Homosexualität mit. Dort hört er die im letzten Post kurz beschriebene These, es handele sich um die (prinzipiell therapierbare) Folge einer gestörten Elternbeziehung. Seine Einwände, das treffe unter anderem auch auf seine Lebensgeschichte nicht zu, finden kein Gehör. Am Ende fragt er sich:

Was für ein Dienst nimmt jemanden, der denkt, er hatte ein wunderbares Verhältnis zu seinem Vater, und überzeugt ihn davon, dass es in Wirklichkeit schlecht war? Das fühlte sich für mich immer weniger nach einem Werk Gottes an.

Er begegnet einer merkwürdigen Sprachverwirrung in der Ex-Gay-Szene. „Homosexuell“ wurde nicht (wie allgemein üblich) so verstanden, dass jemand sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt, sondern als – in der Regel recht exzessiv ausgelebtes – sexuelles Verhalten. Folglich bezeugten etliche eine Veränderung ihres Lebensstils und der Ausstieg aus einer bestimmten kulturellen Szene, aber das bedeutete keineswegs, dass sich damit auch die sexuelle Orientierung verändert hätte. In der Regel war das offenbar nicht der Fall. Dennoch glaubten viele wohlmeinende Christen, dass tausende aus ihrer Homosexualität ausgestiegen seien und es damit auch erwiesen sei, dass ihr Freund oder Angehöriger darauf hoffen dürfe.

Lee erzählt in dem Kapitel unter anderem von seinem Freund „Terry“, der von diesen Versprechen angezogen verschiedene Therapiebemühungen unternahm. Terry war verwitwet, aber schon seine erste Ehe war er in der vergeblichen Hoffnung eingegangen, dass er seine Frau, die ihm eine gute Freundin war, im Laufe der Zeit körperlich anziehend finden würde. Nun riet man ihm zu, es erneut zu versuchen. Terry heiratete wieder, aber die zweite Ehe zerbrach, weil Terrys Empfinden sich nicht änderte. Er wandte sich verbittert über die Augenwischerei von der Kirche ab.

Wo die Wirklichkeit dem Wunschdenken geopfert wird (und man das mit „Glauben“ verwechselt), da wird es schwierig, ehrlich zu bleiben. Lee erinnert an eine Reihe von Skandalen der Ex-Gay-Bewegung: Colin Cook von „Homosexuals Anonymous“, der sich 1982 für geheilt erklärte, aber einem Zeitungsbericht zufolge noch acht Jahre später sexuellen Kontakt hatte zu Leuten, die er begleitete. Michael Busseé und Gary Cooper von Exodus International, die die dürren Erfolge ihrer Arbeit ins denkbar beste Licht zu rücken wussten – und sich dann in einander verliebten. John Paulk, der Vorzeigemann von Exodus International und Focus on the Family wurde von einem Aktivisten in einer Schwulenbar in Washington D.C. erkannt. Inzwischen hat Exodus International deutlich leisere Töne angeschlagen, damit aber auch etliche Mitgliedsverbände verloren.

Traurig bleibt in jedem Fall, dass allzu vollmundige Versprechungen vielen Menschen so viel Leid zugefügt haben, und dass das Versteckspiel offenbar noch nicht zu Ende ist.

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Torn (3): Warum sind manche Menschen homosexuell?

Für Justin Lee ist das aufgrund seiner Lebensgeschichte eine Frage geworden. Der eigene Wunsch nach Veränderung und die Forderungen aus seinem konservativ-evangelikalen Umfeld haben immer auch mit bestimmten Erklärungen des Phänomens Homosexualität zu tun. Zugleich war für Lee klar, dass seine persönliche Erfahrung bestimmte Theorien nicht bestätigt. Dazu zählen die folgenden drei Behauptungen, die er im fünften Kapitel von Torn. Rescuing the Gospel from the Gays-vs.-Christians Debate referiert (ich gebe das hier sehr gerafft und damit potenziell verkürzt wieder, bevor sich also jemand empört, bitte erst im Original nachlesen!):

1. Menschen sind homosexuell, weil sie sich dazu entschlossen haben. Nichts hätte ihm aufgrund seiner Herkunft ferner gelegen als das, schreibt Justin Lee dazu.

