Der Besuch der Märchenkönigin

Was wäre die Weihnachtszeit ohne Märchenköniginnen und Märchenkönige. Im familientauglichen Fernsehprogramm vertreiben sie uns die Zeit, wenn es draußen nasskalt ist und viel zu früh dunkel wird. Man kennt die Geschichten schon auswendig, und trotzdem – oder genau deshalb? – schauen wir sie immer wieder an. Ein liebgewonnenes Ritual – ganz besonders, wenn alle zusammen auf dem Sofa sitzen.  

Eine neue Variante dieses Festtagsbrauchs hat mich neulich amüsiert. Sie funktioniert so: Die Familie (oder der Freundeskreis) schaut alle drei Sissi-Filme hintereinander an. Jedesmal, wenn das Wort „Majestät“ fällt, erheben sich alle und rufen „lang lebe die Kaiserin“. Und stoßen miteinander an.

Früher war mehr Märchen

Während Sissi, Artus, oder Kleopatra eher um Weihnachten herum Konjunktur haben, ist hier in Bayern das ganze Jahr Märchensaison. Der Märchenkönig überhaupt, Ludwig II. von Bayern, Sissis Cousin, hat sich mit seinen Prachtbauten unauslöschlich in die bayerische Landschaft eingezeichnet. Millionen von Urlaubern bewundern seine Schlösser jedes Jahr. 

Ludwig II. hatte ja ein kompliziertes Verhältnis zur Wirklichkeit. In einer Zeit, in der die Monarchie ihre besten Tage längst hinter sich hatte, überließ er das Tagesgeschäft seinem Personal und strickte an seiner eigenen Legende. Bis ihm das Geld ausging. Denn nicht einmal Könige verfügen über grenzenlosen Reichtum. 

Das mit dem Mythos funktionierte dennoch glänzend: Bis heute ist kein bayerischer Regent, mag er noch so sehnsüchtig davon träumen und noch so viel Geld in den heimischen Sand setzen, auch nur annähernd so bekannt wie Ludwig. „Ein ewiges Rätsel bleiben will ich mir und anderen,“ hat er von sich gesagt. Das ist ihm gelungen wie kaum einem anderen. Sein Tod im Starnberger See unter mysteriösen Umständen hat diesen Mythos endgültig besiegelt.

Heute ist Epiphanias, im Volksmund auch „Dreikönigstag“. Mich erinnert das daran: Königssehnsucht und Königsfrust gibt es nach wie vor. Es gibt sie schon seit biblischen Zeiten. Auch die Bibel erzählt nämlich von einem Märchenkönig – dem König Salomo. Vielleicht lässt sich daraus etwas lernen. Vielleicht entdecke ich hier sogar einen Königsweg?

König Salomo war legendär für die Weisheit, mit der er einen verfahrenen Streit schlichtete, für Reichtum und Luxus, für Weltgewandtheit und – wer hätte das gedacht? – für seine großartigen Bauwerke. Allen voran der Tempel in Jerusalem, Tür an Tür mit dem Königspalast: Thron und Altar, Gott und Regent wie in einer großen Wohngemeinschaft. 

Pomp and Circumstance 

Hätte es das Goldene Blatt schon vor dreitausend Jahren gegeben, er wäre Dauergast auf der Titelseite gewesen. Aber auch die Schreiber am Königshof von Jerusalem sind großartige Geschichtenerzähler. Um ihren Monarchen ins rechte Licht zu rücken, lassen sie die Königin von Saba auftreten. Denn wer kann einen wahren Märchenkönig besser von einem Möchtegern unterscheiden als eine waschechte Märchenkönigin? 

