Der kontemplative Weg, oder: Fly by the seat of your pants

Zehn Jahre auf dem kontemplativen Weg liegen hinter mir. Ich frage mich hin und wieder, ob ich ohne die Entdeckungen, die ich dabei gemacht habe, heute überhaupt glauben könnte – geschweige denn Pfarrer sein. Verschiedentlich habe ich hier über Erfahrungen geschrieben. Vieles hat sich vertieft und gefestigt, also versuche ich heute eine Zwischenbilanz. Und am Ende versteht Ihr vielleicht, was das mit dem Fliegen und dem Hosenboden auf sich hat.

Wie beim Labyrinth: weniger verwirrend, als es auf den ersten Blick scheint
unsplash-logoAshley Batz

Die äußeren Stationen

sind schnell erzählt und wer mag, kann sie überspringen. Angeregt von Stans Möhringer, der Beauftragten für Meditation im Dekanat Erlangen habe ich mich 2009 zu den Jesuiten nach St. Andrä in Kärnten gewagt zu Wanderexerzitien. Da ist man den größten Teil des Tages in Bewegung, während man schweigt, und anders hätte ich den Einstieg wohl auch kaum geschafft. 2012 habe ich dann zehn Tage im oberfränkischen Gries verbracht, 2014 auf Straßenexerzitien in München, 2015 und wieder in den letzten Tagen dann war ich im Haus HohenEichen in Dresden-Hosterwitz.

Immer bei Jesuiten. Und immer gern, weil ich das theologische Niveau und das weite, gastfreundliche ökumenische Herz der Verantwortlichen so schätze.

Behutsam mit mir selbst

Auf dem kontemplativen Weg lerne ich, die vielen Gedanken, die mir durch den Kopf rasen, immer wieder unaufgeregt ziehen zu lassen und nicht ins Grübeln zu geraten. Wir reden ja gelegentlich vom „Kopfzerbrechen“, aber viele Dinge und Angelegenheiten sind das gar nicht wert. Stattdessen rauben sie mir die Kraft für das, was wirklich wichtig ist.

Die Indifferenz gegenüber den Gedanken macht mich aufmerksam auf Gefühle und Stimmungen. Im Wald von HohenEichen lagen diesmal viele umgestürzte Bäume. Ich bin der Ursache dafür (Dürre, Sturm…) gedanklich nicht groß nachgegangen. Das führt in der Regel weg aus dem Hier und Jetzt in andere Zeiten oder andere Orte. Aber ich habe die Traurigkeit bemerkt, die der Anblick bei mir auslöst. Und im Betrachten, im Gewärtig-Sein der Traurigkeit zogen einige traurige Erlebnisse aus letzter Zeit vorbei. Nach einer Weile löste sich die Trauer und erschien auch nicht wieder. Beim nächsten Waldspaziergang standen andere Eindrücke und Stimmungen im Vordergrund. Das Schauen ging allmählich ins Lauschen über – auf eine andere Präsenz, die alles berührt und wandelt, was sich in mir regt. Rilke hat das in seinem Stundenbuch wunderschön ausgedrückt, ich habe es früher schon einmal zitiert:

Wer seines Lebens viele Widersinne

versöhnt und dankbar in ein Bildnis fasst,
der drängt die Lärmenden aus dem Palast
wird anders festlich, und du bist der Gast
den er an sanften Abenden empfängt.

Sehen, was ist

Angesichts der »Widersinne« könnte statt Versöhnung auch Streit entstehen. Dann nämlich, wenn ich dem Reflex nachgebe, sofort zu werten und zu entscheiden: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Ich übe nun, erst einmal aus- und innezuhalten. Zu sehen, was ist. Und zu warten, was wird. Ich denke, das kann auch eine Lektion aus dem Gleichnis Jesu vom Unkraut unter dem Weizen sein: Erst einmal warten und genau hinsehen, nicht schon gleich loshasten und alles ausreißen, was ich für Unkraut halte. Wieviel Schaden entsteht aus diesem Übereifer, alles sofort zurechtzustutzen, was mich gerade stört! Und wieviele Überzeugungen, die ich mit großem Ernst und Leidenschaft vertreten habe, habe ich inzwischen wieder ad acta gelegt? Was zeigt sich, wenn ich still halte? Was steckt zum Beispiel noch alles in der Wut, die irgendwer oder irgendwas bei mir auslöst? Und wie ändert sich das, wenn ich mir die Zeit dafür gebe, noch etwas länger hinzusehen?

