Ist Freundschaft uns Wurst?

„Gemüse vom Grill? Und ich dachte, wir sind Freunde!“ So steht es auf einem Plakat, das nicht etwa für eine Metzgerei, sondern für Zigaretten wirbt. Und ich wundere mich: Liebe Raucher, wo ist denn Eure Lässigkeit geblieben? Früher wart Ihr mal entspannt (oder habt so getan); und jetzt geht’s anscheinend immer und überall gleich um die Wurst?

Was ist bloß mit uns passiert, wenn Freundschaften nur noch fleischbasiert funktionieren oder – das wäre der Umkehrschluss, den mir das Plakat unterjubeln möchte – auf der Grundlage gemeinsam genossenen Gemüses? Das antiquierte „Bratkartoffelverhältnis“ wäre auf dem Weg zu ganz neuer Relevanz!

Photo by Bruno Kelzer on Unsplash

Wie viele Gemeinsamkeiten braucht eine Freundschaft? Wie viele Unterschiede halte ich selber aus, bis ich jemanden „entfreunde“, ihr oder ihm aus dem Weg gehe, mich nicht mehr melde? Können wir Differenzen nicht mehr so gut aushalten wie früher oder wollen wir uns die Mühe einfach nicht mehr machen? Freundschaft unter Vorbehalt braucht kein Mensch.

„Liebe Deinen Nächsten“, so lautet die Zumutung Gottes an mich. Nächste, nicht Gleichgesinnte: Diese eine Person, mit der ich es hier und jetzt zu tun habe. Auch wenn uns kulturelle und kulinarische Welten trennen. Dabei auf die Liebe zu setzen – freundlich, zuvorkommend, großzügig und verletzlich zu bleiben – birgt eine Gewinnchance: Sie könnte erwidert werden. 

Und dann wäre es ganz egal, dass heute Gemüse auf den Tisch kommt, an dem ich geliebter Gast bin.

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Tonis Tattoo

Im Radio höre ich ein Interview mit dem Fußballer Toni Kroos. Das Gespräch kommt irgendwann auf die vielen Tätowierungen an seinem Körper. Kroos erklärt, dass er sich für jedes seiner Kinder ein Tattoo stechen ließ. Für das nächste sei auch schon ein Platz vorgesehen.

Photo by Julia Giacomini on Unsplash

Ich bin jetzt nicht so der Tattoo-Typ, aber die Geschichte geht mir aus einem anderen Grund nach: Manchmal fühlen sich Menschen von Gott vergessen, wenn sie schwere Zeiten durchmachen. In eine solche Situation hinein spricht Gott in der Bibel einmal folgenden Satz:

Kann Mutter ihr Kind vergessen? Und selbst wenn sie es vergessen würde: ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände.

Jesaja 49,15

Anders gesagt: Auch Gott trägt Tattoos mit den Namen/Gesichtern der Seinen. Er kann das nicht einfach abstreifen oder ausradieren. Wir stellen uns Gott ja eher körperlos vor, aber in der Bibel ist immer wieder von seinen Händen, seinem Arm oder seinem Gesicht die Rede. Ein Gott also, der zupackt. Der hinschaut. Und der nicht schweigt.

Was für eine gewagte Vorstellung: Wie eine Mutter nicht aufhört, ihre Kinder mit sich herumzutragen, bloß weil die inzwischen selber laufen können oder ausgezogen sind, so trägt Gott uns mit sich herum – eintätowiert in seine Schöpferhände.

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Samstags bin ich Superman

Kürzlich hatte ich wieder einmal das Missvergnügen, mehrere Stunden auf deutschen Autobahnen unterwegs zu sein. Ein paar Tage nachdem der Bundestag den Antrag auf ein generelles Tempolimit mit breiter Mehrheit abgelehnt hatte, obwohl Umfragen zufolge eine klare Mehrheit von 57% der Bürger dafür ist. Die 498 Abgeordneten, die gegen die Mehrheit ihrer Wähler*innen stimmten, gehören einer geschlossenen Autofront an, die von der SPD über Union und FDP bis hin zur AFD reicht. Ein Tempolimit würde zwar drei Millionen Tonnen CO2 einsparen. Aber was zählen schon Vernunft und Wählerstimmen, wenn man darüber die Großspender vergrault?