Salomos Ruhm machte den Namen des Herrn bekannt. Die Königin von Saba hörte davon und kam, um Salomo mit Rätseln zu prüfen. Sie kam mit einem gewaltigen Gefolge nach Jerusalem: Kamele trugen Balsam, Gold und Edelstein in unvorstellbar großen Mengen. So kam sie zu Salomo und redete mit ihm über alles, was sie sich vorgenommen hatte. Und Salomo beantwortete alle ihre Fragen. Es gab nichts, was dem König verborgen war. Auf alles fand er eine Antwort. So erkannte die Königin von Saba seine ganze Weisheit. Auch der Palast, den Salomo gebaut hatte, beeindruckte die Königin von Saba. Dazu kamen noch die Speisen an seiner Tafel, die Rangordnung seiner Beamten, das vornehme Auftreten seiner Diener und ihre Kleidung, seine Trinkgefäße und seine Opfergaben, die er im Haus des Herrn darbrachte. Das alles sah sie, und es verschlug ihr den Atem. Da sagte sie zum König: »Es ist wirklich alles wahr, was ich in meinem Land über dich gehört habe. Man spricht von deinen Taten und deiner Weisheit. Ich wollte es nicht glauben, bis ich hierher kam und es mit eigenen Augen sah: Nicht einmal die Hälfte hatte man mir berichtet! Deine Weisheit und dein Wohlstand übertreffen alles, was ich von dir gehört habe.

Die Märchenkönigin zieht in Jerusalem ein mit einer Karawane kostbarster Geschenke. Und sie ist hingerissen von ihrem geistreichen Gesprächspartner, den ihre sorgfältig ersonnenen Rätselfragen nie in Verlegenheit bringen. Salomos Berater werden ihn gut gebrieft haben. Palast und Tempel genügen augenscheinlich allerhöchsten Standards. Und das Personal in dem Land, das zwei Generationen zuvor weder eine Hauptstadt noch einen Königshof hatte, ist makellos gekleidet und zeigt beste Manieren. Salomo besteht die Prüfung mit Bravour: Fünf Sterne für seinen Auftritt, und wenn es zehn gäbe, bekäme er die auch. Er spielt von jetzt an in der Liga der ganz Großen. Und er lässt sich auch bei den Geschenken nicht lumpen: Die Königin von Saba kehrt beladen mit allem, was ihr Herz begehrt, in ihre Heimat zurück. Und mit ihr zieht Salomos Ruhm hinaus in die weite Welt. Pomp and Circumstance, so weit das Auge reicht – eine Supernova am Königshimmel des alten Orients. Und die Erzähler beeilen sich zu erwähnen, dass natürlich auch Gottes Ansehen richtig Auftrieb bekommt durch den Erfolg seines royalen Senkrechtstarters.

Vielsagendes Schweigen

Über eine Sache bin ich beim Lesen der Geschichte gestolpert: Gott, der sich in der Bibel gern selbst zu Wort meldet, bleibt in der Geschichte vom Besuch der Königin eigenartig stumm. Aber warum? Verweist Gottes Schweigen auf das, was bisher nicht erzählt wurde? Auf den Preis, den Salomos Untertanen – denn das sind sie jetzt: Untertanen, keine Landsleute – für seinen Luxus bezahlen?

Auch davon berichtet die Bibel nämlich: Dass Salomo seine Leute schwer mit Frondiensten belastet. Wochenlang sind die erwachsenen Männer auf seinen Landgütern und Baustellen am Schuften und fehlen schmerzlich zuhause, wo sie eine Familie zu ernähren haben. Das Ganze fliegt erst nach Salomos Tod so richtig auf, und prompt wählen zehn von zwölf Stämmen einen neuen Anführer. Salomo ist, als er stirbt, zwar nicht bankrott wie König Ludwig, aber sein Königtum ist moralisch und politisch am Ende.

Die Königin von Saba interessiert sich für diese Schattenseiten nicht. Ihr reicht die fesche Fassade, sie ist wie der Stargast im Luxusresort, der sich nicht darum schert, ob dem Hauspersonal der Mindestlohn bezahlt wird oder welche Umweltstandards hier eingehalten werden. „Wenn die Leute kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen“ – der böse Ausspruch wurde verschiedenen europäischen Prinzessinnen nachgesagt, aber die Überheblichkeit, die aus ihm spricht, könnte auch schon viel älter sein. Rückblickend wird klar: Salomos Reichtum beruht auf knallharter und gar nicht märchenhafter Ausbeutung der eigenen Leute. Und er trägt schon den Keim des Zerfalls in sich.