Mit Gleichgültigkeit hat das freilich nichts zu tun. Das Buzzword Ambiguitätstoleranz macht derzeit die Runde. Vielleicht ist es gut, daran zu erinnern, dass diese Offenheit für den Widersinn vor allem eine innere Haltung ist, die man üben kann und kultivieren muss. Also nicht in erster Linie ein intellektuelles Konzept, das man zur Kenntnis nimmt und das sich so eben mal einfordern oder anknipsen lässt. Natürlich kann man nicht alles immer offen und unentschieden lassen. Aber wenn Überzeugungen reifen dürfen, tragen sie vielleicht auch länger und weiter.

Momentan werde ich oft gefragt, wie es mir nach einem guten halben Jahr auf der neuen Stelle geht. Das kann zum Vergleich verleiten: War es früher besser? Oder wäre ich vielleicht anderswo besser aufgehoben? Beim vorletzten Aufenthalt in HohenEichen habe ich über die Geschichte von Maria und Martha meditiert und den Satz Jesu: »Maria hat das gute Teil erwählt«. Jesus sagt nicht »besser«, er wählt nicht den Komparativ. Und ich stelle für mich fest, es geht gut. Hier und jetzt. Das reicht völlig aus für die nächste Zeit.

Warten, was wird

Der kontemplative Weg wird für mich von biblischen Worten und Bildern gesäumt. Zum Beispiel, dass Gott mir den Tisch deckt im Angesicht meiner Feinde – Menschen und Situationen, die mir zusetzen. „Lade sie doch ein“, lautete die überraschende Antwort meines geistlichen Begleiters in einem solchen Moment. Das hat gut funktioniert. Ich muss gar nicht kämpfen. Und sagt nicht Ex 14,14 – »Der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein« – quasi dasselbe? Mit diesem Wort begannen vor 14 Tagen die Exerzitien in HohenEichen.

Manchmal kehren in der Stille alte Themen und Fragestellungen zurück. Anfangs fand ich das irritierend. Nun merke ich mehr und mehr, dass es sich wie in einer Spirale verhält: Die Beschäftigung mit den Dingen findet auf einer anderen Ebene statt. Andere Sichtweisen und Lösungen werden damit möglich.

Oft ist Kontemplation ein Ausharren. Treu dabei zu bleiben, wenn Druck von außen und innen spürbar ist. Immer wieder das wandernde oder leidende Herz zurückzuholen. Aber das allein wäre zu wenig. Es ist ein erwartungsvolles »Harren« auf den einen, lebendigen Gott. Und als solches steht es, gerade in schwierigen Zeiten, unter einer großen Verheißung:

… die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft,
dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,
dass sie laufen und nicht matt werden,
dass sie wandeln und nicht müde werden.

Jesaja 40,31

Atemzüge und Flügelschläge

Es ist ein bisschen paradox. Ich sitze mit vollem Bodenkontakt in der Gegenwart und Wirklichkeit. Und dann schwingt sich mein Herz ganz unvermutet auf. Es lässt sich fast mühelos bis zu einem Punkt tragen, von dem aus sich meine Situation wie Puzzleteile ordnen und zusammenfügen lässt. Das hat nichts mit Überheblichkeit und Überlegenheit zu tun. Aber viel mit Ehrfurcht und Dankbarkeit. Jeder aufmerksame Atemzug ist wie ein Schlag mit geschenkten Flügeln eines Adlers, der im warmen Aufwind seine Kreise zieht.