Der Umwelt und der Sicherheit wegen war ich also mit etwa 130 Sachen unterwegs. Es war Samstag Abend, Geschäftsreisende und Wochenendpendler waren schon zuhause. Die LKWs wurden weniger, aber die Zahl derer, die mit 180 und mehr dahinbrettern, nahm spürbar zu. Der „ganz normale Wahnsinn“ eigentlich, nur dass er nicht von allen als Wahnsinn erkannt wird, weil wir – das gehört beim Wahn ja dazu – etwas für „normal“ halten, was es so in keinem anderen Land weit und breit gibt.

Der Deutsche rast, weil er kann

Termindruck dürfte kaum ein Grund für die Eile sein. Mein Eindruck war, der Deutsche rast schlicht und einfach, weil er kann. Und wenn diese Freiheit, durch das Vorhandensein anderer Fahrzeuge in Frage gestellt wird, drängelt er (es ist fast immer ein er) sich den Weg eben frei, indem er andere nötigt und gefährdet. Irgendwann hörte ich auf, die Szenen zu zählen, in denen (mehrheitlich dunkle) Audis, BMW und Mercedes dem Pöbel in seinen Kleinwagen ein ums andere Mal Lektionen erteilten, die allesamt lauteten: »Egal, wie langsam rechts der Verkehr läuft, die Überholspur befährst du nur unter Lebensgefahr«. Die bewusst martialisch gestylten Kühlergrills der SUVs und Oberklasse-Kombis schreien dir diese Botschaft schon auf hundert Meter Abstand förmlich in den Rückspiegel.

Photo by Blake Barlow on Unsplash

Ich musste an Marshall McLuhan denken, der schrieb: „The car is … an extension of man that turns the rider into a Superman“. Die plumpeste Couch Potato kann sich auf der Autobahn irgendwie „sportlich“ fühlen, genügend PS vorausgesetzt. Das alleine wäre vielleicht nur unfreiwillig komisch. Aber McLuhan, der das Auto auch als „Mechanical Bride“ bezeichnet, sah noch mehr und andere Auswirkungen der überbordenden Automobilität. Das Auto hat alle Räume, die Menschen verbinden oder trennen, neu arrangiert. Das hat Folgen:

… nobody seemed to notice that emotionally the violence of millions of cars in our streets was imcomparably more hysterical than anything that could ever be printed. […] Are people really expected to internalize – live with – all this power and explosive violence without processing and siphoning it off into some form of fantasy for compensation and balance?

Eine automobile Welt ist eine aggressive, gewaltsame Welt. Und diese erlebte und verübte Gewalt bleibt nicht ohne Folgen für die Menschen. Dann schreibt er weiter:

Strangely, in so progressive an age, when change has become the only constant in our lives, we never ask „Is the car here to stay?“ The answer, of course, is „No.“ […]

At the heart of the car industry, there are men who know that the car is passing, as certainly as the cuspidor was doomed when the lady typist arrived on the business scene. What arrangements have they made to ease the automobile industry off the center of the stage?

Marshall McLuhan, Understanding Media, erschienen im Jahr 1964 (!)

Angst und „Krieg“: Können wir nicht mehr aussteigen?

55 Jahre später, womöglich etwas langsamer, als McLuhan dachte, erfüllen sich seine Ankündigungen. In einer Welt rasender Veränderung darf sich nur das Rasen nicht verändern. Es weist alle Qualitäten eines Fetisch auf, der etwas längst verloren Gegangenes irgendwie noch gegenwärtig erscheinen lässt. So wird ein Schuh aus der Tempolimitverhinderung: Denn wenn unsere Landsleute auf internationale Normalgeschwindigkeit eingebremst würden, dann könnte all die unverrichtete Trauer über das, was wir schon längst verloren haben, mit einem Schlag über uns hereinbrechen. Droht also eine echte Identitätskrise, wenn das Rasen ein Ende hat?