2. Menschen werden zu Homosexualität verführt: Auch das trifft in seinem Fall nicht zu, und so ist es wohl auch in den meisten anderen Fällen nicht.

3. Es liegt am Verhältnis zu den Eltern: Diese These stellte der Psychoanalytiker Irving Bieber in den sechziger Jahren auf, später wurde sie von der Theologin und Psychologin Elizabeth Moberly, später dann von Joseph Nicolosi vertreten: Ein schwieriges Verhältnis zu einem distanzierten Vater (und eine „gluckende“ Mutter) verursachen bei Heranwachsendes ein inneres Defizit, das dann durch homosexuelles Begehren kompensiert wird. Nun ist das ja keine ganz seltene Konstellation, die auch keineswegs in der Mehrheit der Fälle die beschriebene Wirkung entfaltet, und Justin Lee ist der lebende Gegenbeweis. Dabei hätte er diese Thesen gerne geglaubt, weil sie die theoretische Grundlage für viele Therapiebemühungen bilden. Bei seinen Nachforschungen fand Justin Lee aber keine glaubwürdigen Belege für die Stichhaltigkeit dieses Ansatzes.

Zuletzt wendet sich Lee von der Psychologie zur Biologie. Mehrere Studien kamen zu dem Ergebnis, dass bei Homosexuellen bestimmte Strukturen im Gehirn eher dem ähneln, was in der Regel beim jeweils anderen Geschlecht als typisch gilt. Des bedeutet nun nicht, dass schwule Männer ein Frauengehirn hätten und lesbische Frauen ein Männergehirn, aber es gibt eben charakteristische Ähnlichkeiten. Sie könnten vom Hormonspiegel während der Schwangerschaft beeinflusst worden sein. Es ist anscheinend nicht ganz sicher, was nun Ursache ist und was Wirkung, die meisten Forscher gehen aber eher davon aus, dass die Unterschiede in der Gehirnstruktur schon von Geburt an da waren. Sie wirken sich auf Sprachvermögen und räumliche Vorstellung aus – an diesen Punkten unterscheiden sich heterosexuelle Frauen und Männer ja bekanntermaßen. Kleinere Unterschiede am Körper wie Länge der Finger, die Reaktionszeit beim Blinzeln oder die Häufigkeit von Linkshändigkeit wurden auch festgestellt.

Dazu kommt der „Ältere-Bruder-Effekt“: Statistisch gesehen ist Homosexualität häufiger bei Männern anzutreffen die mindestens einen älteren Bruder von der gleichen Mutter haben. Er ist auch dann nachweisbar, wenn der ältere Bruder nie im gleichen Haus lebte. Zu bestimmten Zeiten der vorgeburtlichen Entwicklung könnte das den Hormonhaushalt der Mütter beeinflusst haben und damit die Gehirnstruktur des werdenden Kindes. Diese These vertritt zum Beispiel Simon LeVay.

Lee hält den biologischen Ansatz für plausibler, derzeit aber ist noch nichts zweifelsfrei erwiesen. Soviel sollten sich alle Beteiligten eingestehen. Nun besteht die große Versuchung, dass jeder sich die Studie herauspickt, die den eigenen Standpunkt bestätigt und den gegnerischen „widerlegt“. Nur sind diese Überzeugungen oft genug theologische Urteile, die auf einer ganz anderen Ebene liegen als empirische Studien (zur Diskussion im deutschsprachigen Raum vgl. diese Übersicht). Welche Blüten das treiben kann, das zeigen Justin Lees Erfahrungen mit der „Ex-Gay-Bewegung“, die er im folgenden Kapitel ganz ausführlich schildert.

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Torn (2) – Der lange Weg zum offenen Wort

Justin Lee erzählt in Torn. Rescuing the Gospel from the Gays-vs.-Christians Debate seine Lebensgeschichte: Er wächst in einem liebevollen Elternhaus und in einer lebendigen, konservativen Gemeinde auf. Er hat Erfolg in der Schule und ist überall beliebt. Sein Lebenstraum ist es unter anderem auch, einmal zu heiraten und seinerseits eine Familie zu gründen. Doch dann stellt er fest, dass er homosexuell ist.

