Meditieren mit den Füßen auf dem St Cuthbert’s Way

Ende Oktober war ich auf dem St. Cuthbert’s Way unterwegs. Sechs Tage zu Fuß von Melrose in den Scottish Borders nach Lindisfarne in Northumberland. Auf den Spuren des großen angelsächsischen Heiligen aus dem siebten Jahrhundert, der Novize in Melrose war und später Prior und Bischof von Lindisfarne.

Ich bin den Weg ganz bewusst allein und als Pilgerweg gegangen. Und hatte mir als Motto einen Gedanken von Friedrich Nietzsche eingepackt:

So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.

Nach einem Tag Anreise mit der Bahn (trotz Sturmtief über Europa hatten alle Umstiege geklappt) von Nürnberg nach Durham stand ich am nächsten Morgen auf, ging in der Morgensonne ein Stück am River Wear entlang und dann hinauf in die Kathedrale. Samstags um halb neun war es dort noch ganz still und leer, nur hinter dem Hochaltar hatte sich eine kleine Gruppe zum Morgengebet am Grab von St. Cuthbert eingefunden. Einen schöneren Einstieg ins Pilgern hätte ich mir kaum vorstellen können.

Geschichte unter den Füßen

Die Bahn brachte mich dann über Edinburgh Waverley in die Scottish Borders. Dort am River Tweed wartete die erste der insgesamt vier Border Abbeys, die die schottischen Könige im 12. Jahrhundert erbauen ließen. Das keltische Vorgängerkloster lag ein bisschen weiter flussabwärts. Der St. Cuthbert’s Way führt aber dort nicht vorbei (es gibt auch nichts mehr zu sehen), sondern über die Vulkankegel der Eildon Hills nach St. Boswells – benannt nach dem Iren Boisil, Lehrer und Mentor des jungen Cuthbert. Auf den ersten Etappen sind drei der vier Border Abbeys zu sehen: Melrose, Dryburgh und Jedburgh. Für die letzte muss man ein paar Kilometer vom eigentlichen Weg abweichen. Nur Kelso bleibt buchstäblich links liegen. Alle Border Abbeys sind Ruinen. Wenn es nicht die Kriege zwischen England und Schottland waren, dann die Reformation.

Ich befinde mich auf geschichtsträchtigem Boden. In den Eildon Hills gab es eisenzeitliche Befestigungen, in Melrose stand das Römerlager Trimontium und einige Kilometer des Pilgerwegs verlaufen auf der Route einer Römerstraße. Im Alltag mache ich mir das selten bewusst, wer da alles schon vor mir unterwegs war und wie lange. Der Weg verbindet über die lange Zeit hinweg. Ich folge in den Fußstapfen vieler anderer, auch wenn ich ganz allein unterwegs bin. Die Geschichte, die mich dabei am meisten interessiert, ist die des jungen Angelsachsen Cuthbert. Mary Low weiß in ihrem Buch über den St. Cuthbert’s Way für jeden Abschnitt des Weges etwas zu erzählen.

Wind und Wetter um die Ohren

Es liegt nahe, den Weg von West nach Ost zu gehen. Die Chronologie passt zur vorherrschenden Windrichtung. Und Ende Oktober ist es ein großer Unterschied, ob der Wind mich schiebt oder mir ins Gesicht bläst. Natürlich war ich auch auf Regen eingestellt, aber am Ende waren die wasserdichten Sachen nur am zweiten Tag nötig, sonst war es ganz überwiegend trocken und oft auch sonnig. Die Tage wurden kurz, die Sonne ging gegen halb fünf schon unter, für ausgedehnte Pausen oder größere Umwege war kaum Zeit. Aber die Beschränkung der Zeit fokussiert auch – der Blick geht konsequenter als sonst nach vorn, auf den Weg.

Mein wunder Punkt

Ab dem dritten Tag wurde das Etappenziel auch aus einem weiteren Grund immer wichtiger: Ich stellte fest, dass meine Beine 25 km am Tag locker wegsteckten und dass mein mit viel Bedacht gepackter Rucksack gut zu tragen war. Was ich nicht erwartet hatte, waren die wunden Füße. Meine alten, eingelaufenen Wanderstiefel entpuppten sich als zu eng. Über Nacht erholten sich die Füße immer ein bisschen, die erste Hälfte des Tages ging einigermaßen, aber dann schmerzte jeder Schritt – bergab immer noch etwas mehr als bergauf. Die Landschaft war immer noch wunderschön, aber der Genuss war getrübt und die Gedanken wollten auch zu keinen größeren Höhenflügen mehr ansetzen. Außer der nicht ganz unwichtigen Einsicht, dass ich es für völlig selbstverständlich gehalten hatte, dass mich meine Füße den ganzen Weg tragen. Aber das war es nicht, ich hatte sie zu sehr strapaziert. Am vierten Tag bog ich für das letzte Drittel vom Weg durch die Cheviot Hills ab und nahm den Bus nach Wooler. Es fühlte sich ein bisschen nach Niederlage an. Aber ich wusste: Es war richtig, Rücksicht zu nehmen und die Grenze zu respektieren, die der Schmerz markierte.

Das Finale

Nach Hoły Island, da muss man barfuß gehen, sagte eine Einheimische zu mir am Morgen vor dem letzten Stück Weges. Ich hatte das letztes Jahr schon mal gemacht, aber das war Anfang Juni gewesen und mit unversehrten Füßen. Aber irgendetwas sagte mir, dass ich den Rat befolgen sollte. An der Nordsee angekommen, zog ich die Schuhe aus und lief den Pilgerweg über den nassen Sand barfuß. Lindisfarne ist eine Gezeiteninsel. Als ich ankam, hatte ich sämtliche Blasenpflaster verloren. Das Meerwasser tat der Haut gut. Ich schrubbte den nassen Sand ab, zog Socken und Stiefel wieder an und ging zur Priory, der letzten und wichtigsten Klosterruine auf diesem Pilgerweg. Es waren Herbstferien und der Ort voller Ausflügler. Etwas abseits sind auf einer Erhebung die Grundmauern der Kirche des keltischen Klosters zu sehen. Man kann schön nach Bamburgh hinüberschauen, wo die Könige von Northumberland residierten. Es war kühl und hinter den Wolken sank die Sonne dem Horizont entgegen. Ich entschloss mich, den Rückweg noch einmal barfuß zu gehen. Diesmal war ich ganz allein. Auf einer Sandbank in der Nähe konnte ich im schwächer werdenden Licht eine Gruppe Kegelrobben sehen. Der Wind trug ihren mehrstimmigen Gesang herüber über die stille Meerenge. Ich war, von ein paar Seevögeln abgesehen, in diesem Konzert der einzige Zuhörer. Nach einer Weile verlor sich der Gesang in der Ferne. Aber der Zauber dieses Abschieds begleitete mich in die anbrechende Nacht.

Die innere Unruhe, die ich am Grab des Cuthbert noch mit mir herumgetragen hatte, war verschwunden. Sie ist, wie die Pflaster, buchstäblich irgendwo auf der Strecke geblieben. Eine große Dankbarkeit ist an ihre Stelle getreten.

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