Auf die Schrippe nehmen

Nach ein paar Tagen medialem Schrippenkrieg stellt sich mir die Frage: Muss ich mich jetzt auch aufregen, weil beim Bäcker jemand Brötchen statt Semmeln kauft? Und wäre „Semmeln“ nicht zu bayerisch, müsste man also doch bitteschön auf „Weggla“ bestehen und den Brötchenkunden oder Schrippenkäufer im Laden so lange zappeln lassen, bis er die richtigen Worte findet?

Liebe Berliner, von denen nicht gerade wenige in den letzten Jahrzehnten nach Erlangen oder München gezogen sind: Willkommen in unserer Welt! Unsere Städte bestehen schon seit Jahrzehnten hauptsächlich aus Zugereisten, die ihre Sprachgewohnheiten ungefragt mitbringen und verbreiten. Wir leben eigentlich ganz gut damit, als Eingeborene in der Minderheit zu sein. In München etwa spricht noch ein Prozent der jungen Leute Dialekt, hieß es vor zwei Jahren. In Erlangen dürfte sich die Mundartkompetenz entsprechend im Promillebereich bewegen.

Aber vielleicht braucht es ja ein paar Schwaben, um aus der Berliner Seele den Spießer hervorzulocken, den dort niemand vermutet hätte – schon gar nicht die Berliner selbst. Nehmt Euch doch mal wieder selbst auf die Schrippe! Oder tut Euch mit den Schweizern zusammen, die sind Euch in Sachen Schwabenpolemik ein Stück voraus und freuen sich über unerwartete Schützenhilfe.

Freilich hat die östliche Schweiz im Mittelalter lange zum Herzogtum Schwaben gehört und die preußischen Könige und Erbauer des modernen Berlin sind Hohenzollern. Deren Stammsitz steht …im tiefsten Schwaben.

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7 Antworten auf „Auf die Schrippe nehmen“

    1. Das Gentrifizierungsproblem ist mir durchaus bewusst. Um so erstaunlicher fand ich, dass es nun zu diesem Zeitpunkt auf diesem Niveau diskutiert wird. Wenn es gar nicht um die Schwaben geht, warum dann ständig von den Schwaben reden?

  1. diese diskussion ist nicht erstaunlich, sondern symptomatisch. sie findet bei berlinern mit schwäbischem und nichtschwäbischem migrationshintergrund statt. es wird über ethnische sündenböcke gesprochen statt über ökonomische und soziale sünden. es wird auf den kulturellen nebenschauplatz verschoben, was in die arena der macht gehört. thierse hat leider eine vorlage geliefert, und alle greifen sie auf. damit kann man wieder unter spießigkeit und kleinkariertheit verbuchen, was zu den existentiellen fragen unserer stadt gehört, die über viele menschen viel leid bringen. das wichtige an dem beitrag von andrej holm ist nicht, dass er an die gentrifizierung erinnert, sondern dass er auf die legitimierende funktion der schwabendiskussion hinweist.

  2. und nachdem ich jetzt meinem gerechtigkeitsreflex genüge getan habe, gebe ich zu, dass die diskussion durchaus auch die skurill-amüsanten züge hat, die du herausgestellt hast.

  3. Danke! Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass sich die gesamte Schwabendebatte rückstandsfrei in den Gentrifizierungsdiskurs auflösen lässt. Noch spießiger fand ich allerdings die Reaktionen von Oettinger & Co!

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