Lange kann er sich gar nicht eingestehen, wie er tatsächlich empfindet. Er freundet sich mit einem Mädchen an und die beiden gehen miteinander aus. Als ihm ein Freund offenbart, er sei bisexuell, versucht er es eine Weile mit dieser Selbstbeschreibung; aber je länger, desto deutlicher wird ihm klar, dass er sich definitiv nicht zu Frauen hingezogen fühlt. Er spricht mit der Freundin darüber, irgendwann nach langem Zögern auch mit seinen Eltern.

Die nächsten Jahre sind geprägt von der Hoffnung, dass sich alles noch ändert, und der Suche nach Mitteln und Wegen dazu. Er berichtet von Seelsorgegesprächen, Selbsthilfegruppen und allen möglichen Büchern. Seine Eltern stehen zu ihm, teilen und unterstützen den Wunsch nach Veränderung und haben die Sorge, dass ihr Sohn massiv abgelehnt werden könnte, ganz besonders im Umfeld der Gemeinde.

Am Ende des vierten Kapitels zählt Lee unterschiedliche Aussagen auf, mit denen Eltern besser nicht auf die Offenbarung reagieren sollten, dass ihr Kind homosexuell ist:

  • „Sag das bloß niemand“ wäre ein Satz, der Mensch in Angst und Isolation treibt und verhindert, dass sie lernen, offen über sich zu reden.
  • „Du bist nicht so wie diese Leute“ bezieht sich oft auf negative Klischees, die Eltern mit dem Begriff „homosexuell“ assoziieren, oft kann das bei dem Betroffenen die Sorge auslösen, dass es all die negativen Urteile auch zu erwarten hat, falls es seine Orientierung nicht unterdrückt oder verleugnet.
  • „Wie kannst du uns so etwas antun?“ ist ein Satz, mit dem die Familie dem Kind den schwarzen Peter zuschiebt und sich selbst als Opfer betrachtet, statt die in einem solchen Moment nötige Hilfe und Unterstützung zu bieten. Eltern machen statt ihres Kindes sich selbst zum Mittelpunkt.
  • „Was haben wir nur falsch gemacht?“ tappt auch in die Schuld-Falle, nur umgekehrt. Und wieder schwächt es die Beziehung zum eigenen Kind, die in diesem kritischen Moment doch gestärkt werden müsste.

Die letzte Reaktion hat mit der Frage nach den Ursachen von Homosexualität zu tun. Diesem Thema widmet sich Lee im nächsten Kapitel.

 

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HauptSache die Ordnung stimmt?

Das Gender-Thema bzw. dessen eigentümliche Behandlung in bestimmten Teilen des bunten christlichen Kosmos bewegt die Gemüter in meinem Bekanntenkreis. Krish Kandiah setzt sich hier mit Tim Keller auseinander, ein anderer Repräsentant der „Gospel Coalition“ hat Michael Frost beschäftigt, der auf einen Blogpost von Michael Bird verweist, es ist kein Geringerer als John Piper.

Geht es vielfach (etwa in der katholischen Kirche) nur um die Frage, ob Frauen Pfarrerinnen werden dürfen oder Bischöfinnen, so steht hier bei Piper die Stellung der verheirateten Frau ihrem Ehemann gegenüber im Zentrum. Piper musste eine Aussage aus diesem Video klarstellen, in der er auf die Frage, was eine Frau denn tun solle, wenn ihr Ehemann sie misshandelt, geantwortet hatte, sie müsse das hinnehmen (sofern der Mann sie nicht zu verbotenen Dingen zwingen wolle) und könne sich ja gegebenenfalls an „die Gemeinde“ wenden, deren Aufgabe es dann sei, den Ehemann zur Ordnung zu rufen.

