Von der „Windstille der Gemeindehäuser“

Heute bin ich auf einen interessanten Text des Theologen Ernst Lange gestoßen. Er stand in einer Zeitschrift aus dem Jahr 1958. Manches daran mutet deshalb schon etwas nostalgisch an, der Grundgedanke allerdings hat sich im kirchlichen Leben bisher noch nicht durchgesetzt. Man bleibt weitgehend konzentriert auf Gottesdienste und Sakralbauten. Lange dagegen hatte 1960 in Berlin-Spandau eine „Ladenkirche“ eingerichtet. Die Idee hat er aus East Harlem mitgebracht, wo drei Studenten eine Gemeinde in einem Metzgerladen gegründet hatten. Damit hat er das, was heute in der Missionalen Diskussion unter Third Places läuft, schon vorweggenommen. Hier sind seine Worte:

Das Leben der Zeit ist nicht in Kirchenräumen, nicht an Lagerfeuern und in Freizeitheimen. Das Leben der Zeit ist in Maschinenhallen, an Werkbänken und Schreibtischen. Da ist das Leben unserer Mitmenschen, da ist, wenn wir ehrlich sind, auch unser Leben. Jesus Christus, unser Leben, will nicht ein Scheinleben neben dem Leben sein, sondern er will das wirkliche Leben retten durch einen Rhythmus, der auch der Rhythmus der Maschine ist. Wir haben zu lange nein gesagt zur Maschine, zur Technik, zum Fortschritt. Das war kein gehorsames Nein, denn Gott hat dem Menschen als Beruf gesetzt, die Erde zu beherrschen. Und die Maschine ist weder Götze noch Dämon, sondern ein Werkzeug dieser Herrschaft. Nun sind wir weithin die Sklaven unserer Werkzeuge geworden. Das schlechte, das unmenschliche Leben, das wir unseren Werkzeugen gegeben haben – nicht der Teufel, nicht das Kapital oder der Kommunismus – bekommen wir nun zurück: In den Riesenstädten, die uns den Atem nehmen, in den Mietskasernen, da der Gruß auf der Treppe schon zu vertraulich ist, in der Vergnügungsindustrie, die unsere Zeit totschlägt!

Wir meinten zu lange, das seien Probleme der Welt, und wir müßten doch wissen, daß Gott die Probleme der Welt zu seinen Problemen gemacht hat. Gott will, daß wir die Herren unserer Werkzeuge seien und sie im Dienst füreinander verwenden. Es ist an der Zeit, daß wir lernen, ein freies und freudiges Ja zur Maschine zu sagen, denn sie ist ein gutes Werkzeug für diesen Dienst. Es ist an der Zeit, daß wir unseren Beruf annehmen als ein Geschenk Gottes. Es ist an der Zeit, daß wir die weltlichen Probleme als unsere Fragen ernst nehmen, als Fragen nämlich, die Gott uns um des Nächsten willen stellt. Niemand nimmt uns die Verantwortung für unser Werk ab, dem berühmten Konstrukteur so wenig wie dem jüngsten Lehrling, der nur einen Handgriff am Fließband tut. Wir sind gefragt, ob dieser Handgriff Frieden schafft oder Unfrieden, ob er dem Nächsten dient oder nur uns selbst.

Das Leben der Zeit ist nicht das Leben der einzelnen, sondern das Leben der Massen. Es ist unser Schicksal, mit Tausenden zur Arbeit zu gehen, mit Tausenden in einem Block zu wohnen, mit Tausenden denselben Film zu sehen. Es ist unser Schicksal, die Anzüge zu tragen, die alle tragen, in Möbeln von der Stange zu wohnen, die Sprache der Massen zu sprechen, mag sie auch unschön sein. Wir gehören zu den Massen, arbeiten, essen und wohnen wie sie. Es ist ein schlechter, unmenschlicher Christenglaube, der uns so oft veranlasst, dieses Massenleben als etwas Verächtliches zu betrachten und uns schmollend in eine fromme Ecke zurückzuziehen. Das Leben der Massen ist unser Leben und unsere Aufgabe. Dort, wo die Menschen in Massen leben, müssen wir bewähren, daß Gottes Wort uns zu Menschen macht, nicht in den windstillen Räumen der Gemeindehäuser. Kinder zu verantwortlichen Menschen zu erziehen, obgleich Spiele sie mehr interessieren als Bücher, das Kino mehr als der Strickstrumpf – das ist christlicher, als den alten Verhältnissen nachzutrauern. Den Weg zum Nachbarn – auch und gerade in der Mietskaserne zu finden -, das ist menschlicher und christlicher, als sich darüber zu ereifern, daß die Kirchen leer sind. Mit einem Arbeitskollegen in der Frühstückspause ein gutes Wort zu sprechen -das ist so biblisch wie eine Bibelstunde, denn das Leben Christi will hinein in das Leben der Zeit.

Maschinen, Technik und Fortschritt haben sich über 50 Jahre später an vielen Orten gewandelt, die Erfahrung der Menschen, „Sklaven unserer Werkzeuge geworden“ zu sein, jedoch nicht, wenn man aufmerksam Zeitung liest. Anonyme Metropolen und organisierte Zerstreuung kennen wir auch zur Genüge.

Der Gedanke, dass „Gott die Probleme der Welt zu seinen Problemen gemacht hat“ beschäftigt heute auch wieder viele. Für Lange bedeutet das, die Technik zu meistern und zum Wohl anderer zu benutzen. Das bedeutet, sich erst einmal in der Verantwortung zu sehen und die Folgen unseres Handelns (oder unserer Untätigkeit) für andere zu bedenken. Ein eskapistisches oder isolationistisches Christentum – das wird man selten explizit, häufig dagegen implizit antreffen, und zwar überall da, wo Gemeinden und Christen sich selbst genug sind – meidet diese Herausforderung.

Und es besteht die Gefahr, das Leben der Massengesellschaft verächtlich zu betrachten und sich in die „windstillen Räume der Gemeindehäuser“ zu verkrümeln, um so etwas besonderes (und natürlich auch besseres) sein zu wollen. Lange hat schon damals vorausgesehen, was heute noch nicht allen bewusst ist, selbst wenn es unübersehbar geworden ist: eine weitreichende Entfremdung zwischen organisiertem Christentum und der Mehrheit der Gesellschaft.

Dass das Leben Christi in das so nüchtern beschriebene „Leben der Zeit“ hineinkommt, das ist die Aufgabe der Christen und Gemeinden. Langes Ladenkirche hat 2004 den Brunsbütteler Damm verlassen und sich in ein Kirchengebäude zurückgezogen. Die Gravitation des Gewohnten und Sakralen ist selbst im unkirchlichen Berlin noch übermächtig. Neue Anläufe können kaum mit institutioneller Unterstützung rechnen.

Sollte man sie dennoch wagen, oder ist Langes Entwurf Schnee von gestern?

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