Vom Segen der Naivität

Forscher sind der Frage nachgegangen, warum Covid-19 für ältere Menschen so viel gefährlicher ist als für Junge. Das ist für eine Pandemie ungewöhnlich. Ein Erklärungsansatz hat mit dem Immunsystem älterer Menschen zu tun. Das verfügt zwar über ein stattliches Gedächtnis, hat aber eine geringere Kapazität, sich auf ganz neue Bedrohungen einzustellen:

»Im Alter hat man zwar viele T-Gedächtniszellen für bereits durchlebte Infektionen«, sagt Cicin-Sain. »Das Problem ist aber, dass die Zahl der naiven T-Zellen, die etwas Neues erkennen, mit dem Alter klar abnimmt.«

Luka Cicin-Sain, Leiter der Forschungsgruppe Immunalterung und Chronische Infektionen am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig

In dieser Krise entpuppt es sich als Vorteil, über kein Vorwissen und keine Vorerfahrungen zu verfügen und das Neue wirklich als Neues zu erkennen, nicht als Wiederkehr des schon Vertrauen und Bekannten, dem sich mit Business as Usual begegnen ließe.

Wenn Erfahrung nicht mehr ausreicht

An dieser Stelle tun sich Analogien auf: Beim Immunsystem ist diese Veränderung natürlich und altersbedingt. In unseren gesellschaftlichen Institutionen und Prozessen ist sie zwar verständlich, aber eben kein Automatismus. Fehldeutungen entstehen, wenn man Neues durch die Brille dessen betrachtet, was schon mal da war. Eine Pandemie ist zum Beispiel kein Krieg. Sie macht Amtsinhaber in einer Demokratie (oder dem, was mancherorts davon noch übrig ist) nicht zu Oberbefehlshabern, die autoritär durchregieren dürfen.

Photo by Nikita Kachanovsky on Unsplash

In den nicht mehr ganz jungen Kirchen scheint mir ein ähnliches Muster erkennbar. Institutionelle Strukturen und Abläufe (Liturgien etwa) sind so etwas wie geronnene Erfahrung. Manches davon hat sich in früheren Krisen als lebensrettend erwiesen und seither gute Dienste geleistet. Leider funktioniert gerade nur noch ein Bruchteil der Kirche, wie wir sie kennen. Die Frage ist daher, wie viele „naive Zellen“ jetzt noch vorhanden sind und wie die mobilisiert werden:

Wo wird derzeit ganz naiv gefragt und überlegt, was unser Auftrag als Kirche Christi ist? Wie wir ihm mit den Mitteln und unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts nachkommen? Welche Endeckungen und Lösungen des 16. oder 19. Jahrhunderts heute vielleicht nicht mehr zielführend sind? Und nicht zuletzt: Selbst wenn wir eines schönen Tages uneingeschränkt zum kirchlichen Business as Usual zurückkehren könnten, sollten wir das auch tatsächlich tun?

Denkt noch jemand an Klimaschutz?

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Jüngere Menschen, das berichtete Spiegel Online letzte Woche, halten die Klimakatastrophe für deutlich gravierender als Covid-19. Einerseits nehmen sie die Warnungen und Berechnungen der Klimawissenschaftler ernster als viele aus der Generation der Eltern und Großeltern, weil sie die Folgen der Erdüberhitzung mit voller Wucht abbekommen werden. Andererseits sind sie eben auch „naiv“ genug, diese Krise als etwas völlig Neues zu erkennen. Sie erliegen nicht dem verharmlosenden Irrtum, mit ein paar kosmetischen Korrekturen sei ein Business as Usual doch wieder drin. Freilich gilt:

Klimakrise und Artensterben sind für die Menschheit weit bedrohlicher als eine zusätzliche Viruserkrankung, so bedrohlich und potenziell tödlich diese Erkrankung auch sein mag. […]Jedes weitere Extremwetterereignis, das der Menschheit vor Augen führt, was wirklich los ist, wird diese Konstellation verändern, aber das geht im Augenblick nicht schnell genug.

Christian Stöcker

Vielleicht ist die erste Seligpreisung „Selig sind die Armen im Geist“ ja auch eine Einladung, jung und naiv zu bleiben. Das ist freilich etwas ganz anderes als die Leichtgläubigkeit, mit der viele derzeit auf Gerüchte und Verschwörungstheorien abfahren. Die stellen immer nur rhetorische Fragen, wissen immer schon ganz genau Bescheid und gehen auf immer dieselben Sündenböcke los.

Zugleich besteht in der Corona-Krise auch die Möglichkeit, uns geistig zu verjüngen und für die Klimakrise zu lernen: Die Warnungen der Fachleute ernst zu nehmen. Die Wissenschaftskommunikation zu verbessern. Exponentiale Kurven zu verstehen; ein Bewusstsein für Kippunkte zu entwickeln (ein Kollaps der Intensivmedizin kommt ebensowenig aus heiterem Himmel wie der des polaren Eisschilds). Sich auf Einschnitte beim Wohlstand und Konsumverhalten vorzubereiten. Soziale Folgen dieser Maßnahmen zu bedenken und sie durch aktive Umverteilung abzufedern. Der Wirtschaft klare Vorgaben zu machen, statt sie auf Teufel komm raus zu deregulieren.

Solche Dinge. Diese Mentalität. Um es mit dem grantigen Nobelpreispropheten zu sagen: May you stay forever young.