In seiner Klarstellung schreibt Piper nun, dass sich freilich auch Männer an die staatlichen Gesetze halten müssten und Frauen daher zu ihrem Schutz auch die Behörden hinzuziehen könnten, ohne sich der Insubordination schuldig zu machen. Das ist, so vermerkt Bird, schon mal erfreulich.

Aber ist es auch genug? Doch eher nicht! Piper schreibt unter anderem (zitiert bei Bird): „Dass sich eine Frau um Christi willen dem bürgerlichen Recht unterordnet, kann ihre Unterwerfung unter die Forderung eines Ehemanns aufheben, sich von ihm verletzen zu lassen.“

Ich finde dieses Denken in vertikalen Autoritätsstufen verstörend. Piper sagt doch im Grunde, dass eine Frau unter dem Mann steht und diesem selbst dann, wenn sie in der Beziehung Schaden nimmt, noch zu folgen hat – es sei denn, eine höhere Instanz greift zu ihren Gunsten ein. Aber er sagt eben kein Wort davon, dass Frauen von sich aus ihren Männern Grenzen setzen dürfen und dass Männer diese Grenzen zu respektieren haben.

Wenn Frauen dieses Unterwerfungsdenken einmal verinnerlicht haben, kann man dann (nach allem, was wir über Missbrauch wissen) noch ernsthaft davon ausgehen, dass sie sich im Fall von psychischer oder physischer Misshandlung durch das Familienoberhaupt tatsächlich an die Polizei wenden oder anderweitig Hilfe suchen? Mir scheint das alles andere als sicher.

Aber in einer postmodernen, pluralen Gesellschaft sind eben viele Lebensentwürfe erlaubt. Und die Bestsellerlisten des Buchhandels verraten ja auch, dass Unterwerfung und bewusst zugefügter Schmerz schwer im Trend liegen. Das jetzt psychologisch auszudeuten überlasse ich lieber den Expertinnen. Die Ironie an der ganzen Sache könnte aber eben die sein, dass diese Art von Theologie gerade von dem lebt, was sie vordergründig bekämpft, nämlich dem modernen Relativismus, der diese patriarchalischen Welten aufs Private begrenzt und die Tür zu einem Ausstieg auch ständig offen hält. So bekommt das alles etwas Spielerisches, und vielleicht sollte man es auch so betrachten, dann erspart man sich die Empörung.

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Tödliche Modernisierung

Vor ein paar Tagen hat der rein theoretische (das macht es freilich nicht besser) Vorschlag zweier australischer Wissenschaftler, Kinder noch nach der Geburt auf elterlichen Wunsch zu töten, für einen Proteststurm im Netz.

Am Freitag war in der Zeit diese Geschichte einer jungen Inderin zu lesen, die ihren Mann verklagte, weil der sie mit allen Mitteln zu einer Abtreibung ihrer Zwillingsmädchen zwingen wollte. Die Geschichte ist ein Beispiel für das Schicksal von Frauen in vielen asiatischen Ländern und den unabsehbaren Folgen dieser Katastrophe. Von einem Proteststurm habe ich bislang nichts bemerkt – dabei geht es hier nicht um Ideen, sondern um millionenfache Praxis.

Der Artikel zeigt einige überraschende Zusammenhänge auf: Hatte man früher noch gehofft, Bildung und technischer Fortschritt würden die Missachtung von Frauen und Mädchen allmählich beseitigen, so steht nun fest, dass das Gegenteil der Fall ist:

… drei Dinge haben die Lage der schwangeren Frau verändert: das Ultraschallgerät, das Kalkül der Kleinfamilie und die Abtreibungspille. Heute gibt es kein Geheimnis mehr um das Geschlecht des Kindes. Der Mann zwingt die Schwangere zur Ultraschalluntersuchung. Und wenn es ein Mädchen ist, kann die Mutter nicht mehr so leicht sagen: Dann versuchen wir es später noch mal. Denn auch sie möchte nur noch ein, höchstens zwei Kinder. Früher schon war eine Tochter wegen der höheren Aussteuer eine zusätzliche Last; heute fallen außerdem noch Schul- und Erziehungskosten für sie an. Außerdem will die Familie neben Kindern auch ein neues Auto. Deshalb müssen es weniger Kinder sein – und mindestens ein Sohn muss als Stammhalter her.