Manche politischen Akteure scheinen das zu befürchten, wenn Sie den Befürworter*innen der Verkehrswende vorwerfen, einen „Krieg gegen das Auto“ zu führen. Wir kennen das vom „Krieg gegen die Kohle“: Politiker, die diese Phrase verwenden, spielen den Anwalt „der kleinen Leute“ und einfachen Menschen. Sie werden allerdings (in den USA gut zu sehen) von Milliardären wie den Koch-Brüdern dafür belohnt und unterstützt. Und so lesen sich McLuhans Sätze aus den Sechzigern wie Prophezeiungen, die gerade in Erfüllung gehen. Wie aber schützt man sich vor dem Grauen, das immer mehr ans Bewusstsein drängt? Zum Beispiel, indem man ein SUV kauft. Vor ein paar Wochen las ich in der taz:

Das SUV, das sind wir. Niemand kauft ein solches Monstrum wider besseres Wissen. Er kauft es, eben weil er über den Krieg auf den Straßen – und nicht nur dort – informiert ist, buchstäblich nicht unter die Räder kommen will.

… [es ist ein] dystopisches Fluchtfahrzeug. Wenn dereinst alles zusammenbricht, dann kann ich damit querfeldein den Abflug machen. Notfalls … auch über Leichen. Es ist in seiner aggressiven Defensivität das Fahrzeug der Stunde.

… Spätestens hier wird klar, was das Ding eigentlich soll. Es ist nicht unmenschlich, sondern allzu menschlich. Wir wollen das, wir brauchen es. Es reinigt die von uns verpestete Außenluft, sobald sie zur Innenluft wird …
Es schützt uns vor einer allzu … gefährlichen Welt, wobei es die Welt noch gefährlicher macht, wovor es uns aber schützt. Denn wir sitzen hoch droben. Das zentralverriegelte SUV ist die Lösung für alle sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme unseres Jahrhunderts.
Und deswegen können wir nicht mehr aussteigen.

Arno Frank in der taz

Keine zehn Jahre nach McLuhans vorausschauenden Worten spielte sich eine Episode ab, an die ich in diesen Tagen öfter denken musste: Autofreie Sonntage im Zuge der Ölkrise 1973. Menschen fingen an, über die Grenzen des Wachstums nachzudenken. Wir machten als Familie einen Spaziergang über die Umgehungsstraße unseres Dorfes, auf der sonst in unschöner Regelmäßigkeit Menschen tödlich verunglückten. Leider blieb es nur eine Episode. Und die Autos von damals erscheinen heute lächerlich klein und zerbrechlich.

Vom Gas gehen

Mit oder ohne Zwang: Vielleicht täten uns solche Pausen gut. Aussicht auf Erfolg besteht allerdings wohl nur da, wo sie nicht zum Anlass für rechtes Kriegsgeschrei genommen werde, sondern als Chance, mal nach unseren dauernden unterschwelligen Angstzuständen zu fragen, über das zu trauern, was schon längst verloren und vorbei ist: Die Zeiten nämlich, als wir nach Herzenslust konsumieren und emittieren konnten, ohne von den globalen Auswirkungen dieses Lebens eingeholt zu werden.

Am großen Klima-Freitag Ende September fand in Nürnberg eine „Critical Mass“ statt. Am Treffpunkt des Fahrradpulks stöckelte eine Dame mittleren Alters auf und ab und begann, einzelne Radfahrer persönlich zu beschimpfen. Sie benutzte eine nicht nur in rechten Kreisen beliebte Argumentationsfigur: Wer auch nur irgendein Kleidungsstück aus Kunstfaser trug, den stellte sie als Heuchler und Lügner hin, der kein Recht habe, Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen zu üben. Irgendetwas an dieser bunten, friedlichen Fahrradtruppe hatte sie offenbar maßlos provoziert.

Immer wieder mal wird ja den Aktivisten die Schuld an solchen Gegenreaktionen angehängt. Und freilich gibt es klügere und weniger kluge Formen des Protestes. Trotzdem – wer sich an diesen Zuweisungen beteiligt, verwechselt meines Erachtens Ursache und Auslöser: Keine(r) der Anwesenden hatte dieser Frau etwas getan. Die Selbstgerechtigkeit, die sie uns so erbittert vorwarf, war ihre höchst eigene Bewältigungsstrategie – für eine Welt, die sich bedrohlich verändert hat, wenn man mal die Autotür öffnet.

