Adam, wer bist du?

In den letzten Wochen haben etliche Knochenfunde neue Erkenntnisse über die komplexe Entwicklungsgeschichte der Menschheit geliefert. Die Funde von „homo?“ und „x-woman“ erinnern wieder einmal an die Schwierigkeit, an der wörtlichen, d.h. „historischen“ Auffassung der biblischen Urgeschichte aus Genesis 1-11 festzuhalten, wie sie vor allem seit Augustinus die westliche Theologie geprägt hat. Wenn man Paläontologie und evolutionäre Biologie nicht als kollektive Verschwörung gegen die Wahrheit oder gigantischen Irrtum verstehen will (manche tun das freilich…), muss man neue Wege suchen. Wie das frühere Generationen das auch recht unbefangen getan haben, wenn sie den Glauben in den Kategorien ihrer Weltsicht formulierten.

Exegeten haben längst entdeckt: Innerhalb des Alten Testaments kann Genesis 2-3 mit der Vertreibung aus dem Paradies auch als Gegenstück zum Exil gelesen werden, dann geht es darin um Israel, nicht die ganze Menschheit und es ist auch kein Wunder mehr, dass in Genesis 4 andere Menschen auftauchen. Der Sündenfall ist innerhalb des AT also eine späte Erscheinung. Er spielt im restlichen AT keine Rolle und ist auch kein Thema des apostolischen oder nizänischen Bekenntnisses. In CA II dagegen wird er vorausgesetzt – das wäre neu zu interpretieren.

Wenn also Adam und Eva nicht das eine universale Elternpaar aller Menschen waren, wenn es keinen idealen „Urstand“ einer Welt ohne Tod und damit verbunden einer „unverdorbenen“ menschlichen „Natur“ gab, und damit auch keinen einzelnen Punkt, an dem der Bruch und der Absturz sich ereignete – wie können wir heute von Gott dem Schöpfer und dem Menschen als Geschöpf – und als Sünder – reden? Das stellt die Frage nach einer Schöpfung in 6 Tagen ja von der Tragweite her mächtig in den Schatten: Die klassische Erbsündenlehre, die eine „Übertragung“ der Ursünde seit Adam durch Zeugung annimmt und sie damit folgenschwer im Bereich der Körperlichkeit sieht, ist aus heutiger Sicht einfach unverständlich.

Viele Begriffe, die dem Welt- und Menschenbild vor 1.500 Jahren entsprechen, haben heute aus vielerlei Gründen ihre Plausibilität eingebüßt. Die antike Vorstellung einer immer gleich bleibenden menschlichen „Natur“ ist heute durch eine dynamische und sich differenzierende Entwicklung überholt – die Kategorie der Differenz wird wichtiger, die der „Gleichheit“ tritt zurück. Neurobiologen denken heute das Verhältnis von Leib und Seele/Geist ganz anders als das von Platon bis Descartes noch der Fall war. LeRon Shults geht auf diese und andere Fragen in dem enorm spannenden Buch Christology and Science ein. Er analysiert sorgfältig die Begrifflichkeit und Gedankenwelt, in der sich die Lehre vom Sündenfall entwickelt hat. Dazu gehören die „Fakultätenpsychologie“ (wo der immateriellen Psyche bestimmte unterscheidbare Funktionen wie Wille, Verstand etc. zugeschrieben werden), das antike Verständnis von Leib und Seele und einiges mehr. Es geht Shults (und vielen anderen) nicht darum, die biblische Autorität zu unterhöhlen und vor den Wissenschaften zu kapitulieren, sondern darum, die Kernaussagen über das Verhältnis von Gott und Mensch unter den veränderten Bedingungen heutigen Wissens neu und so stimmig wie möglich zu formulieren:

Wir können die theologischen Aussagen der ersten Teile des Buches Genesis (…) akzeptieren, ohne die antike wissenschaftliche Kosmogonie (…) der ursprünglichen Autoren und Redaktoren zu übernehmen. (S. 43)

Im alten Orient hat man Verbundenheit zwischen Sippen und gemeinsame Eigenschaften von Menschen bevorzugt durch den Verweis auf eine gemeinsame Abstammung erklärt. Das ist heute nicht mehr unmittelbar einleuchtend.

Was also, wenn das „Paradies“ im Sinne von umfassendem Heilwerden und gerechter Beziehungen, der Abwesenheit von Leid und Tod, erst vor uns liegt? Wir müssten Genesis 2-3 dazu rückwärts lesen: Als Menschen sind wir mit der Sehnsucht geschaffen, das endliche Leben in dieser begrenzten Welt zu transzendieren. Und in dieser Hinsicht wollen wir „sein wie Gott“. Der „Sündenfall“ besteht darin, dieses Ziel aus eigener Kraft erreichen zu wollen, statt es aus Gottes Hand als Geschenk zu empfangen. In Jesus sehen wir das Gegenbild dieser Lebensweise, und erst hier zeigt sich, was wahres Menschsein bedeutet: Statt diese Bestimmung mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, kann er loslassen und wird genau deswegen von Gott auferweckt und erhöht – verwandelt in einen Zustand der Herrlichkeit, der uns auch verheißen ist in ihm. Er macht also nicht einfach etwas rückgängig, was Adam verbockt hat.

Heute könnte man das so lesen: Wir alle „sind“ Adam/Eva, und in Christus steht uns der Weg zu einem erfüllten Leben in anderen Dimensionen als den uns vertrauten offen. Damit wäre nebenbei auch das Problem vom Tisch, ob es gerecht ist, wenn Gott aufgrund des Falls der ersten Menschen auch alle anderen im Zustand der Sünde lässt bzw. die Schuld allen anlastet und alle unter Strafe stellt. Oder die Frage, die schon Augustinus nicht so recht beantworten konnte, wie aus diesem Idealzustand überhaupt ein so schwerer Fall geschehen konnte.

Jaroslav Pelikan hat gezeigt, dass die augustinische Vorstellung des epochalen Falls aus dem idealen „Urstand“ eine Reaktion auf die christologische Lehrbildung in der alten Kirche war. Dass Gott zur Rettung der Welt bis zum Äußersten ging, musste doch einen gewichtigen Grund haben. Soteriologie prägt die Anthropologie. Zarte Ansätze in eine andere Richtung findet Shults bei Theologen wie Irenäus, die nicht den Fall als Anlass oder Ursache für die Menschwerdung des Sohnes ansehen, sondern „supralapsarisch“ von der Schöpfung einer unvollkommenen Menschheit ausgehen, die von vornherein auf die Menschwerdung hin angelegt war. Das Kommen Christi ist also kein Reparaturunternehmen. Sondern es eröffnet mit der Auferstehung allen Menschen eine Perspektive über den biologischen Verfall hinaus. Für eine radikale Rekonstruktion der Christologie und Anthropologie, die Shults für nötig hält, haben wir, wie er sagt, weniger Zeit als die 400 Jahre, die zur Verarbeitung der kopernikanischen Wende nötig waren.

Spannend! Wer sich für die Materie interessiert, kann auf BioLogos weiterlesen, dort finden sich viele interessante Artikel von Theologen und Naturwissenschaftlern. Dort finden sich die folgenden zwei Videos und ein Blogpost von Peter Enns zu dieser Frage, ob man das heute noch so wörtlich nehmen muss, und ob man sich in diesem Fall – wie es immer wieder geschieht – auf Paulus berufen kann:


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