Nicht obskures Brauchtum oder irrationale Mythen aus grauer Vorzeit sind die treibende Kraft hinter diesen Morden, sondern die sozialen Aufstiegsträume. Religion (auch der Islam und der Hinduismus) hatten diese Tendenz bisher noch gebremst, so der Artikel. Der Verlust solcher Bindungen hat nun zum ungebremsten Geschlechtermord geführt. Die Konsumgesellschaft, so lautet das bittere Fazit, hat die Sitten verdorben:

»Die Motive für den Mord an der ungeborenen Tochter entstammen einer sehr zeitgemäßen Einstellung – man will große Hochzeiten, große Geschenke und einen stolzen Sohn, aber keine wirtschaftlich unnütze Tochter«, sagt Shanty Sinha, Vorsitzende der Nationalen Kommission für Kinderrechte in Indien. »Es geht um eine Brutalisierung der individuellen Einstellung zum menschlichen Leben, wie sie erst die Modernisierung hervorbringen konnte.«

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Männlich/weiblich/wirklich nützlich…?

Wir hatten diese Woche schon eine muntere Diskussion über John Pipers Thesen zu einem „maskulinen“ Christentum. Mein Standpunkt war und ist, dass die Anwendung dieser Begrifflichkeit auf Gott (der der Kirche ein „masculine feel“ verordnet)  ein theologisch problematisches Unternehmen ist, das man aus gutem Grund unterlassen sollte. Ähnlich urteilt auch Scot McKnight als bewusster Evangelikaler:

This is a colossal example of driving the whole through a word (“masculine”) that is not a term used in the New Testament, which Testament never says “For Men Only.” Pastors are addressed in a number of passages in the NT, and not once are they told to be masculine.

Ich will Piper jetzt nicht böswillig in die Pfanne hauen, aber da er sich auch diesseits des großen Teichs einer gewissen Anhängerschaft erfreut, darf man schon einmal einen Blick darauf werfen, was für Vorstellungen von Kirche und Christentum hier befördert werden (die Entscheidung des Bundes der FeG für Pastorinnen mit solchen Diskussionen über den Abfall von der reinen biblischen Lehre liegt ja noch nicht so lange zurück).

Piper hat seine Sicht in acht Thesen gefasst; für alle, die an meiner korrekten Wiedergabe zweifeln, hier erst einmal der O-Ton:

1. A masculine ministry believes that it is more fitting that men take the lash of criticism that must come in a public ministry, than to unnecessarily expose women to this assault.

2. A masculine ministry seizes on full-orbed, biblical doctrine with a view to teaching it to the church and pressing it with courage into the lives of the people.

3. A masculine ministry brings out the more rugged aspects of the Christian life and presses them on the conscience of the church with a demeanor that accords with their proportion in Scripture.

4. A masculine ministry takes up heavy and painful realities in the Bible, and puts them forward to those who may not want to hear them.

5. A masculine ministry heralds the truth of Scripture, with urgency and forcefulness and penetrating conviction, to the world and in the regular worship services of the church.

6. A masculine ministry welcomes the challenges and costs of strong, courageous leadership without complaint or self-pity with a view to putting in place principles and structures and plans and people to carry a whole church into joyful fruitfulness.

7. A masculine ministry publicly and privately advocates for the vital and manifold ministries of women in the life and mission of the church.

8. A masculine ministry models for the church the protection, nourishing, and cherishing of a wife and children as part of the high calling of leadership.