Panik im Palast

Und was hat das Ganze nun mit Weihnachten und dem Kommen Gottes zu tun? Nun, fast tausend Jahre nach Salomo schickt sich wieder einer an, in Salomos Fußstapfen zu treten. Er baut Gott einen neuen, noch viel prächtigeren Tempel in Jerusalem, seine Burgen und Paläste ziehen heute noch ähnlich viele Menschen an wie Bayerns Märchenschlösser. Der Kaiser in Rom schätzt ihn als treuen und spendablen Gefolgsmann. Zugleich ist der Mann, der als „Herodes der Große“ in die Geschichtsbücher eingeht, mehr als nur ein bisschen paranoid. Wer auch nur den Anschein erweckt, an seinem Stuhl zu sägen, den räumt er unbarmherzig aus dem Weg. Da das auch für enge Verwandte gilt, soll Augustus über ihn gesagt haben: „Es ist besser, das Schwein des Herodes als sein Sohn zu sein.“ Weil er seine Entmachtung so sehr fürchtet, macht Herodes zu Lebzeiten kein richtiges Testament. Er lässt alles im Unklaren, und deshalb zerfällt auch sein Reich, als er stirbt. 

Maria, die Mutter Jesu, hat all das schon vor Augen, als sie hört, dass sie ein Kind bekommen soll. „Gott stürzt die Mächtigen vom Thron“, singt sie in ihrem berühmt gewordenen Magnificat.

Noch aber lebt Herodes, und er bekommt überraschend Besuch. Kultivierte Menschen aus einem fernen Land im Orient, und wie die Königin von Saba haben sie Gold und “Spezereien“ – genauer: Weihrauch und Myrrhe – als fürstliche Geschenke im Gepäck. Sie werden bei Hofe empfangen, aber anders als sein Vorgänger Salomo kann Herodes die Frage nicht beantworten, die ihm gestellt wird. Man muss fairerweise dazu sagen, dass es keine der üblichen Rätselfragen war. Sie erwischt ihn eiskalt:

Sie fragten: »Wo ist der neugeborene König der Juden? Denn wir haben seinen Stern im Osten gesehen und sind gekommen, um ihn anzubeten.« Als König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm alle in Jerusalem.

Panik im Palast, anders kann man es nicht sagen. Herodes setzt sein Pokerface auf und murmelt etwas wie „Ich lass das mal überprüfen und gebe Ihnen Bescheid“. Als die Sterndeuter die Audienz verlassen, holt er alle verfügbaren Berater zusammen. Die Antwort der Schriftgelehrten ist eindeutig: Jemand, der Anspruch auf den Thron Davids erheben könnte, kommt sehr wahrscheinlich aus Bethlehem. Da leben noch Nachkommen und Verwandte. So steht es geschrieben bei den Propheten.

Für Herodes, der zeitlebens damit zu kämpfen hatte, dass er für einen König der Juden keinen standesgemäßen Stammbaum vorweisen konnte, besteht nun Alarmstufe rot. Aber ausländische Zeugen eines politischen Attentats wären schlecht für den angekratzten Ruf. Für den Augenblick bleibt nur List und Lüge. Der Wolf frisst Kreide. Er zeigt sich betont erfreut und kooperativ:

Später rief Herodes die Sterndeuter heimlich zu sich. Er erkundigte sich bei ihnen genau nach der Zeit, wann der Stern erschienen war. Dann schickte er sie nach Betlehem und sagte: »Geht und sucht überall nach dem Kind! Wenn ihr es findet, gebt mir Bescheid! Dann will auch ich kommen und es anbeten.«

Und so ziehen die Sterndeuter los. Nirgendwo steht in der Bibel übrigens, dass es drei sind. Es können zwei oder zwölf oder zwanzig gewesen sein. Unmissverständlich schreibt der Evangelist Matthäus freilich auch: Sie sind keine Könige, sondern Gelehrte. In einer Zeit, in der Politiker sich gern über Forscherinnen hinwegsetzen, wenn ihnen die Fragen und Ergebnisse nicht in den Kram passen, ist das auch eine Erwähnung wert: Manchmal schickt Gott Wissenschaftler – Leute, die genau hinschauen und sagen, was wirklich ist, und die dafür Strapazen auf sich nehmen und weite Wege zurücklegen. 

Bethlehem – wo sonst?

Bis Bethlehem sind es nur noch ein paar Kilometer. Als sie ankommen, steht der Stern schon über einem der Häuser. Ich bin gestern Abend mal rausgegangen und habe versucht zu sehen, welcher Stern über welchem Haus steht. Es wird Sie nicht überraschen, liebe Hörerinnen und Hörer, dass ich gescheitert bin. Und als ich es zwei Stunden später noch einmal versuchen wollte, standen die Sterne schon wieder wo anders. 