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Das Gute und die Zeit – Erntedankgedanken

Heute wurde fast überall Erntedank gefeiert. Die Früchte, die wir ernten und von denen wir leben, brauchen neben Wasser, Luft, Sonne und Boden noch eins, um zu Wachsen: Zeit. Im Buch Kohelet heißt es:

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: … eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen.

Von meinem Büro aus kann ich einen Kastanienbaum sehen. Schon vor zwei Wochen standen Kinder darunter und wollten die unreifen Kastanien „ernten“. Weil die aber nicht von selbst herabfielen, warfen sie Stöcke hinaus und rissen Zweige ab – mit bescheidenem Erfolg. Inzwischen fallen die reifen Kastanien ganz von selbst herunter. Die Erfahrung zeigt: Wer keine Zeit zu Warten hat, braucht mehr Energie und bekommt schlechtere Resultate.

Diese Woche berichtete der BR, dass Unterfranken dieses Jahr die kürzeste Weinlese aller Zeiten erlebt hat. Die Winzer stellte das vor große Probleme, sie hatten statt früher sechs bis acht nur noch zwei Wochen Zeit. Die Zeit fehlt. Es hat sich etwas beschleunigt. Oder besser: Wir haben es beschleunigt.

Vor ein paar Wochen sprach ich mit einem alten Bauern, einer vom ganz alten Schlag. Er sagte, das Gras, das er gerade geschnitten hatte, müsse ein paar Tage liegen, bis er es an die Kühe verfüttern kann. Viele Kollegen haben ein Silo, da ist das Gras dann nach 24 Stunden schon „fertig“. Allerdings sind auch die Kühe, die es fressen müssen, auch nach fünfeinhalb Jahren „fertig“, während seine mehr als doppelt so lange leben.

Massentierhaltung, synthetisches Fertigessen, ungesundes Fast Food, das sind nur ein paar Symptome der Beschleunigungsgesellschaft, die nicht mehr warten will, bis die Zeit da ist. Zeit, die Dinge brauchen, um gut zu wachsen. Durch Importe aus fernen Ländern oder vollklimatisierte Aufzucht ist nun das ganze Jahr über Erdbeerzeit (oder auf welches Obst auch immer sonst ich gerade Appetit verspüre). Man könnte freilich auch sagen: Wenn immer Zeit ist für alles, ist keine Zeit mehr für irgendwas.

Photo by Ümit Bulut on Unsplash

Gerade wird wieder über ein Tempolimit auf Autobahnen gestritten, als handele sich es um ein allgemeines Menschenrecht, mit 200 über den Asphalt zu brettern. Aber Zeit ist schließlich Geld, oder?

Doch der Preis, den wir dafür tatsächlich bezahlen (oder den wir anderen aufbürden) ist einfach zu hoch. Beim Energieverbrauch, bei der Reinhaltung des Grundwassers, bei der Qualität und Art des Essens, bei der Mobilität – überall muss sich etwas ändern. Diese Veränderung kostet wieder: Zeit. Und weil wir sie so lange vor uns her geschoben haben, wird es jetzt mehr Zeit kosten, bis wir Gutes ernten:

Eine Zeit, Probleme zu verstehen, und eine Zeit, sie zu lösen,
eine Zeit, Gewohntes zu verlernen, und eine Zeit, uns in Neues einzuüben,
eine Zeit, über Verluste zu trauern, und eine Zeit, sich über Geglücktes zu freuen
eine Zeit, Experimente zu machen, und eine Zeit, ihre Wirkungen auszuwerten
eine Zeit, die Zerstörung zu bekämpfen, und eine Zeit, wieder Hoffnung zu schöpfen.

Lasst uns das Warten auf die rechte Zeit wieder üben. Das ist so ziemlich das einzige, was keinen Aufschub duldet.