Auf Deutsch und in meinen Worten:

  • Männer verhindern wo immer möglich, dass Frauen beißender Kritik ausgesetzt werden, die die öffentliche Verkündigung des Evangeliums unweigerlich nach sich zieht
  • Männer vermitteln der Kirche „biblische“ Lehre, und zwar „mutig“ und mit großem Nachdruck (!).
  • Männer bringen das „Kantige“ des Evangeliums zur Geltung und reden Leuten ins Gewissen
  • Männer reden über unbequeme Wahrheiten, besonders zu denen, die nicht hören wollen (an erster Stelle steht bei Piper dann auch erwartungsgemäß die Hölle als eine solch unbequeme Wahrheit)
  • Männer machen die „Wahrheit der Bibel“ in Kirche und Welt zu einer dringlichen Sache (das Wortfeld des „Drängens“ wird hier dreimal bemüht!)
  • Männer jammern nicht, wenn sie auf Widerstände treffen beim Versuch, Prinzipen, Strukturen und Pläne für eine fruchtbare Kirche umzusetzen, sondern sie begrüßen das
  • Männer sorgen dafür, dass Frauen in der Kirche mitarbeiten können (NB: von Leitung steht da nichts…)
  • Männer betrachten es als Teil ihrer Leitungsaufgabe, vorbildlich für Frauen und Kinder zu sorgen

Welches Ideal von Mann- und Frausein spricht nun erstens aus diesen Thesen und inwiefern entspricht das zweitens dem Geist des Evangeliums? Zum ersten:

  • „Männlich“ ist der penetrante Streiter für die öffentliche Wahrheit
  • „Männlich“ ist der bibel- und prinzipientreue Erzieher und Lehrmeister
  • „Männlich“ ist der starke Beschützer und Fürsprecher von Frauen und Kindern

Das alles charakterisiert möglicherweise die Person John Piper ebenso wie den „unverblümten, männlichen Mr. Ryle“ aus dem 19. Jahrhundert, den er seinen Männern als Vorbild vor Augen stellt. Aber ist das denn maskulin – im Unterschied zu allem, was man mit Weiblichkeit verbindet? Besteht in diesen Dingen notwendigerweise ein Gefälle zwischen Frauen und Männern – sind Männer also mutiger, wahrheitsliebender, lehrbegabter und leidensfähiger als Frauen oder sollten sie es zumindest sein, wenn sie Männer „nach dem Herzen Gottes“ sein wollen? Oder doch eher die Kultur des Biedermeier? Und müssen/sollten christliche Leiter (so lässt sich die letzte These ja verstehen) eine große und glückliche Familie haben – Paulus hatte das ja wegen des entbehrungsreichen Dienstes (von dem Pipers erste These vermutlich spricht) in Frage gestellt, und Jesus war meines Wissens auch unverheiratet?

Zwar spricht Piper in seiner Rede durchaus davon, dass Frauen all das auch dürften, was er hier beschreibt, aber schon die erste These deutet an, dass es eigentlich nicht notwendig sein sollte, dass Frauen solche Dinge tun, wie sich öffentlich in Konflikte zu begeben, weil ihnen die Männer diese Arbeit schon abgenommen haben sollten. Erinnert das nur mich verdächtig an die galante Entmündigung der Dame durch den Kavalier?

Zweitens: Wenn überhaupt, dann ist diese Darstellung von „maskuliner Leitung“ in der Kirche einer einseitigen Wahrnehmung geschuldet. Zwei Beispiele nur: Statt Menschen anzupredigen und unter Druck zu setzen spricht Paulus in 2. Kor 5 etwa von der werbenden Bitte des Apostels an die Menschen, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Jesus, durchaus ein streitbarer Mensch, kann sich in Matthäus 23 weinend als „Glucke“ bezeichnen, die ihre Küken vor drohender Gefahr retten will. Pipers in aggressiver Diktion gehaltene Thesen lassen dafür wenig Spielraum, da wird für meinen Geschmack eher auf Konformität gedrängt statt auf Mündigkeit.

McKnight verweist als Antwort auf diese Diskussion unter anderem auf ein Buch von Beverly Gaventa mit dem bemerkenswerten Titel Our Mother Saint Paul. Ihr geht es nicht darum, Gott oder bestimmte Verhaltensweisen als maskulin oder feminin zu qualifizieren, sondern zu zeigen, wie Paulus für seinen Dienst an der Gemeinde neben väterlichen auch mütterliche Metaphern verwenden kann: Das Stillen (1Thess 2,7f.; 1Kor 3,1-3), das Gebären (Gal 4,17-20) und die kosmische Wiedergeburt (Römer 8,18ff.) mit den dazugehörigen Wehen.