Aber ich bin ja auch kein Sterndeuter aus dem alten Persien. Die führt der Stern sicher ans Ziel. Gut, vielleicht hat auch der Rat der schriftkundigen Kollegen aus Jerusalem geholfen; und natürlich war es damals in Bethlehem viel leichter, jemanden zu finden, als in unseren Großstädten heute. Sie kommen an, und jetzt müssen wir schon wieder unsere folkloristisch übermalten Bilder von Weihnachten korrigieren: Es gibt hier keinen Stall, keinen Engeleinchor und keine Tiere; die Weisen stehen vor einem richtigen Haus. Das bescheidene Ambiente mag unerwartet gewesen sein, aber jetzt zögern sie keine Sekunde:

Als sie den Stern sahen, waren sie außer sich vor Freude. Sie gingen in das Haus und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter. Sie warfen sich vor ihm nieder und beteten es an. Dann holten sie ihre Schätze hervor und gaben ihm Geschenke: Gold, Weihrauch und Myrrhe.

Und dann kommt der Moment, in dem Gott spricht. Keine donnernde Stimme vom Himmel, sondern ganz leise durch einen Traum. Da sind die üblichen Filter meines Alltagsbewusstseins ausgeschaltet. Ahnungen, Wünsche und Sehnsüchte werden im Traum zum Leben erweckt. Und ich habe die Freiheit, mir am Morgen die Augen zu reiben und den Kopf zu schütteln und alles wieder zu vergessen. Aber die weisen Frauen und Männer in der Bibel haben ein Gespür dafür, wenn Gott ihnen einen Traum schickt. Wie das wohl war: Haben alle Sterndeuter dasselbe geträumt? Oder hat einer die anderen überzeugt? Jedenfalls verabschieden sie sich leise aus Bethlehem und machen auf ihrem Rückweg einen weiten Bogen um Jerusalem. Der Königsweg führt nicht wieder zu Herodes. 

Jetzt wird auch klar, warum es Bethlehem sein musste: In Jerusalem scheitert das Königtum gerade zum wiederholten Mal – an seinem Größenwahn, an seinem Hang zur Gewalt, an seiner Paranoia. In Bethlehem, so erzählt es die Bibel, hat Gott schon einmal einen Jungen, dem niemand etwas zutraute, zum Antikönig gemacht: Nämlich David, von dem  – Ironie der Geschichte! – Salomo sein großes Reich geerbt hatte Und jetzt wird hier in Bethlehem das Ende der Mörder- und Märchenkönige besiegelt. Pomp und Überheblichkeit müssen draußen bleiben. 

Er kam nicht, um uns einzuschüchtern, zu verurteilen oder von oben herab zu behandeln. Nicht um uns seine Knechte zu nennen, sondern um uns als Freunde an seiner Seite zu haben. Ein für allemal, als Gott Mensch wurde“.

So heißt es im Christmas Song von Don Francisco…

Diese, die ursprüngliche Weihnachtsgeschichte schärft meinen Blick für das, was Märchenköniginnen und -könige gern ausblenden und verschleiern: Ungleiche und ungerechte Machtverhältnisse, von denen die Welt erlöst werden muss, wenn sie nicht mit ihren Despoten untergehen soll. Der neugeborene Messias wird später alle Hoheitstitel zurückweisen, außer dem einen, der ihn mit uns allen verbindet: „Menschensohn“.

Ich staune zugleich, wie stark die Königssehnsucht trotzdem noch ist. Schon nach wenigen Jahrhunderten wurden aus den biblischen Weisen die „Heiligen Drei Könige“. Als nächstes nahm man dem Heiligen Nikolaus den Sack mit Süßigkeiten und Spielsachen für die Kinder weg und drückte ihn dem Christkind in die Hand. Und noch etwas später kamen immer mehr dekorative Elemente dazu wie Schnee, Rentiere mit roten Nasen, Tannenbäume und goldene Lichtlein.