Zurück zum Anfang: Die Redewendung „Fly by the seat of your pants“ bedeutet im Englischen so etwas Ähnliches wie „sich Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzen“. Von außen betrachtet sieht der kontemplative Weg recht undramatisch aus. Innerlich ist das freilich eine ganz andere Sache – das wussten schon die Wüstenväter. Und wenn ich ab und zu erzähle, dann merke ich, wie allein schon der Gedanke an Stille bei manchen Unbehagen auslöst. Oder diese Mischung aus Faszination und flauem Magen, die bei mir am Anfang stand.

Es kann wundersam beflügelnd sein, sich auf den Hosenboden zu setzen.

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Politische Theologie und das globale Schlamassel

Der Unterschied zwischen der politischen Theologie von Jürgen Moltmann, Dorothee Sölle, Johann Baptist Metz u.a. und einer (neu)rechten politischen Theologie, die wieder bei Carl Schmitt anknüpft, liegt in der Differenz zwischen apokalyptischer und eschatologischer Orientierung:

Apokalyptiker sehnen den Endkampf zwischen Gut und Böse herbei. Eschatologiker hingegen sind von einer Theologie der Hoffnung erfüllt. Sie arbeiten nicht an der Apokalypse, sie verstehen sich vielmehr als geduldige Mitarbeiter am kommenden Reich Gottes.

Rolf Schieder in feinschwarz.net

Was das Motiv vom „Endkampf“ bewirkt, hat sich am Freitag in Christchurch gezeigt. Trotzdem ist das mit den Begriffen, die Schieder hier benutzt, so eine Sache. Wir haben es ja durchaus mit verschiedenen Apokalypsen zu tun: Die rechte Apokalypse ist der angebliche Verrat der globalen Eliten an Volk und Nation. Das rechtfertigt den Ausnahmezustand, fördert eine identitäre „Resakralisierung des Politischen“ und dient als „Radikalisierungsmanual“, erklärt Schieder. Sein Gegenmodell des „Eschatologischen“ trifft sicher auch auf die oben genannten Protagonisten zu, die politische Theologie in den Siebzigern sozial- und institutionenkritisch betrieben.

Fingierte und reale Apokalypsen

Ich bin trotzdem nicht ganz zufrieden mit dieser Differenzierung. Zumindest nicht im Blick auf die Gegenwart. Denn da reden wir ja nicht nur vom rassisch-völkischen Wahn und seinen halluzinierten Abendlandsapokalypsen, sondern von mess- und in groben Zügen auch berechenbaren Apokalypsen, die uns ins Haus stehen – wenn wir nicht gegen die Klimakatastrophe unternehmen, die schon längst im Gang ist. Wo buchstäblich die Elemente der Welt aufbegehren gegen menschliche Gier und politische Verantwortungslosigkeit. Hier ist Geduld ein problematischer Begriff, weil die Zeit tatsächlich drängt. Ungeduldige Beharrlichkeit ist da schon eher angesagt.

Politisch-kulturelle Veränderungen lassen sich umkehren, und viele arbeiten daran ja mit großem Eifer und in unterschiedlichen Richtungen. Sind ökologische Kipppunkte aber erst einmal überschritten, kommt jegliches Umdenken zu spät. Ulrich Beck bezeichnete das kurz vor seinem Tod in Die Metamorphose der Welt schon einmal mit dem Wort „Katastrophismus“. Damit verband er die Hoffnung, es könne ein emanzipatorischer Katastrophismus werden. Ob sie sich erfüllt, ist noch nicht entschieden.

Bruno Latour denkt das in seinem terrestrischen Manifest weiter und spricht vom geosozialen Zeitalter. Erdboden und Atmosphäre werden zu eigenständigen „Attraktoren“, die das Politische neu ausrichten. Und zwar quer zu alten Polaritäten wie konservativ/progressiv oder lokal/global:

„Die Frage stellt sich, ob mit dem Auftauchen und der Beschreibung des Attraktors des Terrestrischen politisches Handeln wieder sinnhaft und richtungsweisend werden kann – und so der Katastrophe zuvorkommt.“

Bruno Latour
Hier nehmen wir diesen Faden von Latour und Beck auf: Con:Fusion 2019