Ob die Klassifizierung bestimmter hier beschriebener Verhaltensweisen als „maskulin“ uns weiterbringt, darf getrost bezweifelt werden. Auch Frauen sollen selbstverständlich tapfer streiten, mit oder ohne Männer in der Öffentlichkeit stehen oder sich schützend vor Schwächere stellen, gegebenenfalls auch vor in ihrer „Maskulinität“ verunsicherte Männer. Und auch Männer dürfen sich ein Beispiel am mütterlichen Apostel nehmen oder am gluckenden Jesus. Und mit den biblischen Wahrheiten (was auch immer der einzelne darunter versteht) darf man unaufdringlicher umgehen, getrost leiser davon sprechen, als das oben gefordert wird.

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Altes Lied, neue Strophen

Das Thema wird offenbar nie langweilig: Die Klage der Frauen über die Männer und die Klage der Männer über die Klage der Frauen. Der Feuilleton-Beitrag „Schmerzensmänner“ von Nina Pauer in der Zeit hat zahlreiche Antworten erhalten, unter anderem von Ina Deter und Johan Korndner in der taz und Christoph Scheuermann vom Spiegel. Persönlich fand ich aber die Replik aus Pauers eigenen „Stall“ am interessantesten. Sie stammt von Meli Kiyak, die zur Qual der Wahl im Zeitalter des totalen Konsums kritisch bemerkt:

In der Generation der 30- bis 40-Jährigen findet sich doch wirklich jeder, jede und alles, je nach Milieu, Bildung, Herkunft, Wohnort. Wer es nicht glaubt, schaue sich um. Es gibt Musikklubs, die nach Musikrichtungen unterteilt sind, es gibt Restaurants, die nur Knoblauchgerichte oder milchfreie Speisen anbieten, es gibt Boutiquen, die für schwangere Frauen ausgerichtet sind, und Kaufhäuser, die ausschließlich Geringverdiener im Blick haben, es gibt Spartenfernsehen, Spartenradio, Spartenbuchhandlungen, Spartenkontaktbörsen […]

Das Überangebot führt allerdings dazu, dass man mit seiner persönlichen Checkliste loszieht: »Wie soll er aussehen, passt er zu meinen Lebensmittelunverträglichkeiten und den Haustieren, wie viele Kinder und Ehefrauen darf er höchstens alimentieren? Wie präsentiert er sich bei Facebook, wie groß, wie dick ist er? Nein, nicht schon wieder einer mit Schuppenflechte, mit dem Letzten musste man auch schon auf gemeinsame Schaumbäder verzichten, und wenn man etwas liebt, dann Schaumbäder…« Allzu verständlich, dass der durch Überfluss verwöhnt Suchende seine Kriterien nicht ausgerechnet bei der Partnerwahl einschränken wird. Also macht man sich auf die Suche nach dem Richtigen, der zum richtigen Zeitpunkt alles richtig macht. Wenn Männer alles prima können, Geld verdienen, renovieren, sich um die Verhütung kümmern, Parfum benutzen, kann es nur noch an Details scheitern. Dann geht es nur um Melancholie, Ratlosigkeit, Nervosität und so. Wer Herrn Optimal und Fräulein Perfekt nicht findet, der schraubt nicht etwa seine Kriterien herunter, sondern verzweifelt gleich grundsätzlich. Wer so tickt, ist kein Mensch, sondern eine Suchmaschine.

