Heute las ich bei einem Autor, der sich selbst als evangelikal einstuft, etwas über die katholische Kirche. Nichts unfreundliches, aber pro-forma-Kritik musste anscheinend doch sein, um dem Leser ausreichende Distanz zu beweisen. Also stand da unter anderem, Katholiken neigten zur „Werkgerechtigkeit“ – seit 500 Jahren der Standardvorwurf. Wie oft er inzwischen überprüft wurde oder ob sich hier ein identitätsstiftendes Sprachritual verselbständigt hat, ließ sich schwer beurteilen. Aus eigener Erfahrung könnte ich das so nicht verifizieren.
Merkwürdig ist es allemal. Denn Leistungsfrömmigkeit (und nichts anderes wäre die beklagte „Werkgerechtigkeit“ ja) ist im evangelikalen Bereich mindestens so lebendig wie unter den römischen Geschwistern. Ein typischer Fall von Splitter/Balken? Testen lässt sich das ganz leicht, wenn man (wie hier verschiedentlich geschehen) über das Thema Himmel und Hölle spricht. Gegen als zu inklusiv und universal empfundene Vorstellungen von Gottes Gnade erscheint dann reflexartig (und das kann ich nun durchaus aus eigener Erfahrung verifizieren…) der Einwand, dass man sich ja dann vielleicht ganz umsonst Mühe gebe und auf manches verzichte, wenn da am Ende (fast) alle „rein dürfen“, und überhaupt gehe so aller moralischer und geistlicher Ernst verloren. Man meint dann fast schon die FDP mit ihrem „Leistung muss sich wieder lohnen“ zu hören. Vielleicht ist die katholische Neigung eher die, für gutes Verhalten einen Lohn zu bekommen, während die protestantische Variante oder Versuchung die ist, auf einer knackigen Strafe für uneinsichtiges Fehlverhalten zu bestehen – die deutlich unsympathischere Form eines analogen Fehlers.
Vielleicht ist das ja ein großer Nutzen dieser Debatte: Nimm die Hölle weg – und das sonst so gut getarnte fromme Leistungsdenken geht auf die Barrikaden. Letzten Endes klagt es, so scheint mir, Gott selbst so an wie der ältere Bruder des verlorenen Sohns. Als geistliche Übung wäre diese Umkehrung von John Lennons „Imagine there’s no heaven“ auf jeden Fall ein Volltreffer – so wie Ignatius von Loyola das Gegenteil, nämlich die imaginäre Höllenfahrt, wegen des therapeutischen Effekts in seine Übungen aufnahm.
Also: Ich stelle mir mal rein hypothetisch vor, Gott schafft am Ende doch das Kunststück, keine einzige Menschenseele zu verlieren. Was freut mich daran, was stört mich? Wen möchte ich auf keinen Fall dort haben? Was regt mich an diesen Menschen so auf? Und was sagt das wiederum über meinen Schatten aus, den Teil meiner Persönlichkeit, den ich nur unter allergrößten Schmerzen anerkennen will? Wenn Gott mich liebt, obwohl er das sieht und weiß, kann ich dann auch aufhören, diese Seiten an mir selbst und anderen zu verdammen? Und wäre es dann noch eine Katastrophe, wenn die Hölle am Ende leer wäre?
PS: Der Katholik (!) Hans Urs von Balthasar hat übrigens ganz passend zu diesen Diskussionen geschrieben: „Das Ernsteste, was es gibt, ist nicht die Strafgerechtigkeit Gottes, sondern seine Liebe.“