Weisheit der Woche: Die Illusion der goldenen Mitte

Gestern abend kam in einer Gesprächsrunde die Frage nach der „goldenen Mitte“ auf. Natürlich will (und muss) man manche Extreme vermeiden, weil da zum Beispiel die Grenze zum Fanatismus überschritten wird. Aber die Mitte als Ideal taugt auch nicht, da waren wir uns einig.

Heute habe ich Martin Schleskes brandneues Buch Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens in die Hand genommen, mich an der anregenden, bildreichen Sprache gefreut und eine schöne Antwort auf die Frage von gestern gefunden:

Im Bild einer Landschaft gesprochen, geht es gerade nicht um die sprichwörtliche „Gratwanderung“ – jenen scharfen Höhenweg, wo zur Rechten und zur Linken je ein steiler Abgrund droht. Es ist vielmehr das Bild zweier Berggipfel – eben der harmonischen Gegensätze –, die zwischen sich einen weiten Raum aufspannen. Es ist der seelische Lebensraum, den ein Mensch einzunehmen fähig ist. Da ist kein scharfer Grat des Guten, sondern ein Raum der einander zugeordneten, entgegengesetzten, guten und segnenden Kräfte.

Er nennt dann Begriffspaare wie Leidenschaft und Gelassenheit, Treue und Freiheit, die immer beide zum menschlichen Seelenvermögen gehören. Da wo die Spannung verloren geht, schreibt Martin, lieben wir Gott nicht mit ganzer, sondern nur mit halber Seele.

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6 Antworten auf „Weisheit der Woche: Die Illusion der goldenen Mitte“

  1. Sehr schönes Bild.
    Friedemann Schulz von Thun bietet mit seinem Wertequadrat auch eine gute Hilfe an, um positive Pole gegenüberzustellen und entsprechende negativen Pole wahrzunehmen. (z.B. Sparsamkeit und Freigebigkeit als positive Pole; Geiz und Verschwendung als jeweiligen negativen Pol.)

  2. Moment mal: Geiz ist die Hyperbole der Sparsamkeit, Verschwendung die der Freigiebigkeit. Also geht es doch wieder um die Mitte. Zumindest geht es um die Vermeidung von Extremen. „Entgegengesetzte, gute und segnende Kräfte“? — Gut und segnend sind sie ja nur, wenn sie nicht extrem sind, sonst würden sich ja Extreme wie Verschwendung und Geiz entgegenstehen und nicht die weniger Extremen guten und segnenden Kräfte der Sparsamkeit und Freigiebigkeit. Das kann Martin Schleske nicht gemeint haben.

    Martin schreibt also selbst von der Mitte, auch wenn Peter das anders sieht. Schön finde ich allerdings, dass Martin die Gratwanderung ablehnt, die wäre ja wieder ein Extrem. Aber die Mitte, ist die ein Extrem?

    1. @Ephcharisto: Die Definition von Geiz als übertriebener Sparsamkeit ist nicht zwingend. Um im Bild zu bleiben: Man muss keine lineare Skala aufmachen, auf der Geiz weiter weg von einer wie auch immer gedachten Mitte wäre als Sparsamkeit. Nimmt man dreidimensional Geiz als verdrehte und verbogene Sparsamkeit (oder unterstellt, dass er nur äußerlich an Sparsamkeit erinnert, aber von ganz anderen Beweggründen getragen wird), sieht es anders aus. Martin Schleske nimmt als Geigenbauer ja immer harmonische Gegensätze zweier guter Kräfte an. Und die spannen für ihn keine lineare Mitte, sondern ein weites Feld auf, weil er nicht zweidimensional denkt. Ein Tal, von dem aus man überall noch beide Gipfel sehen kann (statt der Grat mit Abgründen beiderseits). Reduziert man das Ganze auf zwei Dimensionen bleibt wieder nur die aristotelische, statische Mitte. Da liegt m.E. der Denkfehler.

  3. Das ist das Schwierige beim Zitieren, dass doch immer Kontext auf der Strecke bleibt. Aber wenn es Lust aufs Lesen macht, dann ist ja doch etwas gewonnen.

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