Ausnahmezustände

Entsprechend ist die auch Botschaft der Jugendlichen von Fridays for Future, die (verhältnismäßig junge) Politiker wie Christian Lindner oder Paul Ziemiak und ihre herablassenden Sprüche festgefahren und fossil aussehen lässt, eine Botschaft des Ausnahmezustands. Symbolisch wird das Thema Ausnahme an der Schulpflicht durchgespielt. Vor allem aber werden drastische Schritte eingefordert, um einen noch drastischeren Verlauf der schon im Gang befindlichen Katastrophe noch abzuwenden. Freilich mündet das, anders als bei Carl Schmitt und seinen neurechten Wiedergängern, nicht in den Ruf nach dem starken (und natürlich weißen) Mann. Der hat die Katastrophe mit seiner imperialen Lebensweise ja überhaupt erst herbeigeführt.

Haben sich Forscher, Volksvertreter und Aktivisten beim Klimawandel eher vornehm im Entdramatisieren geübt, während von Rechts Gefahren ebenso unablässig wie hemmungslos beschworen und dramatisiert werden? Viele waren besorgt, nicht zu radikal zu wirken. Die Auto-, Kohle- und Agrarlobby konnte ihr Wunschpersonal derweil in den einschlägigen Ministerien platzieren. Aber nun besteht die Hoffnung, dass der Widerstand lauter, breiter und entschlossener werden könnte.

Dem Schlamassel ins Auge blicken

Schieders Unterscheidung eschatologisch/apokalyptisch trifft also im Zeitalter der Verstockung auf die Frage nach dem „Woher“ zu. Sie greift aber noch zu kurz im Blick auf das „Wohin“. Da liegt noch Arbeit vor uns. Inspirierend erscheint mir etwa diese Analyse von Wolfgang Palaver. Von René Girard angeregt schreibt er über Wege, einer rechten Politik der Angst beizukommen. Er verweist auf eine Spiritualität, die Menschen dezentriert und damit Toleranz fördert, und einem „reiterativen Universalismus“, der Gott auf vielfältige Weise am Werk sieht in der Welt. Das lässt sich mit der Klima-Thematik gut verbinden.

Vielleicht möchten einige von Euch diesen Faden aufnehmen und weiterspinnen. Im September haben wir von Emergent Deutschland aus Con:Fusion 2019 geplant. Als kleinen Beitrag zur großen Aufgabe. Wir brauchen ja nicht nur eine neue Theorie, sondern wir müssen einander Mut machen. Und wir brauchen auch einen spirituellen Ort, wo Klage laut werden darf, Abstumpfung geheilt wird, so dass schließlich wieder Neues gedeihen kann.

Nicht nur in der Politik, auch in der politischen Theologie stehen wir vor neuen Aufgaben.

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Hoffnung kann auch graue Haare tragen

Vor 20 Jahren oder etwas mehr bekam ich eine Einladung in eine Gruppe älterer Damen, die allesamt traditionell kirchlich waren. Das einzige, woran ich mich aus dem Gespräch noch erinnere, war der große Kummer in der Runde, dass wir Jungen die wunderbaren Lieder von Paul Gerhardt verschmähten und lieber irgendetwas Neueres sangen. Er schien die Freude darüber in den Schatten zu stellen, dass junge Menschen Gottesdienste feiern und sich für den überlieferten Glauben begeistern.

Kürzlich wurde ich wieder eingeladen, freilich nicht in dieselbe Gruppe, doch die Altersstruktur war vergleichbar. In dieser Runde traf ich auf ein bemerkenswertes Interesse an neuen Formen von Gottesdienst und Gemeindeleben. In einer Welt, die sich so tiefgreifend verändert hat, fanden einige, hinke die Kirche doch ganz schön hinterher. Und als ich einwarf, dass manche Leute sich wünschen, dass alles in der Kirche so bleibt wie immer (weil ja alles andere nicht mehr ist, wie es immer war), war die Reaktion ein energisches Kopfschütteln.