Bei Kindern ist das ja sehr charmant und liebenswert, wenn sie sämtliche Lieblingsfiguren um die Krippe herum aufstellen, bis man Mutter und Kind kaum noch sieht im Gedränge. Wären da halt nicht jene verbissenen Erwachsenen, die jedem, der etwas von dem üppigen Beiwerk weglässt, einen „Krieg gegen Weihnachten“ andichten. Dieses Jahr traf es eine Kita in Hamburg – die nicht etwa Weihnachten abschaffte, sondern lediglich auf den Baum verzichtete. Ohne Skrupel treten diese Platzhirsche in Medien und Politik eine Lawine von Hassbotschaften und Drohungen über die arglosen Eltern und Erzieher:innen los – alles im Namen der Märchenweihnacht. Was würden die Weisen, was würde Maria dazu sagen, dass unser „Weihnachten“ Kulturgrenzen nicht mehr durchlässig macht, sondern oft noch vermint?

Im Evangelium von den Weisen blitzt nämlich eine andere Welt auf. Eine Welt, die wir mehr denn je brauchen: In der junge Mütter voller Hoffnung in die Zukunft ihrer Kinder schauen, in der Soldaten ins Leere laufen, in der die Rechte der Wehrlosen gewahrt und in der die Fragen von Fremden und die kritischen Stimmen ein offenes Ohr finden.

Und in der Gott zu seinen Leuten redet und sie auf überraschende Wege schickt. Königswege. Ohne allen Pomp, auf den ersten Blick gänzlich unscheinbar, aber voll großer Freude mitten in der herben Wirklichkeit. Auch heute noch zum Niederknien schön.

Share

Die lange Nacht und der helle Morgenstern

In meiner Straße leuchten zur Zeit Sterne überall aus den Fenstern, wenn es dunkel wird. Sterne gehören zu Weihnachten, ebenso wie die Nacht, in der die Engel bei den Hirten erscheinen und der Stern die Weisen lotst.

Die „heilige Nacht“ erinnert an Nächte, die nicht enden sollten – verliebt, im Glücksrausch, im Flow. Sie erinnert auch an Nächte, die nicht enden wollen. Mit einem kranken Kind, mit Schmerzen, mit Sorgen, die mir keine Ruhe lassen, mit schlechten Träumen.

Viele von uns haben das Gefühl, dass sich unsere Welt verdunkelt hat in den letzten Jahren. Pandemie, Kriege und viele ungelöste Probleme, die wir vor uns herschieben. Und dann noch unsere privaten und persönlichen dunklen Stunden und Wegstrecken. Wird es noch einmal besser? Wann hört das auf?

Wer in diesen Tagen vor Sonnenaufgang an den Himmel schaut, kann den Morgenstern sehen. Heller als alle anderen. Wenn er erscheint, dann ist es die längste Zeit dunkel gewesen. Nicht nur vielleicht, sondern ganz sicher. Auch wenn es in diesem Moment noch stockdunkel ist.

Das liegt an der besonderen Beziehung zwischen Erde, Sonne und dem Morgenstern – unserem Nachbarplaneten, der Venus. Sie ist immer in der Nähe der Sonne zu sehen. Und ihr helles Licht ist das Licht der demnächst aufgehenden Sonne.

In der Bibel wird Jesus ab und zu als „Morgenstern“ bezeichnet. Das ist wunderbar poetisch. Aber wie kommen die Menschen in der Bibel dazu, Jesus als Morgenstern zu bezeichnen, als den Vorboten des neuen Tages für die Welt und uns? Ist das mehr als bloß Zweckoptimismus?

Ja, und das liegt an seiner besonderen Beziehung, in der Jesus zu Gott und zu uns steht. Jesus ist in unser Universum gekommen und an unserer Seite, und er ist Gott so nahe, dass Gottes Licht und Liebe und Schöpferkraft aus ihm hervorstrahlen wie nirgendwo sonst. Die Nacht dauert zwar noch an, es ist noch ziemlich dunkel, aber das Ende ist schon besiegelt. Es wird nicht ewig so weitergehen. Das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis kriegt es nicht in den Griff.

An Weihnachten feiern wir den Beginn einer großen Verwandlung. Sie beginnt in Gott selbst. Er legt sich unwiderruflich fest auf diese Liebe zu seiner kaputten Welt. Mein Computer warnt mich manchmal: „Sie können den folgenden Arbeitsschritt nicht mehr rückgängig machen. Möchten sie fortfahren oder abbrechen?“ Wir feiern, dass Gott sich fürs „Fortfahren“ entschieden hat. Wohl wissend, dass dieser Weg zu neuem Leben für die Welt durch den Tod am Kreuz führt.

