20 Jahre nach „Toronto“

In einem Gespräch mit Studierenden an der Augustana-Hochschule, die an der Vorlesung Charismatische Bewegung, Fundamentalismus und Esoterik von Prof. Dieter Becker teilnehmen, kamen wir letzte Woche auf den „Torontosegen“. Das ist ja nun genau 20 Jahre her und die Nachfrage hat ein paar Erinnerungen zurückgebracht.

Manche Phänomene, die in den Berichten oft im Vordergrund standen, haben die einen verschreckt und die anderen fasziniert. Das lenkt aber auch vom Wesentlichen ab. Viel interessanter als die Frage, wie jemand auf dem Boden landete, ist die, was dort mit ihm geschah. Wenn also irgendein ausgepowerter Pastor endlich mal eine Stunde ruhen kann, ohne dass jemand etwas von ihm will, dann ist das gut. Wenn dann unterdrückte Gefühle – Trauer, Verzweiflung, Freude, Dankbarkeit – sich melden, auch.

War da manches überdreht und albern? Natürlich, aber eben auch nicht alles. Der eigentlich problematische Aspekt liegt für mich auf einer anderen Ebene:„Toronto“ war von Beginn an auch ein globales Medienereignis, das Pilgerströme auslöste. Wie schon anno 1906 schwang die Erwartung einer großen Welle mit, eines weltweiten Aufbruchs, sprunghaften Gemeindewachstums, eines triumphalen Dominoeffekts. Erst dieser eschatologisch aufgeladene Erwartungshorizont löste die Welle aus, nicht die mystischen Erfahrungen an sich. Und damit wurde den Pilgern die schwere Last einer Erwartung aufgebürdet, die sie, wie sich zeigte, nicht einlösen konnten. Als die Euphorie verflogen war – viele bemühten sich lange und intensiv, die Welle am Laufen zu halten –, war die Ernüchterung mancherorts um so größer. Das Grundproblem war die Verzweckung geistlicher Erfahrungen.

Zur Ruhe kommen, Gefühle zulassen, das sind wichtige Erfahrungen. Statt sich hinzustellen, um dann vielleicht umzufallen, kann man sich freilich auch gleich hinlegen oder -setzen. Wenn man dabei allerdings auf ein bestimmtes Resultat fixiert ist – ein bestimmtes Gefühl, einen „geistlichen Durchbruch“ oder weltweite Erweckung – dann kann das zum mühsamen Krampf werden.

Der Geist Gottes ist an keinen bestimmten Ort gebunden. Und doch hilft manchen Menschen zu manchen Zeiten ein Ortswechsel, innerlich frei zu werden. Man braucht im Grunde auch keine anderen Menschen, keinen Gesang und andere Stimuli um sich herum. Aber manchen hilft auch das. So wie viele von uns Geld für ein Fitnesstudio bezahlen, weil sie wissen, dass sie selbst nicht (oder nicht oft genug) die Disziplin aufbringen, laufen, radfahren oder schwimmen zu gehen.

Henri Nouwen hat einmal geschrieben: „Im geistlichen Leben bedeutet Disziplin, einen Raum zu schaffen, wo etwas passieren kann, das du nicht schon geplant und mit dem du nicht gerechnet hast.“ Neben der Disziplin (ich nehme mir bewusst Zeit) steckt darin auch eine positive Absichtslosigkeit: Ich bin offen und bereit, mich auf das einzulassen, was jetzt tatsächlich passiert. Matthias Drobinski schrieb passend dazu diese Woche in der SZ:

Wer meditiert und sich ins Gebet versenkt, entkommt dem Zweck und findet den Sinn. Der Gläubige kann sich in seinen Nöten und Ausweglosigkeiten vor seinen Gott werfen und den Fall an die höchste Instanz abgeben: Mach du was draus. Das ist zwecklos, aber nicht sinnlos.

Zeit vor und mit Gott hat, wie jede Liebe und jede Freundschaft, ihren Wert aus sich selbst. In diesem Sinne: „Komm, heiliger Geist!“.

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