Am späteren Nachmittag spricht Dr. Paul K. Oh über Versöhnung in Korea: In Südkorea ist seit 1952 alles gewachsen. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf stieg von 61 auf 20.000 $. Die Regierungsform hat sich von einer Militärdiktatur zur Demokratie gewandelt, gleichzeitig wuchsen die Kirchen: 50 der 100 größten Gemeinden der Welt findet man hier. Nun ist die Frage, wie es weitergeht. In meinen Worten: Was tritt an die Stelle der so erfolgreichen Ehe von Christentum und Moderne in Korea, wenn das Bedürfnis nach Wohlstand gesättigt und der soziale Aufstieg geschafft ist? Für Dr. Oh bestimmt der Kontext die zukünftige Gestalt des Gemeindewachstums (dass es um Wachstum geht, steht für ihn außer Frage!). Geht es dabei also um mehr Segen und Wachstum für die Christe?
Oh fragt zurück: Müssen Gemeinden eigentlich immer größer werden? Er setzt dem Israels Weg aus Ägypten durch die Wüste entgegen, dem das gelobte Land folgte und dann das Königtum in Form von Davids Großreich. Statt mehr Wohlstand geht es für ihn nun um Teilen und Dienen. Dazu muss eine Kultur der Kooperation entstehen, die auf institutionelle Macht verzichtet. Das Wachstum hatte nicht nur gute Seiten. Im Rausch des Erfolges wurden die Verantwortlichen oft rücksichtslos. Der aktuelle Präsident, ein früherer Konzernchef und Manager, pflegt für Dr. Oh einen eher autokratischen Führungsstil. Zwischen den Generationen und Geschlechtern, zwischen Regierung und Opposition, im Wirtschaftsleben und in den Kirchen gilt es nun große Gräben zu überwinden:
- Kirche und Gesellschaft driften auseinander. Christen nehmen in ihrem Heilsexklusivismus oft eine herablassende Haltung gegenüber Andersdenkenden ein und schreiben sie ab
- Das konservative Christentum hat einen Hang zur Selbstverwirklichung und muss nun vom progressiven Flügel lernen
- Pastoren neigen gegenüber Laien zu autoritärem Gehabe, und auch hier muss aus einem Gegensatz wieder ein Miteinander werden.
Biblische Vorbilder sind nun Gestalten, die am Rand der Gesellschaft oder in der Fremde lebten wie Joseph, Inbegriff des biblischen Weisen, und Johannes der Täufer mit seiner Bereitschaft zu radikalem Verzicht. Institutionelle Macht hatte keiner von beiden. Großen Einfluss gewannen beide auf andere Art.
Tae Hyung Lee war 24 Jahre Journalist einer kirchlichen Tageszeitung und hat viele christliche Leiter/-innen zum Sinn des Lebens und christlichen Dienstes befragt. Einer der Befragten sagte (bitte kurz durchatmen…), ein Pastor müsse der glücklichste Mensch weit und breit sein, damit andere Menschen auf Gott aufmerksam werden und ihn um sein Glück beneiden. Joel Osteens Buch Your Best Life Now war lange das populärste christliche Buch in Korea, aber (puh…) diese Welle ebbt auch hier allmählich ab.
Jimmy Carter, sagt Lee, beantwortet die Frage nach dem guten Leben besser: ihm geht es darum, mit Habitat for Humanity anderen Menschen zu helfen. Lee sagt, seine Kriterien von Glück und Erfolg haben sich verschoben. Statt sich für populäre Menschen zu interessieren, fragt er sich inzwischen, welche Menschen Gott besonders spannend findet.