Die Sache mit den Paul-Gerhardt-Liedern lässt sich mit dem Begriff „Minimalskandal“ aus Nils Minkmars heutigem Kommentar im Spiegel ganz treffend beschreiben. Dahinter, diagnostiziert Minkmar, verbirgt sich eine schwache Identität. Im Blick auf die Politik hierzulande notiert er: »Manchmal konnte man den Eindruck haben, dass die ganze Republik zum Weltkulturerbe erklärt werden sollte, so veränderungsphobisch gaben sich Politik und Öffentlichkeit in diesem Jahrhundert.« Es gibt auch kirchliche Verlautbarungen, die exakt so gestrickt sind.

unsplash-logoRoman Kraft

Mit diesem Ansatz, das hat mich der Abend mit der Frauengruppe gelehrt, kann man nicht mal mehr Seniorinnen hinter dem Ofen vorlocken. Die Frage nach neuen Formen von Gottesdienst und kirchlichem Leben ist immer auch eine Frage nach der Identität, die, öfter als wir es uns eingestehen, an Musikstile, liturgische Traditionen und Gewänder, sakrale Gebäude und institutionelle Ordnungen gekoppelt ist. Um Minkmar noch einmal für den Bereich der Politiker und Parteien zu zitieren: »…augenblicklich steht zu befürchten, dass sie die [Identität] in ihrer Vergangenheit suchen, in Kruzifix-Aktionen und Sozialpolitik statt, wie es Willy Brandt so meisterlich sagte, „auf der Höhe der Zeit“ zu sein.« Da hätten die Ladies zustimmend genickt, das kennen sie von Kirchens auch. Und an ihren Kindern und Enkeln sehen sie, was es bewirkt hat.

Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich in den letzten Jahren zu hören bekam, dass Veränderungen in den Kirchen nach Möglichkeit zu vermeiden seien, um die Älteren nicht zu irritieren. Die Hürden, die man den Jüngeren damit in den Weg stellt, wurden dagegen nur selten thematisiert, oft beschränkt auf Fachtagungen zum Thema Jugendarbeit und andere Nischen. Aber es geht längst nicht mehr um einzelne Generationen, sondern ums Ganze.

Bruno Latour hat in „Jubilieren“ den ebenso schönen wie provozierenden Gedanken zum Umgang mit religiösen Traditionen im Spiel von Wiederholung und Abwandlung formuliert: » … es geht nicht darum, einen Schatz unbeschädigt durch die Zeit zu transportieren, sondern die Truhen zu füllen, um sie erneut insgesamt – banco! – aufs Spiel zu setzen.«

Dass Großmütter (sie waren es zumindest mehrheitlich…) damit kein Problem haben, ist für mich ein Zeichen der Hoffnung. Jede Gemeinde braucht solche Stimmen!

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Der kleine Musikant

Eine Urnenbeisetzung letzte Woche. Die Februarsonne wärmt die Gesichter. Schneeglöckchen recken sich ihr entgegen. Auf den Pfützen am Boden schwimmt noch das Eis der letzten Nacht.

Wir versammeln uns um das Grab. Und mit uns ein Buchfink. Er sitzt direkt über uns, ungewohnt nahe, auf dem Zweig einer Tanne.

Und dann singt das kleine Wesen aus vollen Hals. Inzwischen sind alle Worte gesagt und alle Blumen abgelegt. Als letzte steht die Witwe des Verstorbenen noch da. Sie lauscht dem fröhlichen Gezwitscher, und dann schaut sie auf und sagt: „Wie schön er singt. Als hätte ihn jemand bestellt“.

Und auch ich denke mir: Den kleinen Musikanten hat uns einer geschickt. Und er hat mit seiner Lebensfreude die Herzen erreicht.

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Fahrräder segnen – geht das?

Im Anhang von „Holy Spokes“ der fahrradfahrenden Methodistenpfarrerin Laura Everett aus Boston findet sich eine Liturgie zur „Segnung der Fahrräder“. Die Idee hat sie von Lutheranern (!) aus Denver übernommen, dem House for all Dinners and Saints.

Kritische Fragen

Ich habe kürzlich in kleiner Runde den Vorschlag gemacht, etwas Ähnliches in Nürnberg auszuprobieren. Zu meiner Überraschung bekam ich zu hören: Fahrräder können wir nicht segnen, nur Fahrradfahrer*innen. Dinge zu segnen sei doch unevangelisch. Am Ende würde jemand auch wieder Fahnen und Waffen segnen wollen.

