Der ultimative Theologie-Test

Vor ein paar Wochen war ich mit meiner Kollegin Sabrina und 14 Konfirmanden ein Wochenende unterwegs. Wir haben uns mit der Person Jesu befasst, haben das Markusevangelium interaktiv gelesen und über viele Entdeckungen diskutiert. Es ist eine lebhafte und aufgeweckte Gruppe, was sich vor allem an den klugen Fragen ablesen ließ, die sie uns stellten.

Auf dem Heimweg dachte ich mir dann: Herrlich, genau dafür hast Du Theologie studiert! Damit Du die neugierigen Fragen, die dreizehnjährige über Gott stellen, mit zehn Sekunden Bedenkzeit und in maximal zwei Minuten allgemeinverständlich und ohne Fachjargon beantworten kannst – ohne dabei trivial zu werden oder Dinge zu sagen, die Dir eine halbe Stunde später schon wieder peinlich wären.

Vielleicht sollte man zukünftig in den theologischen Examina Konfirmanden die Fragen stellen lassen? Bei der Notenvergabe können die Professoren ja gern weiterhin assistieren.

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Lichter im Advent

Der Discounter wollte es den Kunden ermöglichen, bei kleinen Einkäufen auf den großen Einkaufswagen zu verzichten. Also stellte er kleine Rollkörbe bereit. So weit so gut. Leider vergaßen die Manager, dass es keine Ablagefläche für die Waren an der Kasse gab, weil dort ja seit jeher alles wieder in den Einkaufswagen geräumt wurde. Also können Kunden und Personal nun sehen, wie sie die Sachen dort auf dem schmalen Rand stapeln und auf dem Arm jonglieren, während kassiert und verpackt wird. Gut gemeint, aber ein bisschen zu kurz gedacht.

An der Imbisstheke beim Metzger bekamen die Angestellten Plastikhandschuhe an eine Hand, um den Leberkäs und die anderen fettigen Produkte damit anfassen zu können. Hand bleibt fettfrei, Futter bleibt keimfrei. Die andere Hand kann verpacken und kassieren. In der Praxis jedoch hantiert das Fleischereifachverkaufspersonal oft so lange mit Händen, Geld und Wurst, bis ich fettige Münzen aus eine plastikverpackten Hand gereicht bekomme, weil die eben gerade frei ist. Wieder: Gut gemeint, aber…

Draußen im spätherbstlichen, spätnachmittäglichen Sprühregen sind immer noch viele Radfahrer unterwegs. Für kurze Wege ist das Radeln praktisch, bei längeren Wegen heldenhaft und aller Ehren wert. Ein paar von ihnen haben jedoch am Licht gespart: Statt einer kräftigen weißen Leuchte vorn und einer weithin sichtbaren roten nach hinten funzelt oder blinkt dort, wenn überhaupt, ein trübes LED’chen. Alle anderen Verkehrsteilnehmer erleben viele spannende Überraschungen mit diesem lebensgefährlichen Arrangement.

Also – nehmt Euch den Advent zum Anlass und lasst Euer Licht leuchten.

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Anhaltend anders

Diese Woche wurde ich auf die Exerzitien angesprochen, an denen ich vor dreieinhalb Jahren teilgenommen habe (hier habe ich meine Eindrücke damals festgehalten). Die Frage dazu lautete: „Hat das gehalten? Kannst Du Dich erinnern?“

Die Frage klang noch eine Weile nach, und ich begann auf einmal selbst zu staunen, wie viel sich seitdem verändert hat. Natürlich erinnere ich mich! Die Erfahrungen in der Kontemplation und die Einübung in diese Grundhaltung haben mein Gottesbild verändert – die Vorstellung, die allem Leben, Denken und Beten zugrunde liegt und sich nicht in Sätze fassen lässt (jedenfalls nicht erschöpfend), sondern die Summe aller Erfahrungen bildet, die sich in meine Seele eingeprägt haben – es hat neu zu leuchten begonnen.

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Photo by Mayur Gala

Hin und wieder bemerke ich die Auswirkungen dieses Wandels: Ich erlebe mich gelassener in unsicheren oder angespannten Situationen. Mein Denken und Reden über Gott (also meine Theologie) hat sich geweitet und geschärft. Ich merke auch, dass ich unbefangener rede. Eine ganze Reihe von Beziehungen (enge und weniger enge) haben sich geklärt, neue Freundschaften sind entstanden und „alte“ wurden aufgefrischt. Ich treffe meine Entscheidungen anders – vor allem fällt mir das Neinsagen und die Beschränkung auf das Wesentliche leichter. An manchen Situationen und Personen reibe ich mich heute nicht mehr auf. Und je mehr mir Gott im Gewöhnlichen begegnet, desto weniger steht mir der Sinn nach dem Außerordentlichen – das lässt sich ohnehin nicht forcieren.