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Warten auf Volf (1)

Mit der Übersetzung von Miroslav Volfs Exclusion and Embrace bin ich nun (endlich!) fertig und warte gespannt auf den Termin der Veröffentlichung. Sobald der feststeht, werde ich ihn hier bekanntgeben. In der Zwischenzeit poste ich immer mal wieder ein Appetithäppchen: interessante Beobachtungen oder provokative Thesen, die Fragen aufwerfen. Ausdiskutieren können wir das alles, wenn jeder das Buch auf dem Tisch liegen hat. Aber man kann mit dem Nachdenken ja schon mal anfangen 🙂

Los geht’s mit einer These zu „biblischem Mann- und Frausein aus Kapitel IV:

Biblisches „Frausein“ und „Mannsein“ – wenn es so etwas überhaupt gibt, so verschieden wie die männlichen und weiblichen Charaktere und Rollen, auf die wir in der Bibel stoßen, nun einmal sind – sind keine göttlich sanktionierten Modelle, sondern kulturell verortete Beispiele; sie sind Schilderungen von Erfolg und Scheitern der Männer wie der Frauen, dem Anspruch Gottes auf Ihr Leben in einer konkreten Lage gerecht zu werden. Damit sage ich nicht, dass die biblischen Konstrukte dessen, was Männer und Frauen […] tun oder lassen sollten, falsch sind, sondern dass sie in einem anderen kulturellen Kontext von begrenztem normativem Wert sind, da sie notwendigerweise mit spezifischen kulturellen Annahmen über geschlechtliche Identität und Rollen befrachtet sind.

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Führ‘ mit vier…

Zeit online berichtet von einem Kurs der European Leadership Academy, in dem Kinder mit Führungskräfte Lösungen für deren Problemstellungen erarbeiten. Offenbar ist die Fähigkeit, sich von Nicht-Profis etwas sagen zu lassen, eine wichtige Sache.

Das passt gut zusammen mit vier kurzen, knappen Ratschlägen für Führungskräfte die ich auf MinEmergent gefunden habe. Sie lauten:

  1. Sei nett
  2. Verbessere dich ständig
  3. Kommuniziere mehr als nötig wäre
  4. Halte mehr, als du versprichst

Wenn Stromberg diese Kniffe entdecken würde, könnten sie die Serie glatt absetzen. Wer keine Stromberg-Ambitionen hat und im Sinne von Tipp #2 noch gute Vorsätze für 2012 sucht, darf sich hier gern bedienen. Ich sollte vielleicht mal meine Kinder fragen, welchen dieser Tipps aus „führ mit vier“ ich besonders beherzigen muss.

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Kaiser Augustus, das Kindergeld und der Single-Malus

Weihnachten rückt in Sichtweite, der Kaiser Augustus hat wieder seinen liturgischen Auftritt und passend dazu habe ich heute eine interessante Sache entdeckt. Rodney Stark berichtet in The Rise of Christianity davon, dass dem Kaiser die niedrige Geburtenrate zu schaffen machte, Wegen der hohen Kindersterblichkeit und der relativ geringen Lebenserwartung (im Schnitt 30 Jahre, wenigstens bei Stadtbewohnern) schrumpfte die Schar seiner Untertanen stetig. Ehe und Familie standen bei den männlichen Römern nicht hoch im Kurs (nichts Neues also…), viele Kinder, vor allem Mädchen und sichtbar behinderte Buben, wurden zudem als Säuglinge ausgesetzt. Stark schreibt:

Im Jahr 59 v. Chr. erließ Cäsar ein Gesetz, das Väter von drei oder mehr Kindern mit Land belohnte, obwohl er Ciceros Rat nicht folgte, Ehelosigkeit unter Strafe zu stellen. Dreißig Jahre später, und erneut im Jahr 9, veröffentlichte der Kaiser Augustus ein Gesetz, das Männern, die drei oder mehr Kinder hatten, den politischen Vorzug gab und politische und finanzielle Sanktionen gegen kinderlose Paare, unverheiratete Frauen über 20 und unverheiratete Männer über 25.

Nur dass ich nicht missverstanden werde: Ich schlage nicht vor, dass wir es mit staatlichen Zwängen und Anreizen ähnlich halten. Mir geht es nur darum, dass unsere heutigen demographischen Probleme offenbar nicht neu sind und die staatlichen Maßnahmen offenbar auch nicht. Spätere Kaiser griffen zu ähnlichen Mitteln, Trajan subventionierte Kinder schließlich direkt. Ohne Erfolg – der Schwund gegen Ende der Republik und bis weit ins zweite Jahrhundert ließ sich nicht aufhalten.

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