Klar, ich kenne das Argument: Wir segnen nicht die Sparkassenfiliale, die eingeweiht (!) wird, sondern die Mitarbeiter*innen dort. Und so weiter.

Andererseits geht für mein Empfinden etwas Entscheidendes verloren, wenn ich einfach nur die Leute segne. Und zwar deshalb, weil ich sie nicht aufspalten kann in ihre unterschiedlichen Rollen. „Radfahrer“ ist ja nur ein Aspekt unter vielen, wenn es um die ganze Person geht. Und in der Regel nicht einmal der Entscheidende.

In der Segnung der Fahrräder aber geht es aber genau darum, eine bestimmte Art der Fortbewegung zu fördern und zu stärken. Eine bestimmte Haltung gegenüber der Mitwelt und den Mitmenschen. Wer sich mit Muskelkraft fortbewegt statt mit dem SUV durch die Gegend zu brettern, schont einerseits die Ressourcen. Andererseits macht man sich damit auch verletzbar: Es besteht die Gefahr, von anderen über den Haufen gefahren zu werden. Das Symbol für all diese Zusammenhänge ist der Helm, das Rad, der Roller, Rollator, Rollstuhl, Skateboard, oder was sonst noch Räder hat.

Dualismus oder Symbol?

Unser neuzeitlicher Dualismus von Geist und Materie kommt uns hier leicht in die Quere. Entweder segne ich einen Gegenstand oder eine Person, das Rad oder die Fahrerin.

Aber wie im Abendmahl auch ist ein Gegenstand nicht immer einfach nur ein Gegenstand. Er kann auch Symbol sein. Brot und Wein sind Symbole der Tischgemeinschaft unter Menschen und der Gastmahle Jesu. Im Abschiedspassa vergegenwärtigt Jesus den Auszug aus Ägypten, seinen Tod am folgenden Tag und das Mahl der Erlösten auf dem Zion aus Jesaja 25. Und damit gibt er diesem Abschied (und unserer Erinnerung daran) seine spezifische Bedeutung.

Ich bemühe die lutherischen Formel „in, mit und unter“ nicht so oft. Aber so stelle ich mir die Segnung der Fahrräder vor: Menschen kommen zusammen, verbunden in ihrer Verwundbarkeit als Verkehrsteilnehmer und ihrer Absicht, achtsam mit den Mitgeschöpfen umzugehen. Dazu bringen sie ihren fahrbaren Untersatz mit. „Drahtesel“ können zwar nicht sprechen wie Bileams Eselin, aber natürlich ist das eine Geste, eine stumme Aussage, wenn ich mit Rad und Helm erscheine. In, mit und unter Menschen, Helmen, Rädern, guten Vorsätzen und mitunter traumatischen Erfahrungen suchen wir Gott. Und wenn dabei symbolisch (und das heißt: nicht magisch) auch die Räder gesegnet werden, haftet an ihnen die Erinnerung an Gott, dessen Schutz wir suchen und dessen Liebe uns verpflichtet.

Zeichen setzen

Ein sakraler Raum ist seltsamerweise für die meisten von uns kein befremdlicher Gedanke. Manchmal gehen wir auch an symbolträchtige Orte und feiern dort einen Gottesdienst. Oft wollen wir damit auch atmosphärisch etwas bewirken, indem wir Zeichen setzen. Das Fahrrad und der Helm (und in verschärfter Form das Ghostbike) sind nichts anderes als mobile Zeichen – Mahnmale und Mutmacher. Wir kleben keine Christophorusplaketten drauf, aber wir machen ein Kreuz aus ein paar Tropfen Öl. Obwohl das bald wieder verschwunden ist – eine flüchtige Angelegenheit.

Nennt mich meinetwegen katholisch – ich würde es gern machen. Ich würde (in dem hier beschriebenen Sinne) auch Rettungswagen segnen, Seenotkreuzer und Blauhelme. Um Gottes und der Menschen willen. Das sind nicht einfach nur irgendwelche Dinge.

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