Freilich sind das graduelle Veränderungen, die nichts mit Perfektion zu tun haben. Ich habe vielmehr das Gefühl, erst am Anfang einer weiten Reise zu stehen, und sehe viele Menschen, die mir voraus sind. Und doch breitete sich Dankbarkeit aus, als ich begann, auf diese Wegstrecke zurückzublicken und zu spüren, was alles schon neu geworden ist. Vor allem, weil es ja nichts ist, was ich mir durch irgendwelche Anstrengungen erarbeitet hätte. Deshalb kann ich darüber hier auch ganz entspannt schreiben.

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Füttern für den Frieden

Als ich vorgestern nach Hause kam, lag ein totes Rotkehlchen vor dem Fahrradschuppen. Einer der zahlreichen Stubentiger aus unserer Straße dürfte der Übeltäter gewesen sein. Wenn er wenigstens eine der vielen Elstern erwischt hätte, aber an die trauen sich Hauskatzen nicht heran.

Ich war wütend.

Anders als Hunde, deren Jagdtrieb von ihren Haltern weitgehend kontrolliert wird und die auch gar kein Interesse an Singvögeln zeigen, nehmen die Besitzer der lieben Kätzchen es achselzuckend hin, dass die Vogelpopulation um uns her mächtig leidet. Sinnlos, sich bei ihnen zu beklagen, sie müssten ihre Lieblinge schon einsperren (oder ihnen Glocken umhängen).

Gestern hatte ich dann eine Idee, wie sich das Problem eleganter lösen lässt: Katzen lassen sich ja nach meiner Beobachtung von so ziemlich jedem füttern. Wenn ich die Verdächtigen möglichst reichlich mit Nahrung versorge, dann sind sie irgendwann nicht mehr ohne weiteres in der Lage, Meisen und Rotkehlchen zu morden. Nicht, weil sie nicht mehr hungrig wären – Hunger ist nicht ihr Antrieb zum Töten, die Beute wird ja nicht verspeist – sondern weil sie zu langsam und zu schwer sind.

Die Devise heißt also: Füttern für den Frieden.

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Missverständliches Mitgefühl

In einem Gespräch neulich berichtete jemand von einer Auseinandersetzung und machte seiner Empörung Luft über die Ungerechtigkeit, die ihm dabei widerfahren war. Eine andere Person aus der Gruppe antwortete zustimmend auf seine Äußerung. Ich kannte die andere Seite dieses offenkundig schmerzhaften Konfliktes nicht, daher war ich erst einmal recht zurückhaltend.

Als ich die zweite Person später wieder traf, sagte ich, dass ich über ihre emphatische Zustimmung verwundert war. Und ich entdeckte, dass die Zustimmung nicht dem Urteil des Betroffenen über die Sachlage und die Kontrahenten gegolten hatte, sondern als Ausdruck von Mitempfinden und als Ermutigung gemeint waren, sich nicht von den Sorgen überwältigen zu lassen. Das Problem war nur, dass man den Wortlaut dieses Zuspruchs auch so hätte verstehen können, dass die eine Konfliktpartei recht hat und die andere im Unrecht ist.

Mag sein, dass das sogar zutrifft – ich weiß das nur nicht und kann es auch nicht so leicht herausfinden.

Nachdenklich hat mich das Erlebnis deshalb gemacht, weil ich fürchte, mir und anderen ist es auch schon so ergangen. Wir regen uns über etwas auf, unsere Freunde bekommen das mit und wollen uns aufmuntern. Wir fühlen und dann in unserem gerechten Zorn bestätigt und denken, dass wir einen Verbündeten gefunden haben, der unsere Position teilt und unterstützt. Denn wenn wir unter Druck stehen, dann wollen wir solche Dinge ja auch hören. Vielleicht werden wir dadurch mutiger (oder rücksichtsloser) und versuchen mit aller Macht, uns durchzusetzen.

Das kann ins Auge gehen.

Vielleicht steckt ein ähnliches Muster auch in den Verweisen auf angeblich schweigende Mehrheiten in manchen Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten. Es könnte ja sein, dass auch da jemand das Mitgefühl anderer irrtümlich als inhaltliche Zustimmung zu seiner Position interpretiert. All das macht Konfliktlösungen nicht einfacher.

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Hut ab

Diese Woche habe ich zum letzten Mal an einer Sitzung des Leitungskreises der „Koalition für Evangelisation/Lausanner Bewegung“ teilgenommen. Ich bin, wenn ich mich richtig erinnere, noch im letzten Jahrtausend zu der Runde dazugestoßen, auf Einladung von Ulrich Eggers, der damals den Vorsitz innehatte. Die evangelikale Gremienwelt war für mich damals terra Incognita.

Über die Jahre habe ich viele interessante und engagierte Menschen kennengelernt, vor allem durch die jährlichen „runden Tische“, die ich ein paar Jahre lang mit geplant und vorbereitet habe. Für mich war es immer dann am spannendsten, wenn es den Charakter eines ThinkTanks hatte. So oder so – es war nie genug Zeit, um alle spannenden Themen auszudiskutieren, die angerissen wurden. Sicher eines der beeindruckendsten Erlebnisse war der internationale Kongress 2010 in Kapstadt mit Delegierten aus der ganzen Welt, über den ich einige Blogposts geschrieben habe. Die Stärken (und auch die Grenzen) der Bewegung waren dort mit Händen zu greifen.