So sehr identifiziert er sich mit seinen Geschöpfen. Und wir können zwar die Welt und die Lebewesen auf der Erde zerstören, aber nicht Gott. Mitten in der Welt existiert jetzt eine Quelle von Leben und Güte und Kraft, die größer ist als die Welt selbst und alle Verwüstung, die in ihr herrscht. 

Weil Gott sich so festgelegt hat, deshalb besteht heute Hoffnung für uns: Welt ging verloren, Christ ist geboren. Paulus nennt ihn den „Erstgeborenen der neuen Schöpfung“. Dieser Anfang liegt zwar schon in der Vergangenheit, aber seine ganze Wirkung hat er noch gar nicht entfaltet.

So sicher wie der Morgenstern sich zeigt, so sicher kommt der Tag. So sicher, wie Jesus sich auf den Weg machte zu uns, so sicher bringt er uns zum Ziel. Also feiern wir heute schon mal ein Ende von Krieg, Hass, Unterdrückung, Einsamkeit, Krankheit, Verzweiflung und Tod. Das ist alles noch da, aber nicht mehr übermächtig. Übermächtig ist die Liebe. Und darüber dürfen wir uns ausgelassen freuen. 

Share

Anmut und Abgründe – ein Weihnachtslied von Annie Lennox

Es ist schon fast ein Jahrzehnt her, dass die schottische Sängerin Annie Lennox ein Weihnachtsalbum herausbrachte. Das einzige Stück aus eigener Feder heißt „Universal Child“. Lennox setzt sich schon lange für Kinder in Not ein und hat durch ihr Engagement viele Kinderschicksale kennengelernt. Das schlichte Lied handelt von dem Wunsch, Kinder, die versuchen, wieder auf die Beine zu kommen, vor Schaden zu beschützen. Und davon, dass in ihrer Unschuld ebenso wie in ihren Tränen der Zustand der ganzen Menschheit erkennbar ist.

Zwischendrin geht die Poesie freilich über das Konkrete hinaus, wenn sie singt:

And I can see you, you’re everywhere, your portrait fills the sky,
oder:
I can feel you, you’re everywhere, shining like the sun.

Sonne und Himmel kommen ins Spiel – und ich frage mich, ob „Universal Child“ nicht eine schöne Beschreibung für jenes Kind ist, das sich später als „Menschensohn“ bezeichnen wird. Über die menschliche Natur Christi ist ja in der Theologie viel gesagt worden. Vielleicht geht es dabei ja weniger um bestimmte Eigenschaften, die Menschen von Tieren auf der einen und Gott auf der anderen Seite unterscheiden. Sondern vielmehr darum, dass diesen Menschenkind ein Leben führt, in dem die ganze Schönheit und der ganze Horror vorkommen, die menschliches Leben ausmachen – die Anmut und die Abgründe.

Photo by Kelly-Ann Tan on Unsplash

Vielleicht ist dieses Neugeborene – im überfüllten Bethlehem, später auf der Flucht in Ägypten, auf dem Berg der Verklärung und auf Golgatha – so betrachtet ein ganz passender Repräsentant, in dem wir uns alle wiederfinden können. Und vielleicht könnte das Menschen zusammenführen und all die Konflikte beenden helfen, unter denen vor allem die verwundbaren Kinder so leiden müssen.

Und hat Jesus nicht gesagt: Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf?

„Universal“ heißt auf Deutsch allgemeingültig, (welt)umfassend. Dieses vom Leid gezeichnete Kind wird zum Portrait, zum Gesicht der Menschheit am Himmel – vor Gottes Angesicht. Und aus der fürsorglichen Zuneigung von Annie Lennox spricht die zärtliche Liebe Gottes zu den Menschenkindern:

I’m gonna try to find a way to keep you safe from harm.
I’m gonna be a special place, a shelter from the storm.

Das trifft die Weihnachtsbotschaft doch ganz gut, denke ich beim Zuhören. Und summe leise mit.

