Der doppelte Hiob

Manche Erzählungen sprechen Menschen aus ganz verschiedenen Kulturen und zu allen Zeiten an. In den letzten Wochen etwa bin ich auf zwei Interpretationen der Hiob-Geschichte gestoßen. Die eine stammt von dem Psychotherapeuten James Hollis (Finding Meaning in the Second Half of Life: How to Finally, Really Grow Up), der bei Hiob einen Perspektivwechsel und damit verbunden einen Reifeprozess erkennt:

Hiob gelangt zu der Einsicht, dass er anmaßenderweise davon ausgegangen war, sein kooperatives Verhalten Gott gegenüber würde diesen verpflichten, ihn gut zu behandeln. Hiob hört auf, der gute kleine Junge im Angesicht eines strengen, aber berechenbaren Gottes zu sein und wird ein zutiefst erschütterter Erwachsener. So wie Hiob (wenngleich selten so dramatisch) erleben es auch die meisten von uns, dass wir lange stillschweigend davon ausgegangen waren, dass Wohlverhalten uns Wohlergehen einbringt. Das Kind glaubt, seine Wünsche lenken die Wirklichkeit, der Heranwachsende glaubt, sein Heldenmut könnte das leisten. Dieser Plan scheitert, und mit ihm zerbricht unser Weltbild – das Weltbild unseres Ego, das sich wünscht, das Leben müsse durchschaubar und beherrschbar sein.

Wenn Leid diese Illusion wiederholt erschüttert, ein Mensch schließlich ernüchtert und demütig auf die unberechenbare, verwirrende, und immer wieder aufregend schöne Welt blickt, die sich so gar nicht um ihn dreht, dann ist er an seiner Erfahrung spirituell gewachsen, und so begegnet uns am Ende des Hiobbuches ein gereifter Hiob.

Zygmunt Bauman nähert sich in Collateral Damage: Social Inequalities in a Global Age dem Thema aus einer anderen Richtung. Während die Griechen keine Mühe hatten, die Zufälle und Willkür dieser Welt durch die vielen, stets miteinander im Streit liegenden Götter zu erklären, die in den einzelnen Teilbereichen des Lebens als Ordnungsmächte auftraten, war das für Israel ein Problem, je mehr es Jahwe als den einzigen und allmächtigen Gott verstand. Damit war er auch für alles Unheil verantwortlich, das er zulässt. Bauman schreibt:

Im schroffen Gegensatz zur stummen und gefühllosen Natur, die er regiert, verkörpert und personifiziert, spricht Gott und gibt Gebote. Er findet auch heraus, ob seine Gebote befolgt wurden, und er wird den Gehorsamen belohnen und den Widerspenstigen bestrafen. Er ist nicht gleichgültig dem gegenüber, was menschliche Schwächlinge denken und tun. Aber wie die stumme und gefühllose Natur ist er nicht gebunden an das, was Menschen denken und tun. Er kann Ausnahmen machen

Für Bauman ist das Grundbedürfnis des verletzlichen Menschen Schutz und Verlässlichkeit. Der Bund zwischen Israel und Gott schien den unberechenbaren Gott verlässlicher zu machen (Gott fordert Gehorsam und verheißt Wohlergehen), aber zumindest im Blick auf das Schicksal des einzelnen ging die Gleichung nicht auf. Immherhin aber kann man mit einem persönlichen Gott sprechen.

Generationen von Theologen haben sich an seinem Geheimnis die Zähne ausgebissen: wie allen modernen Männern und Frauen (und jedem, dem die Botschaft des Buches Exodus geläufig war), hatte man ihnen beigebracht, nach einer Regel und einer Norm zu suchen, aber die Botschaft des Buches war, dass es keine Regeln und keine Norm gab, auf die man sich verlassen konnte; genauer: keine Regeln oder Normen, an die jene höchste Macht gebunden ist.

Carl Schmitts Diktum „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, wird hier vorweggenommen. Schon die Theologen im Buch Hiob müssen sich verrenken, um an dem Zusammenhang von Sünde und Strafe, Tugend und Lohn gegen allen Augenschein festhalten zu können. Hiob weiß selbst (9,2-3), dass Gott sich nicht rechtfertigt und keine Fragen nach dem „Warum“ seines Leides beantwortet. Gott redet zu Hiob dann passenderweise aus dem Unwetter, das auch über Gerechte und Ungerechte gleichermaßen unerbittlich hereinbricht.

Bauman übergeht die theologische Pointe des Hiobbuches (Hiob hadert mit Gott, hält aber an ihm fest), er verzichtet auch auf eine psychologische Deutung, weil es ihm um etwas anderes geht: Das krachend gescheiterte Projekt der Moderne bestand seit dem Erdbeben von Lissabon genau darin, das Glück in die eigene Hand zu nehmen, die Welt zu entzaubern und den Menschen durch technischen und zivilisatorischen Fortschritt vor solchen Katastrophen zu schützen. Da man Gott dabei ausklammerte, traten nun die Menschen selbst an seine Stelle, um kraft ihrer Vernunft alle natürlichen und moralischen Risiken zu beherrschen. Kant wollte das moralische Gesetz zu einer ähnlichen Klarheit und Eindeutigkeit führen wie die Naturgesetze. Das Gegenteil jedoch, sagt Bauman, trat ein:

Statt dass vernunftgesteuertes Verhalten in den Rang des Naturgesetzes erhoben wurde, sanken seine Konsequenzen herab auf die Ebene der unvernünftigen Natur. Naturkatastrophen wurden den ‚im Prinzip beherrschbaren‘ moralischen Untaten nicht ähnlicher; im Gegenteil, es stellte sich heraus, dass das Gros der Unmoral den klassischen Naturkatastrophen immer ähnlicher wurde: gefährlich wie diese, unvorhersagbar, unaufhaltsam, unverständlich und immun gegenüber menschlicher Vernunft und Wünschen. Heutzutage treffen uns Katastrophen, die durch menschliches Handeln verursacht wurden, aus einer undurchschaubaren Welt, sie schlagen willkürlich dort zu, wo man sie unmöglich erwarten konnte, sie entziehen sich und trotzen jeder Art von Erklärung, die menschliches Handeln von anderen Ereignissen unterscheidet: einer Erklärung durch ein Motiv oder einen Zweck. Vor allem erscheinen uns die Katastrophen, die durch unmoralisches menschliches Handeln verursacht wurden, prinzipiell immer unbeherrschbarer.

Die existenzielle Verunsicherung hat sich im Verlauf der also keineswegs lindern lassen, sie wurde, etwa durch die Kräfte und „Mechanismen des Marktes, eher noch verschärft. Und so warnt Bauman vor der Aushöhlung demokratischer Kultur und vor einem fanatischen Kapitalismus, der zu „neuen Geographien der Exklusion und Landschaften des Reichtums“ führt. Was in Jerusalem begann, endet im Athen eines dauerhaften Ausnahmezustandes: der Risikogesellschaft des 21. Jahrhunderts.

Hollis fragt nach Möglichkeiten und Verantwortung des einzelnen für sich selbst. Bauman interessiert sich für die philosophischen und politischen Fragen, die zwischen Gott und Hiob angerissen werden. Es gibt mit Sicherheit noch mehr lohnende Zugänge.

Die Geschichte von Hiob ist ein gewichtiges, aber eben nicht das letzte Wort zum persönlichen wie auch dem gesellschaftlichen Umgang mit Leid und Unglück aus biblischer Sicht. Sie endet mit einem Funken von Hoffnung. Im neuen Testament wird aus diesem Funken ein Feuer.

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