Victoria & Albert Waterfront by D-Stanley, on Flickr
Creative Commons Creative Commons Attribution 2.0 Generic License   by  D-Stanley 

Meine inneren und äußeren Prioritäten haben sich über die letzten Jahre so verschoben, dass ich im Sommer beschloss, diesen „Hut“ wieder abzugeben und Platz zu schaffen für neue Gesichter, die ihre Werke und Verbände dort repräsentieren. Das ist auch deshalb nötig, weil die Truppe für 2017 einen großen Kongress plant (dynamissio soll er heißen), da muss jetzt viel geackert werden. Vielleicht gelingt es ja, etwas von der Weite und Themenvielfalt von Kapstadt in die fromme Szene hierzulande hineinzutragen.

An ein Treffen erinnere ich mich noch besonders. Ich fuhr nach Kassel (dort trifft sich der Kreis fast immer) und stieg am Bahnhof Wilhelmshöhe aus. Als ich die Rampe zum Bahnhof hinauflief, kam mir der Vorsitzende entgegen. Ich fragte, ob er denn heute nicht dabei sei. Er sah mich verdutzt an und erklärte, die Sitzung sei doch erst morgen. Die Terminfindung war etwas kompliziert verlaufen und ich hatte die letzte von mehreren Änderungen nicht in meinen Kalender übertragen. Ich trank einen Cappuccino und fuhr wieder zurück. Als ich am nächsten Tag erneut nach Kassel kam und ein paar Minuten später zur Sitzung erschien, grinste mich der ganze Haufen schon breit an, als ich zur Tür hereinkam. Meine Terminpanne am Vortag war offenbar Punkt 1 auf der Tagesordnung gewesen.

Vielleicht fahre ich jetzt mal nach Lausanne. Da war ich nämlich noch nie. 🙂

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Verhörhammer

Ich wollte eigentlich nur den Verkehrsfunk hören, als der Radiosender seinen neuesten „Verhörhammer“ präsentierte. Ein Schnipselchen aus einem englischen Popsong enthielt scheinbar eine Nachricht auf Deutsch. Der Moderator erklärte zur Sicherheit auch genau, was ich gleich hören würde. Und es funktionierte so halbwegs, das Genuschel konnte man so verstehen.

Später versuchte ich, das Soundbyte in meinem Kopf auf seine ursprüngliche Bedeutung hin zu analysieren, aber es gelang mir nicht. Die Deutung, die mir vorab aufgedrängt worden war, ließ sich nicht von der Erinnerung trennen. Und es fehlte der Kontext des gesamten Songs.

Das Erlebnis ging mir noch eine Weile nach. Passiert das auch in anderen Zusammenhängen, dass ich mir Deutungen aufdrängen lasse, noch bevor ich eine Erfahrung mache?

Funktioniert das mit Vorurteilen und Ressentiments in Politik und Gesellschaft ähnlich, dass solche Stimmen ein freies Erleben verhindern und dass von da ab jede Erfahrung das Vorurteil nur noch festigt? Kann man öffentlich punkten, indem man eine möglichst plakative (Fehl-)Deutung einer Sache (nehmen wir nur mal die Gendertheorie…) früh genug hinausposaunt, dass die meisten gar nicht erst unbefangen hinhören können?

Fremdenfeindlichkeit scheint oft nach diesem Muster zu funktionieren: Gerade da, wo es kaum Erfahrungen mit Fremden gibt, lassen sich besonders viele Menschen erzählen, wie bedrohlich diese doch seien. Und wenn sie Fremden dann mit dem Filter dieser Erwartung je einmal begegnen sollten, sehen sie nur noch das Vertraute, das sie sehen sollen und wollen, egal wie viele Indizien gegen ihre Anschauung sprechen.

Aber auch in anderen Zusammenhängen gibt es Leute, deren Deutung schon vor aller Wahrnehmung feststeht. Ich habe mir dann übrigens keine Mühe mehr gegeben, die eigentliche Bedeutung des Verhörstücks zu ermitteln. Wann immer es aber von Bedeutung ist, etwas richtig zu verstehen, würde ich gern

  • ungestört hinhören dürfen,
  • den Kontext einbeziehen können und
  • mir bewusst machen, dass ich einen Text nicht in meiner, sondern in seiner Sprache verstehen muss
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Zufall oder Zukunft?

Ein befreundeter Pfarrer sagte mir gestern, er sei von einem Kollegen gefragt worden, warum es in der Landeskirche (bzw. den Landeskirchen) eigentlich nicht mehr Initiativen wie ELIA gibt. Im Hintergrund steht natürlich die Frage, ob wir ein merkwürdiger Zufall sind oder ob etwas Zukunftsweisendes dran sein könnte.