Share

Das Wort, die Widerworte und eine gefährliche Nachbarschaft (Weihnachten 2018)

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

Joh 1,14

Worte werden Fleisch

Das ist eine alltägliche Sache, im Großen wie im Kleinen. 

Parolen, Polemik und Propaganda setzen Dinge – Ideen, Forderungen, Stimmungen – in die Welt. Sie bewegen Menschen, gehen ihnen schließlich in Fleisch und Blut über und führen ein Eigenleben. Dann folgen menschliche Köpfe, Hände und Füße einem Aufruf zum Streik, sie begehren auf, stimmen ab, randalieren. Und weil Propaganda immer ein problematisches Verhältnis zur Wirklichkeit hat, kommt dabei derzeit oft nichts Gutes heraus.

Aber auch Lieder und Liebeserklärungen „werden Fleisch“. Menschen fassen Vertrauen und versprechen sich einander. Sie bekommen Kinder, für die sie sorgen und die irgendwann ihre eigenen Liebeserklärungen wagen. Keine glückliche Beziehung ohne Gesten und Worte der Zuneigung. Keine soziale Bewegung ohne diesen Treibstoff.

Entscheidend ist, welches Wort genau Fleisch wird. Und wo. Und wozu.

Sagen, was wird

Das Wort, von dem hier die Rede ist, ist nicht irgendein Wort unter anderen. Es ist das Wort des schöpferischen Anfangs. Nicht so sehr eines zeitlichen Anfangs, der mit jedem Jahr in größere Ferne rückt, sondern der verlässliche, tragende Grund der Wirklichkeit.

Es ist keine „Information“, sondern ein Anruf – an die Sterne, das Meer und die Menschen: „Tretet ins Leben“ – „zeigt euch“. Und seither geschieht es, andauernd: Leben entsteht und erneuert sich. Beziehungen entstehen und entfalten sich. Geschöpfe antworten auf die An-Sprache Gottes, der sie beim Namen ruft, mit ihrer eigenen Stimme.

Das Wort, mit dem Gott sagt, was wird, ist also der Grund-Satz, der uns in die Wirklichkeit stellt und dort erdet. Vor aller Zwiespältigkeit, Verzerrung und Lüge, die es nun freilich auch gibt. Die Lüge aber ist eben deshalb ein Skandal, weil es Wahrheit gibt und weil Vertrauenkönnen für uns so wichtig ist.

Die Lüge sagt das, was nicht ist, so, als wäre es der Fall.

Sagen, was (nicht?) ist

„Sagen, was ist.“ Das Motto des Spiegel-Begründers Rudolf Augstein ist das Mantra des deutschen Journalismus. In der vergangenen Woche hat dieser ehrgeizige Anspruch auf Wahrhaftigkeit durch den Skandal über erfundene – erlogene! – Reportagen von Claus Relotius schwer gelitten. Eine Flut von Erklärungen, Kommentaren und Diskussionen war die Folge. 

Die Krisenstimmung hat mit dem Anspruch zu tun. Der Autor Erik Flügge skizziert das Dilemma hinter dem Rauschen im Blätterwald:

„In Sozialen Netzwerken und unwahrhaftigen Medien entstehen Debatten bar jeder Wahrhaftigkeit. Von Lügen angetrieben, lösen sie eine Welle der Empörung aus, die sich in tausenden Kommentaren und Wutausbrüchen Bahn bricht. Getreu der Regel, „Sagen, was ist.“ beziehungsweise „Nachricht oder keine Nachricht“ ist völlig klar, dass die falsche Information nicht berichtet wird, weil sie keine Nachricht ist. Allerdings ist die Empörung im Netz eine wahre Nachricht. So erschaffen Populisten Berichterstattung über Dinge, die nicht sind, indem sie eine Welle aus Wut erzeugen, die dann wahrhaft da ist und damit auch berichtet wird. […] Genau diesem Prinzip folgt die Strategie Donald Trumps. Er lügt und ist sich der Kritik seiner Lüge gewiss. Damit schafft er es, dass jeden Tag gesagt wird, was nicht ist.“


Skrupellose Widerworte und die vergeblichen Erwiderungen darauf. Gnade und Wahrheit verschüttet unter Lügen. Licht mitten in der Finsternis.