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Greta und der Regenbogen: Bibel, Borniertheit und Weltpolitik

Greta Thunberg hat mit ihrer nachdrücklichen, konfrontativen How-dare-you-Rede vor den Vereinten Nationen am Montag letzter Woche ordentlich Staub aufgewirbelt. Unter den vielen Reaktionen fand sich auch ein US-Geistlicher, der zu Donald Trumps Umfeld gehört, Robert Jefress von den Southern Baptists. Der gab im Fernsehen zu Protokoll, Greta solle sich halt einen Regenbogen anschauen, wenn sie sich Sorgen wegen des Klimas macht. Das Wetterphänomen beweise doch, dass Gott die Katastrophe schon noch verhindern werde.

Photo by Todd Cravens on Unsplash

Da wird also mit Bibelsprüchen Weltpolitik in ihrer brachialsten Form begründet. Mich erinnerte das an einen Kommentar, den ich hier vor vier Jahren auf einen Blogpost zur Klimakrise bekam, und der mit Links zu allerlei irreführenden, unseriösen „Studien“ garniert war:

Zudem solltest Du, der Du ja behauptest Christ zu sein, wissen, dass Gott folgendes versprochen hat: 1Mo 8,22 Von nun an soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht, solange die Erde besteht! Da Gott versprochen hat, dass keine weltweite Flut mehr kommen soll und das die Jahreszeiten, die nach der Flut aktiviert wurden, bis zum Ende der Welt bleiben, brauchen wir uns durch so falsche Klimaapostel nicht aus dem Konzept bringen lassen, die durch ihre angeblichen Forschungsergebnisse Millionen verdienen.

Das Spannende ist ja nun, dass es tatsächlich eine historische Verbindung zwischen Sintflut und Klimawandel geben könnte. Als der Meeresspiegel nach der letzten Eiszeit wieder angestiegen war, durchbrachen die Fluten irgendwann den Bosporus und ergossen sich ins Schwarze Meer. Auf dessen Grund fand man Spuren eines früheren Küstenverlaufs. Gut möglich, dass manche der vielen Sintflut-Erzählungen der alten Welt auf so eine vorgeschichtliche Erinnerung zurückgehen: Schmelzende Gletscher, steigende Meere, versinkende Landstriche. Freilich damals ohne menschliche Verursacher, wohl aber mit menschlichen Opfern.

Die altorientalischen Erzähler konnten noch verschiedene Götter für das Hereinbrechen der Katastrophe und der Rettung der Menschheit verantwortlich machen. Israels Nach- und Neuerzählung muss den Zwiespalt von Zorn und Barmherzigkeit innerhalb des einen Gottes ansiedeln und dort lösen. Folglich liegt die Pointe der biblischen Sintflutgeschichte am Ende, im Gottesbild: Gott beschließt, den Hang der Menschen zum Bösen künftig nicht mit Gewalt zu bekämpfen. Die Liebe zu seinen Geschöpfen – Menschen und Tieren, das ist ja wichtig angesichts des sechsten Artensterbens im Anthropozän – behält die Oberhand.

Überhaupt nicht am Horizont der alten Welt erschien jedoch die Möglichkeit, dass Menschen die Zyklen des Klimas und der Jahreszeiten aus dem Takt bringen und sich selbst so massiv gefährden könnten, wie wir das tun. Folglich spielt das auch in Gottes Zusage, dass Saat und Ernte, Frost und Hitze nicht aufhören, keine Rolle. Aber genau das geschieht im Augenblick!

Ein anderer „Regenbogen“ – der globale Temperaturverlauf seit 1850 visualisiert

Und es wäre nun fatal, diesen Satz aus seinem Kontext (der Fürsorge des Gottes, der das Leben und die Geschöpfe liebt) zu lösen, um menschliches Versagen bei der Fürsorge für Mitmenschen und Mitgeschöpfe zu verharmlosen und für dessen drohende, inzwischen allenthalben spür- und nachweisbaren Wirkungen eine wundersame Lösung zu postulieren. Weder eine übernatürliches Eingreifen noch eine technokratische Wundermaschine werden uns den Gefallen tun.