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Creative Commons Creative Commons Attribution-No Derivative Works 2.0 Generic License   by  Max Fridman 

Nach über 20 Jahren Gemeindeaufbau und vielen Gesprächen mit den unterschiedlichen Leitungsebenen und -gremien kann ich das ziemlich klar beantworten. Ich denke, es gibt immer wieder Leute, die bereit sind aufzubrechen und Neues zu wagen. Dieses Neue hat keineswegs immer selbstbezogenen oder sektiererischen Charakter (obwohl es das freilich auch gibt).

Abgesehen von wenigen Glücksfällen, die mit ganz bestimmten persönlichen Konstellationen zusammenhängen, ist die Mehrheit dieser Initiativen in den Landeskirchen entweder eingegangen oder irgendwann ausgewandert.

Der Grund dafür ist, dass einem das System auf tausend unterschiedliche Arten kommuniziert, dass solche Dinge nicht vorgesehen sind und daher den Betrieb gefühlt eher stören als bereichern:

  • Das Kirchenrecht hat keine passende Kategorie für nichtparochiale Gemeindeformen anzubieten, es gibt nur wackelige Hilfskonstruktionen.
  • Dazu gesellt sich eine unterentwickelte Kultur des Experimentierens, die Kräfte und Mittel werden fast ausschließlich zur Erhaltung und Reproduktion des Vorhandenen eingesetzt.
  • Querdenker und Pioniertypen werden strukturell eher eingebremst als ermutigt, ihre „Pfunde“ einzusetzen.
  • Es fehlen geeignete und von allen Seiten akzeptierte Kriterien für Scheitern und Gelingen neuer Unternehmungen und ein Katalog geeigneter und angemessener Fördermaßnahmen.

Es ist schon absurd: Jeder weiß, dass sich unsere Gesellschaft immer weiter differenziert. Dass diese Differenzierung auch das Verhältnis evangelischer Christen zu ihrer Kirche betrifft, ist ebenfalls eine Binsenweisheit. An differenzierten Formaten im kirchlichen Angebot wird gearbeitet. Aber wenn es um Amt und noch mehr wenn es um Gemeinde geht, dann ist Differenzierung plötzlich ein Unwort. Wieso eigentlich?

Auch im Blick auf die Form und Gestalt von Gemeinde gilt gemeinhin: Wenn man tut, was man immer schon getan hat, wird man auch die Ergebnisse bekommen, die man immer schon bekommen hat – qualitativ. Quantitativ freilich mit meist rückläufiger Tendenz. Der Verdacht liegt nahe, dass viele auch genau das wollen, was sie schon immer hatten, einfach weil es so schön vertraut ist.

PS: Mein Gesprächspartner gestern nannte das „morphologischen Fundamentalismus“. Solche bissigen Termini liegen mir natürlich völlig fern, daher zitiere ich das hier auch nur anonym.

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Dreimal drei Dinge, die ich an Evangelikalen liebe

Ich ließ kürzlich meine Begegnungen mit Christen, die sich als Evangelikale identifizieren, einmal Revue passieren und wollte dabei „das Gute behalten“ – im Gedächtnis, und als Folge davon in diesem Post. Es kam einiges zusammen:

  1. Der „geschwisterliche“ Umgang: In den meisten Gruppen und Gremien ist man nach kurzer Zeit beim vertraulichen „Du“. Evangelikale pflegen eine warme, wenig distanzierte Frömmigkeit und haben, wenn überhaupt, eher informelle Hierarchien. Unter den Älteren wird man gelegentlich noch ausdrücklich mit „Bruder“ oder „Schwester“ angeredet.
  2. Die Bereitschaft, sich in Frage zu stellen: Die christliche Tugend der „Bußfertigkeit“ hat sich in weiten Kreisen erhalten. Immer wieder prüfen sich meine evangelikalen Freunde, ob ihr Leben mit ihrem Glauben und Reden übereinstimmt, und sie lassen sich auch von anderen daraufhin ansprechen. Eines der größten Komplimente, dass man als Prediger bekommen kann, ist, dass man seine Hörer „überführt“ und zur Umkehr bewegt hat (in manch anderen christlichen Milieus reagiert man eher verschnupft, wenn man mit seinen dunklen Seiten konfrontiert wird).
  3. Das hohe Engagement: Evangelikales Christentum ist tätiges Christentum. Und auch wenn dieses Selbstverständnis vielleicht radikaler ist als die Praxis an manchen Orten, so fördert es eine rege Praxis, indem es nachdrücklich dazu aufruft. Das ist in der Regel übrigens keine „Leistungsfrömmigkeit“, sondern hier schlägt das Anliegen durch, Nachahmer Christi zu sein.
  4. Die Jesusfrömmigkeit: Der etwas antiquierte Begriff „Heiland“ (mein pietistischer Urgroßvater wurde noch „Heilandsbäck“ genannt, weil er Sonntags seine Backstube kalt ließ) hat weithin ausgedient als Anrede für Gottes Sohn, dafür dreht sich nun alles um den Jesusnamen. Die Jesusfrömmigkeit betont die Nähe und Menschlichkeit Gottes, die immanente Seite des christlichen Glaubens.
  5. Mut zur Minderheit: Evangelikale haben sich immer als Minderheit verstanden und sind dies, gesamtgesellschaftlich betrachtet, auch immer gewesen. Sie haben das selten beklagt, aber oft in ein robust positives Selbstbild übersetzt, nämlich das des Propheten, der den Mächtigen so unerschrocken wie undiplomatisch die Wahrheit ins Gesicht sagt. Daher blühen evangelikale Gemeinden oft auch dort besonders, wo Regierungen sie einzuschränken versuchen. Sich dem Mainstream anzubiedern ist also gewiss nicht ihre größte Versuchung.
  6. Das Gründergen: Seit den Anfängen des Pietismus haben Evangelikale überall Basisgruppen und Vereine gegründet und (meistens) ohne obrigkeitliche Förderung am Leben erhalten. Gemeinschaften, diakonische Einrichtungen, Ausbildungsstätten, Missionsorganisationen, Verlage. Und auch wenn davon manche inzwischen in die Jahre gekommen sind, sprießen munter neue Werke aus dem Boden. Wenn die Großkirchen die religiösen DAX-Konzerne in unserer Kultur sind, dann sind die evangelikalen Gründungen wie mittelständische Familienbetriebe. Pioniertypen werden hier sehr geschätzt.
  7. Ihre Opferbereitschaft: Sie setzen für ihre Mission in der Welt Zeit, Kraft und Geld ein und eben auch den guten Ruf ab und an aufs Spiel und wundern sich gelegentlich, dass nicht alles Christen das mit derselben Selbstverständlichkeit tun.
  8. Über den dogmatischen Schatten springen: Weil evangelikaler Glaube konkret und praktisch sein will und meistens auch ist, findet er auch zu einem pragmatischen Umgang mit vielen Phänomenen der modernen Welt wie Kommunikationstechnik oder Management. Theologische Streitfragen (etwa die nach der rechten Form der Taufe) lassen sich um der gemeinsamen Mission willen hinten anstellen, selbst wenn diese für das Selbstverständnis der einzelnen oder einer Gemeinschaft einen hohen Stellenwert haben oder an anderer Stelle (etwa in der Ökumene) kirchentrennend sind.
  9. Wie sie beten: Form und Stil mögen sich unterscheiden, aber sie beten, und sie beten gern gemeinsam. Verschämtes Schweigen oder strikter Formalismus sind eher die Ausnahme. Es gibt kaum etwas, wofür sie nicht beten, weil Gott für sie mit allem zu tun hat, was ihnen begegnet. Davon lasse ich mich gern immer wieder anstecken.

PS: Ich habe auf diesem Blog gelegentlich Ereignisse und Meinungen aus der bunten evangelikalen Welt kritisch oder ironisch kommentiert. Manche LeserInnen haben das leider als Vorurteil oder pauschalen Angriff empfunden (obwohl es unter Evangelikalen zu all diesen Themen auch Kritik und Differenzen gab und gibt und ich darauf in der Regel auch Bezug nehme). Diesmal habe ich den Blick ausschließlich auf die positive Seite gerichtet. Und keine Sorge, das ist weder der Auftakt für eine Serie von Abgrenzungen und Vorwürfen, noch so gemeint, dass alles, was ich hier nicht erwähne, kritikwürdig wäre.

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Klingelschildbürger, oder: Moderne ohne Post

Mein Briefkasten ist seit Tagen leer und seit Wochen unterversorgt. Alles nicht so schlimm, es gibt ja email. Gerade eben kam eine vom DHL. Eine Lieferung (seit 10 Tagen unterwegs) konnte mir nicht zugestellt werden, weil ich unter der Adresse, von der aus ich jetzt gerade auch schreibe, „nicht aufgefunden“ werden konnte.

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Creative Commons Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic License   by  Genista 

 

Wie bitte?

Ein Anruf beim Servicecenter ergab, dass mein Name auf dem Klingelschild stehen muss. Er steht zwar in großen und deutlichen Buchstaben am Fenster direkt neben der Eingangstür steht, aber spielt für die Post keine Rolle, wurde mir erklärt. Na klar: Wo käme man denn auch hin, wenn man mal 50 Zentimeter nach rechts oder links sähe?

Ich habe keine Ahnung, welcher arme Wicht hier eingeflogen wurde, um  für den gierigen Post-Vorstand (3 Milliarden Gewinn im Jahr 2014 waren nicht genug) den Streikbrecher zu spielen, aber hochmotiviert war diese Person nicht. Ein kleiner Vorgeschmack für das, was uns alle erwartet, wenn es den Oberen gelingt, ihr Personal in schlecht bezahlte Servicegesellschaften auszugliedern.

Der Mensch von der Hotline hat den Vorgang so apathisch-achselzuckend kommentiert, dass anzunehmen ist: auch er befindet sich schon in einem gelockerten Verhältnis zu seinem Arbeitgeber. Die Sendung geht jetzt übrigens zurück an den Absender. Vielleicht ist sie ja dann in drei Wochen wieder da.