90% der Gemeinden in Korea haben unter 100 Mitglieder, nicht alle überleben aus eigener Kraft. Das Wachstum der Kirchen stagnierte 1999 und inzwischen ist die Tendenz rückläufig. Im Westen hat sich das vielfach noch gar nicht herumgesprochen. Die beeindruckende Größe der Megachurches verdeckt diese Entwicklung derzeit noch. Aber der erfolg der einen Gemeinde geht inzwischen zu Lasten einer anderen. Es bricht also auch in Korea eine Art nachchristliche Ära an: Mitgliederschwund, Traditionsabbruch, gesellschaftlicher Bedeutungsverlust und der Abstieg eines großen Teils der Mittelschicht durch die Wirtschaftskrise 2009 (mit großen finanziellen Auswirkungen für die Gemeinden!) werfen die Frage auf, ob die große Erweckung von 1907 in neuer Gestalt wiederholbar ist.
Denn auch hier kehren viele junge Menschen – aus einem echten Interesse an Spiritualität heraus – den Kirchen den Rücken. Den Glauben wollen sie nicht aufgeben, aber mit den Gemeinden kommen sie nicht mehr klar. Kleine Gemeinden mit minimalem Programm werden wieder interessant: Sie müssen keine großen Budgets für Gebäude und Personal stemmen, ziehen keine autoritären Erfolgstypen an. Für Lee sind die emerging churches ein Zeichen der Hoffnung. Weil sie wenig institutionellen Ballast herumtragen, können sie fragen, was Gott eigentlich in ihrem Umfeld vorhat (statt sich mit dem Blumenschmuck für den kommenden Sonntag zu befassen).
In der anschließenden Diskussion taucht die Frage nach der Rolle von Frauen auf. Viele Koreanerinnen sind berufstätig, der Einfluss von Frauen in viele gesellschaftlichen Feldern wächst, im Bildungssystem und und in einigen Bereichen haben sie die Nase vorn. Die Presbyterianer ordinieren seit 1995 Frauen, hier ziehen die Kirchen also nach. Zugleich haben viele konservative Gemeinden noch ihre Mühe, den neuen Frauentyp zu integrieren.
Fazit des Tages: Es ist aller Bewunderung wert, mit welcher Bescheidenheit und selbstkritischer Nachdenklichkeit unsere Gastgeber hier sprechen. Ob das in Deutschland auch so wäre? Oder müssten sich bei uns Gäste von anderen Kontinenten eher das museale Lob unserer historischen Errungenschaften anhören (oder unsere Verzweiflung angesichts ausbleibender „Durchbrüche“)?
Danke für den interessanten Beitrag. Nur eine kleine Ergänzung aus Erfahrungen mit koreanischen Mitstreitern auf dem „Missionsfeld“. Ich denke, dass bei nicht wenigen Missionaren die Haltung da ist, dass der Erfolg der Christenheit in Korea von koreanischen Missionaren auf andere Länder durch Disziplin und Gebet übertragen läßt. Wenn es in Korea so funktionierte, muss es auch woanders so ähnlich funktionieren. Es besteht oft ein enormer Erfolgsdruck sowohl von den sendenden Gemeinden als auch von der Selbsterwartung gr0ße Zahlen zu präsentieren. Nicht selten kommt es mit der Haltung: „Wir wissen wie es geht, wir haben es selbst erlebt.“ Megagemeinden werden gerne als die Vorbilder genommen und in ein sehr ruralen Kontext, wie z.B. hier in Kambodscha, unreflektiert übertragen. Den vielen Besuchern aus Korea muss bewiesen werden, dass die Missionsbemühungen Erfolg haben. Gerne wird auch aus Korea dirigiert, wie der Missionar vorzugehen hat, um möglichst dem heimischen Modell zu entprechen.
Ich bin froh, dass es bei euren Treffen die koreanischen Redner durchaus kritisch mit ihrem Erbe umgehen. Ich höre auch gerne koreanische Kritik an westlichen Missionsmethoden und -motiven an. Da müssen wir uns gegenseitig bereichern lassen.
@Gerri: Ja, ich fürchte, diese Spannung wird noch eine Weile bleiben. Immerhin scheint der Ansatz eines Umdenkens da zu sein. Ich hoffe, dass das bald seinen Weg nach Kambodscha und die übrigen Teile der Welt findet!