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Corona und der andere Blick für den anderen

Nach all den Tagen im Lockdown, die noch eine ganze Weile abgestuft andauern werden, merke ich, wie sich mein Gefühl für räumliche und körperliche Nähe in der Öffentlichkeit verändert. Eine Art inneres 360° Radar schlägt an, wenn andere sich auf weniger als zwei Meter annähern. Ich werde unruhig. Wer weiß, wie wir alle in einem Jahr über angenehme Distanz und unangenehme Nähe fühlen und denken?

Diese Woche war ich mit meinem Sohn laufen. Hintereinander und nicht nebeneinander, damit andere auf dem Weg gut an uns vorbei passen. Ab und zu mussten wir einen Haken schlagen. Zum Beispiel um ein Kind, das mitten auf dem Weg stand. Prompt mokierte sich der Kleine über die „blöden Männer“, die da an ihm vorbeizogen. Sogar die Kleinen stehen schon unter Strom…

Photo by Evgeni Tcherkasski on Unsplash

Hier und da kamen uns auf diesem Lauf Leute entgegen, und manchmal waren hinter ihnen wieder andere ein paar Schritte schneller unterwegs. Nicht jeder hält in so einem Moment die gebotenen anderthalb Meter Distanz oder wartet kurz. Manche zwängen sich hastig durch zu enge Lücken.

Ich spüre gerade, dass ich das mittlerweile als aggressives Verhalten empfinde. Beinahe wie das Auto, das mich beim Radeln mit 50 Zentimeter Abstand und 50 Kilometer Geschwindigkeitsunterschied überholt. Es gibt offenbar Menschen, für die ist jedes Bremsmanöver ein Stück Sterben.

Vielleicht ist das auch eine Reaktion auf die allgegenwärtige Verlangsamung, dass es manche nun auf Fuß- und Radwegen drauf ankommen lassen; nach dem Motto: Wenn es die anderen stört, werden sie schon Platz machen. Der Unterschied zum SUV-Beispiel ist freilich, dass man sich auch selbst einem erhöhten Risiko aussetzt. Menschen mit ungebremster Wucht nahe zu kommen, wird in Zukunft zunehmend als rüde empfunden werden. Und nicht alle werden mit einem Achselzucken reagieren. Nicht, weil sie Mimosen wären, sondern weil sie ihre Sinne angesichts realer Risiken neu justiert haben.

Gestern habe ich übrigens Freunde nicht erkannt, die mir auf dem Fahrrad im Wald entgegenkamen. Ich war so darauf fixiert, am äußersten Rand des Weges zu fahren. Auch die Sehgewohnheiten ändern sich. Wie wird sich das verändern, wenn demnächst alle Masken tragen und man einander nur noch mit Mühe erkennt?

Was wird es künftig bedeuten, einen Blick für andere Menschen zu haben?

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Nimm’s (nicht?) persönlich: Über Baum- und Börsenpoesie

Einige von uns verbringen ja krisenbedingt mehr Zeit im Wald. Das kann den Horizont durchaus erweitern. Der Herald brachte kürzlich ein Interview mit Peter Wohlleben über dessen Anschauung von Bäumen. Der Mann wird ja immer wieder kritisiert, weil er angeblich zu menschlich von Bäumen spricht. Er beschreibt sie als soziale, kommunikative Wesen und benutzt dabei – anders als viele seiner Kollegen – Metaphern aus unserem menschlichen Miteinander. Zum Beispiel, wenn er einen Baumstumpf, der über das Wurzelgeflecht benachbarter Bäume am Leben erhalten wird, als „Ruheständler“ bezeichnet.

Freilich ist er damit eher auf der poetischen Seite des wissenschaftlichen Spektrums. Dort wird allerdings nicht weniger metaphorisch geredet. Es sind lediglich andere Metaphern, die bevorzugt werden: Mechanistische (Wohlleben nennt das „Bioroboter“) oder ökonomische Vorstellungen – Konkurrenz, Synergie, Effizienz zum Beispiel. Immer wieder ist zu lesen, diese oder Lebewesen seien darauf aus, ihre Gene so weit wie möglich zu verbreiten. Auch in solchen Formulierungen steckt eine Art Intentionalität, aber eben keine primär soziale.

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Die Ökonomen sind indes schon wieder einen (zweifelhaften) Schritt weiter in Richtung Börsenpoesie. Immer wirde mal heißt es, der DAX stemme sich gegen Risiken oder schlechte Nachrichten. Während es sicher kein Fehler ist, von Bäumen als Lebewesen zu sprechen, kann man einem Börsenindex schwerlich so etwas wie Bewusstsein oder Wille nachsagen. Der bildet nur das bunte Treiben vieler Akteure auf dem Markt ab.

Es ist also akzeptabel, vom DAX personifizierend oder vermenschlichend zu reden, aber nicht vom Wald. Ich vermute, dafür gibt es nur eine Erklärung: Er steht den meisten von uns einfach näher als die Natur. Wir erkennen uns selbst in ihm wieder (klar – er ist ja unser Geschöpf!) und wir erwarten uns von ihm mehr Trost, Hilfe und Beistand als von unseren kleinen und großen Mitgeschöpfen. Das wäre eine durchaus besorgniserregende Tendenz.

Um so mehr wünsche ich allen schöne und bewusstseinsbildende Spaziergänge im Wald. Habt keine Scheu, mal mit einem Baum zu reden. Peter Wohlleben sagt zwar, dass die Bäume uns nicht verstehen. Aber das ist auch gar nicht der Punkt: Das Reden könnte uns helfen, sie wieder als Lebewesen zu sehen und nicht als Baumaterial oder stimmungsvolle Kulisse für Freizeitaktivitäten. Und das Hören auf den Wind in den Baumkronen, das Knarren der Äste, das Rascheln im Laub.

In diesen Sinn – einen gesegneten GrünDonnerstag!

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