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A Sense of Wonder

Vor anderthalb Jahren sollte ich einen Text darüber schreiben, wie es ist, wenn man auf seinen 50. Geburtstag zugeht. Ich nahm drei Anläufe und stellte schließlich fest, dass ich es nicht sagen konnte, weil ich einfach noch nicht da war. Man kann die eigene Entwicklung nicht gedanklich extrapolieren (um es mal mathematisch zu sagen) und dann zurückschauen wollen.

Hebron

Jetzt aber liegt tatsächlich ein Jahrzehnt hinter mir mit Erfahrungen, die mich verändert haben – mehr als die Dekade zuvor. Wenn ich nachdenke über das Leben und die Welt, über Theologie und Politik, dann fällt mir auf, wie groß der Unterschied ist. Aber auch die Art der Veränderungen war eine andere. Die Beben fanden viel tiefer unter der Oberfläche statt. ich habe in mehr und tiefere Abgründe geblickt als zuvor. Und es war wohl das tränenreichste Jahrzehnt bisher, auch das gehört dazu.

Der 9. Juni ist der Gedenktag des St. Columba von Iona, Patron der Buchbinder und Dichter. Zwei von vielen Gründen, warum mich der große Crimthann nun schon seit Jahren fasziniert. Apropos Poeten: Aus dem Lautsprecher neben mir fragt sich Bruce Cockburn gerade, wo nur die Löwen geblieben sind, und stellt dann fest Some kind of ecstasy got a hold on me

Ecstasy – da war doch was: Die Juden feiern 50 Tage nach dem Passa ein Erntefest. Christen feiern die Ausgießung des Geistes. Das lässt sich vielleicht auch auf ein Menschenleben übertragen: Freudig einsammeln, was gewachsen ist. Dann stellt sich die Begeisterung und das ekstatische Gefühl ganz von selbst ein.

Van the Man gibt meine Stimmung heute gut wieder:

Didn’t I come to bring you a sense of wonder
Didn’t I come to lift your fiery vision bright
Didn’t I come to bring you a sense of wonder in the flame

 

 

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Gärten und Gestrüpp

Weiter in der unsortierten Israel-Nachlese. Heute mal ohne Bezug zum Palästina-Konflikt:

Als ich in Jerusalem erzählte, dass ich ein paar Tage später nach Haifa fahre (inzwischen ist das fast drei Wochen her), wurde mir gesagt, ich müsse dort unbedingt die wunderschönen Baha’i Gärten ansehen. Dort angekommen, machte ich mich also auf den Weg und entdeckte eine streng an den Nordhang des Karmel gezirkelte Anlage, gegen die jeder Barockgarten unordentlich und asymmetrisch wirkt.

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So viel Künstlichkeit hatte ich nicht erwartet. Ich bog nach ein paar Minuten lieber wieder ab und spazierte durch das Wadi Nisnis, in dem sich lokale und internationale Künstler verewigt hatten und wo kein Haus wie das andere aussah. Und fragte mich währenddessen: Ist diese Gartenanlage typisch für moderne Kunstreligionen, und deren – zweifellos gut gemeintes – Anliegen, Symmetrie und Ordnung in das gewachsene Gestrüpp konkurrierender Glaubensrichtungen zu bringen?

Direkt unterhalb der Baha’i Gärten liegt übrigens die German Colony. Sie wurde ebenfalls im 19. Jahrhundert von der Tempelgesellschaft erbaut und gegründet, die ihre Wurzeln im württembergischen Pietismus hat, sich aber theologisch von diesem deutlich unterscheidet, weil sie zum Beispiel die Gottessohnschaft und den Erlösungstod Christi ablehnt. Nach der Gründung des Staates Israel wurden die Templer 1950 aufgefordert, Haifa zu verlassen. Heute sind in den schmucken Häuschen Restaurants und Läden untergebracht und Touristen flanieren vorbei.

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Zwei religiöse Innovationen des 19. Jahrhunderts also nebeneinander. Die eine aus einem europäisch-christlichen Kontext, die andere aus einem muslimisch-persischen. Beiden merkt man diese Herkunft an, beide versuchen die Tradition, aus der sie stammen, universal zu erweitern und deren innere Widersprüche und Spannungen zu beseitigen, und so ließen sich wohl noch weitere Parallelen finden.

Niedergelassen haben sie sich in Haifa am Fuß des Karmel, auf dem der Prophet Elija seine blutige Konfrontation mit den Baalspropheten hatte. Harte Kontraste auf engem Raum…

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Das geteilte Haus

Hebron, heute eine Großstadt im Westjordanland. Hier liegen in der Höhle Machpela Abraham und Sara, Isaak und Rebekka begraben. Über der Höhle am Rande der Altstadt befindet sich ein Gebäudekomplex, der aus einer Moschee und einer Synagoge besteht. Die Abraham-Moschee ist eine ehemalige byzantinische Kirche, die Synagoge war schon immer Synagoge. Die Fundamente beider Gebäude ruhen auf einer Schicht, die noch von Herodes dem Großen stammt.