Wie trügerisch eine solch falsche Sorglosigkeit sein konnte, hatte Israel im babylonischen Exil erlebt. Zuvor hatte es Stimmen in Jerusalem gegeben, die dem Volk einredeten, die Stadt Gottes sei uneinnehmbar. Aber die falschen Propheten behielten nicht recht. So wie diejenigen heute auch nicht Recht behalten, die uns weismachen wollen, wir könnten sorglos fossile Energieträger verfeuern, ohne Tempolimit durch Land und Lüfte düsen, den Regenwald abfackeln und so weiter. Diese Analogie sollte uns beschäftigen. Damals gab es ein „zu spät“. Jeremia wusste das und sprach darüber. Robert Jefress hingegen steht auf der Seite der falschen Propheten, die ohne jegliche innere und äußere Substanz vom Frieden faselten.

Wenn am Erntedankfest diesen Sonntag in vielen Kirchen wieder von Gottes Verlässlichkeit in den Rhythmen der Natur die Rede ist, dann sollte uns das dazu bewegen, uns zusammen mit ihm auf die Seite der bedrohten, seufzenden Kreatur zu stellen. Und seine Verheißung nicht als Freibrief für ein ignorantes oder auch nur halbherziges, abgeschmacktes „Weiter so“ zu missdeuten.

In der biblischen Erzählung von der großen Flut tut Gott etwas Bemerkenswertes, auch für biblischen Verhältnisse. Er bereut – gleich zweimal. Zu Beginn reut es ihn, die Menschen geschaffen zu haben, die seine Erde verderben. Am Ende denkt er erneut um und verwirft die Strategie der Vernichtung.

Wenn Gott das zweimal innerhalb weniger Monate kann, dann könnten wir es doch wenigstens einmal ernsthaft versuchen…?

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Columbas Küste

Kintyre im Westen Schottlands ist eine Ecke, an der die ganz großen Touristenströme vorbei fließen. Um so größer mein Staunen, als ich diesen Sommer entdeckte, dass es dort nicht nur prähistorische Steinkreise zu besichtigen gibt, sondern auch Spuren der frühen iroschottischen Kirchengeschichte.

Mull of Kintyre

Besonders hängen geblieben sind bei der Gelegenheit die Orte, an denen St. Columba (oder Columcille) der Gründer des Klosters von Iona genannt wird. Der südlichste davon liegt unweit des Mull of Kintyre und damit, selbst bei mittelprächtigem Wetter, in Sichtweite der irischen Küste: Keil Caves und St. Columba’s Footprints. Wenn jemand von Ulster aus übersetzt, dann ist das tatsächlich ein geeigneter Ort, um an Land zu gehen.

Ein ganzes Stück weiter nördlich, bei Ellary am Loch Caolisport, liegt St. Columba’s Cave. Auf dem Weg von Tarbert dorthin kommt man in Kilberry vorbei und kann dort ein paar alte Steinkreuze und Grabplatten mit keltischen Ornamenten besichtigen.

Die Spur führt weiter nach Norden, ins Zentrum des Königreichs Dal Riata, auf dem Burgfelsen von Dunadd. Columba stammte aus dem Adelsgeschlecht der Ui Neill, und hier regierten Verwandte. In den Ruinen der Burg findet sich wieder ein Fußabdruck. Man vermutet, dass Könige den Fuß zur Einsetzung in ihr Amt dort hineinstellten. Und von Columba ist bekannt, dass er bei Krönungszeremonien mitwirkte.

Von Dunadd aus sind es nur noch wenige Meilen zu den uralten Steinkreisen im Tal von Kilmichael. Das nahegelegene Museum lockt mit einem Coffeeshop und einer informativen Ausstellung zur wechselhaften Geschichte dieses Landstrichs. Und wenn man sich an der Mündung des malerischen Crinan Canal einschifft, dann ist Iona schon nicht mehr weit mit seiner Abbey (übrigens ab Juni 2020 wieder offen für Gäste) und den Königsgräbern.

Es war für mich ein unerwarteter Pilgerweg. Wer es gern still mag, ist hier gut aufgehoben.

Kilmartin

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