In der Moschee ist gerade noch das Mittagsgebet, also gehe ich zuerst in die Synagoge. Ich passiere zwei Kontrollposten des Militärs und werde auf der Treppe erneut von einem Schwerbewaffneten angesprochen: Where you from? Germany. What do you want? I am a tourist and I want to see the tomb of Abraham. You Muslim? No. You can go in.

Drinnen sitzen in einem Vorraum überwiegend Frauen in einer Tischrunde. Sie winken mit fröhlich zu und eine bringt mir einen Teller mit süßem Gebäck. Ich bedanke mich und nehme einen Happen. Weiter im inneren sitzen hinter einer spanischen Wand Männer und studieren Bücher. Dann erreiche ich den Innenhof. Ein dem Aussehen nach charedischer Jude begrüßt mich und fragt, woher ich komme. Er spricht gebrochen Englisch, aber ich spüre kein Ressentiment, als er hört, dass ich Deutscher bin.

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SynagogeHebron.jpgDann erklärt er mir, dass auf der anderen Seite die Muslime seien und Juden nicht in die Moschee dürfen. Dass der Ausschluss umgekehrt auch gilt, hatte ich ja schon erlebt. Als ich vorsichtig andeute, dass ein Frieden zwischen den Lagern doch im Sinne aller wäre, winkt er ab. Ihr Christen und wir Juden sind friedlich, gibt er mir zu verstehen, aber die Muslime wollen uns alle töten. Ich widerspreche vorsichtig – die Muslime, dich ich bisher getroffen habe, sind friedliche Menschen, die auch viel erduldet haben. Dann wird es schwierig, seiner Antwort sprachlich zu folgen, denn er setzt zu einem Redeschwall an. So viel habe ich dann doch verstanden: Wenn die Palästinenser aus dem Gazastreifen eine Rakete auf uns schießen, dann schießen wir zehn oder hundert zurück. Und dann ist es uns egal, ob und wie viele Frauen und Kinder dort sterben.

Ich frage, ob er sich vorstellen kann, dass es eines Tages Frieden gibt. Ja, sagt er, wenn der Messias kommt.

 

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Ich setze meinen Rundgang fort. Die Grabmale der Patriarchen kann man durch ein offenes Fenster sehen, sie sind mit Tüchern bedeckt. Von der angrenzenden Moschee aus gibt es auch jeweils ein Fenster. Sie sind aber so angelegt, dass man nicht hinübersehen kann. Und vor allem nicht schießen. Das nämlich tat Baruch Goldstein, der 1994 in die voll besetzte Moschee stürmte, 29 Menschen tötete (darunter auch den Imam) und 125 weitere verletzte. Die Muslime zeigen mir ein paar Augenblicke später die notdürftig verspachtelten Einschusslöcher in der Wand ihres Gotteshauses. Sie zeigen mir auch, wo man in die Höhle hinuntersehen kann, und den uralten Gebetsstuhl aus einem einzigen Holzstock, der ein Geschenk Saladins war.

In Hebron schützt die israelische Armee heute mit massiver Präsenz nicht nur die (überwiegend radikalen und militanten) jüdischen Siedler vor den arabischen Nachbarn, sondern inzwischen nolens volens auch die palästinensischen Kinder auf ihrem Schulweg entlang der jüdischen Siedlungen. Mitten in der arabischen Altstadt haben Siedler ein Haus über den Marktgassen besetzt und aufgestockt, auch dort schiebt das Militär nun Wache; und die Händler schützen sich mit Maschendraht über ihren Köpfen gegen den Unrat, der von oben herabgeworfen wird.

Die Organisation Breaking the Silence – ehemalige Soldaten der IDF, die sich kritisch mit ihrer Besatzerrolle auseinandersetzen – bietet Führungen durch Hebron (mit Transfer ab Tel Aviv) an, um die Übergriffe der Siedler zu zeigen: Steinwürfe, faule Eier, Beschimpfungen übelster Art. Yehuda Shaul von Breaking the Silence hat die Zustände hier vor ein paar Jahren schon als Apartheid bezeichnet. Diese eindrückliche Bildstrecke von Christian Peacemakers International zeigt die gegenwärtige Lage sehr anschaulich. Freilich gab es früher, deutlich früher, auch Gewalt von Muslimen gegen Juden, aber seit mehr als 30 Jahren scheint die handfeste Aggression in Hebron doch eher nur in eine Richtung zu verlaufen.

Auf dem Rückweg nach Jerusalem frage ich mich, ob sich Abraham und Sara, die ihr Leben als Fremdlinge führten und kein Land besaßen, im Grab umdrehen würden, wenn sie wüssten, was sich über ihren Gräbern abspielt; und was der Messias wohl sagen und tun wird, wenn er kommt.

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Ein stiller Augenblick

Nablus im Westjordanland, wir haben mit den Frauen vom Bait al Karama Slow Food gekocht und gemeinsam zu Mittag gegessen. Nun wandern wir gemeinsam durch die Gassen der Altstadt. Wir besuchen einen Gewürzladen und auf dem Weg dorthin kommen wir an einem rußgeschwärzten Gebäude vorbei, das seit einem Angriff der Israelis ausgebrannt ist.

An anderen Stellen wird die historische Bausubstanz renoviert und dann sieht man, wie wunderschön diese Stadt sein kann. Westliche Besucher sind hier selten, aber wir werden überall sehr freundlich empfangen. Auf einem der engen Plätze stehen Kinder. Ein kleiner Junge kommt auch mich zu. Es gestikuliert, dass ich ein Foto von ihm machen soll.

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Und dann schaut er ganz still in meine Kamera. Unsere ganze Gruppe hält den Atem an. Ich gehe in die Knie, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein, und löse aus. Auf dem jungen Gesicht leuchtet die ganze Würde dieses Menschenkindes auf. Wortlos bestaunen wir die Offenheit und Verletzlichkeit. Ich zeige ihm das Bild, bedanke mich und wir verabschieden uns. Aber die kurze Begegnung geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Ich habe das Foto ein paar Tage später an eine unserer Begleiterinnen geschickt. Vielleicht erreicht es den Jungen ja irgendwie. Ich hoffe, er erfährt, dass wir an ihn denken. Und dass wir nicht vergessen, in welcher schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage seine Familie und seine Stadt sich befinden.

Es ist jener stille Moment, der mich vielleicht mehr als alles andere verändert hat auf dieser Reise. Wir sind alle verletzliche Menschen. Wir werden alle mit einer Sehnsucht danach geboren, in Frieden zu leben und offen für einander zu sein.

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Auf dem Weg

Am Damaskustor steigen wir in die Jerusalemer Straßenbahn und fahren nach Nordosten. In der Shufat Street 108 liegt Sabeel, das ökumenische Zentrum für Befreiungstheologie. Sabeel ist das arabische Wort für „Weg“. Wir sind rechtzeitig zum Mittagsgebet dort.

Neben den Leuten, die dort arbeiten, treffen wir zwei Freiwillige des ökumenischen Programms EAPPI, das unter anderem an den israelischen Checkpoints im Westjordanland Beobachter aufstellt, die Schikanen und Menschenrechtsverletzungen der IDF dokumentieren – beziehungsweise durch ihre Anwesenheit möglichst verhindern.

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Wir sprechen gemeinsam die Liturgie auf Englisch und bekannte Teile, wie das Vaterunser, parallel in den jeweiligen Muttersprachen, wir tauschen uns aus über einen provozierenden Bibeltext (Jesus vor Pilatus), wir feiern die Eucharistie unter der Leitung von Naim Ateek, der das Zentrum gegründet hat.

Naim erinnert in den Fürbitten an das Massaker von Deir Yasin: Am 9. April 1948 (auf den Tag vor 47 Jahren) wurden dort etwa 120 Einwohner (von denen nur eine kleine Minderheit bewaffnet war) von jüdischen Untergrundkämpfern getötet, der Rest der 600 Menschen vertrieben. Innerhalb der nächsten Wochen (und noch vor Beginn des sogenannten Unabhängigkeitskrieges) flohen 200.000 bis 300.000 Palästinenser aus ihren Dörfern. Auf dem Gebiet von Deir Yasin steht heute Giv’at Shaul, ein westlicher Stadtteil von Jerusalem. Wir sind nur wenige Kilometer entfernt.

Dann essen wir gemeinsam zu Mittag, erzählen einander, wo wir herkommen und warum wir hier sind. Ich frage Naim, welches von den vielen Büchern dort er mir am meisten empfehlen würde, und er zeigt auf A Palestinian Christian Cry for Reconciliation. Das Vorwort ist von Desmond Tutu. Naim ist anglikanischer Pfarrer und stammt aus Beisan, später lebte er in Nazareth und promovierte in San Francisco. Sein Buch Justice and only Justice gilt als Wegbereiter für das Kairos-Dokument, das vom Ökumenischen Rat unterstützt wird. Es ruft zum gewaltfreien Widerstand gegen die Besatzung und zur Versöhnung unter den Ethnien und Religionen auf, aber auch dazu, das Schweigen in den Kirchen, der Politik und den Medien zu brechen.

Gestärkt stürzen wir uns wieder ins Getümmel der Altstadt am letzten Tag des Pessach-Festes und am Gründonnerstag der orthodoxen Christen. Orthodoxe Popen mit singenden Pilgergruppen und orthodoxe Juden umgeben von ihren vielen, vielen Kindern wetteifern um die wildeste Bartmode. Wer religiösen Pluralismus studieren möchte, kommt hier voll auf seine Kosten. Wer Ruhe und Besinnung sucht, braucht ein dickes Fell.

Naim Ateek spricht am 5. Juni auf dem evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Am Tag danach findet unter dem Motto „Gerechtigkeit schafft Frieden“ ein Studientag von Pax Christi statt, der auch von der ACK in Baden-Württemberg getragen wird und auf dem auch jüdische Aktivisten vertreten sind. Die Veranstaltung ist hochkarätig besetzt und wer eh in der Nähe ist, sollte die Gelegenheit – diesen Kairos – nutzen. Für manche Dinge muss man nicht – jedenfalls nicht immer – nach Jerusalem reisen.

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