Kein Wunder, dass DAS Wort in eine Welt kommt, die nichts begreift, es nicht wahr- und aufnimmt. Es trifft ja nicht auf Stille des Anfangs, sondern auf ein Gewirr von Stimmen und Worten. Zu viele Lügen. Zuviel Misstrauen. Zuviel Resignation. Damals wie heute.

unsplash-logoBreno Assis

Zeltplätze und Nachbarschaften

Übersetzt man Joh 1,14 wörtlich, dann steht da: „Das Wort wurde Fleisch und zeltete unter uns.“ Eine Anspielung auf den nomadischen, vagabundierenden Gott Israels, der mit seinem Volk umherzieht und sich in keinen Tempel einmauern lässt. Und auf den umherziehenden, mobilen Messias, der das Wandern in der Fremde wieder aufnimmt.

Ich wohne in einem Reihenhaus. Ein Bekannter hat einmal gesagt: Im Reihenhaus wohnst du wie auf dem Campingplatz. Und er hat Recht: Man bekommt alles mit: Bellende Hunde, Klavierstunden, Partys, den Qualm vom Grill, maulende Kinder und schimpfende Eltern. Das kann nerven, aber auch tröstlich sein. Eine Nachbarin sagte neulich zur anderen „Es hat mir so gut getan, zu hören, wie du dein Kind angeschrien hast“. Deswegen ist es ganz zutreffend, dass Eugene Peterson hier statt „zeltete unter uns“ übersetzt: „Das Wort wurde Fleisch und Blut und zog in die Nachbarschaft.“

Nachbarschaft. Ich halte diese Predigt ja zweimal, und zwar in benachbarten Gemeinden: Zabo und Mögeldorf.  In Zabo hat es in der jüngeren Vergangenheit mächtig geknirscht. Neulich sagte ein Gemeindeglied traurig und ein bisschen beschämt: „Jetzt reden sogar die Mögeldorfer über uns“. Ich habe dann nur gesagt: „Mag sein. Aber ich könnte  mir vorstellen, die Mögeldorfer sind vor allem froh, dass gerade nicht über sie geredet wird.“ So ist das eben unter Nachbarn. Mal hat die eine die Krise, mal der andere.

Man wird mit seinen Nachbarn häufig in einen Topf geworfen, nach dem Motto: „Mitgefangen, mitgehangen“: „Die Zaboraner zanken.“ „Die Mögeldorfer wollen immer das letzte Wort haben.“ Das kann ärgerlich sein oder lustig, und ab und zu auch gefährlich.

Gefährliche Nachbarschaften

Ich habe in diesem Jahr den Begriff der „gefährlichen Nachbarschaft“ gelernt. Da geht es um gesellschaftpolitische Fragen. Zum Beispiel so: Pegida kapert traditionelle Weihnachtslieder und gibt ihnen damit eine völkische, fremdenfeindliche Bedeutung. Es wird plötzlich schwerer, sie unbefangen zu singen, weil wir ja das genaue Gegenteil damit verbinden: Den menschenfreundlichen Gott, der alles nationale Pathos ins Leere laufen lässt. Aus ähnlich gegensätzlichen Motiven hängen Menschen seit diesem Jahr Kreuze auf (oder lassen es bleiben).

Aber es betrifft nicht nur religiöse Fragen: Die Feministin Antje Schrupp skizzierte vor einer Weile die äußerliche Nähe zwischen den Anstrengungen zur gesellschaftlichen Anerkennung unbezahlter (in der Regel weiblicher) Haus- und Pflegearbeit auf der einen Seite und einer Verklärung des hausfraulichen Apfelkuchenbackens à la Eva Herman auf der anderen. Die einen wollen Gleichbehandlung unterschiedlicher Tätigkeiten, die anderen patriarchale Geschlechterrollen festschreiben. Schrupp stellt fest, dass diese Nachbarschaft zu schwierigen Reflexen führen kann:

»Sagen sie „Heimat“, erklären wir das Wort für prinzipiell unbrauchbar. Kritisieren sie die „Systempresse“ müssen wir die Medien auf jeden Fall in Schutz nehmen. Jede Position, die Rechte vertreten, wird prinzipiell problematisch, weil man damit automatisch in den Verdacht gerät, ebenfalls rechts zu sein: Was, du backst gerne Apfelkuchen? Aber Eva Herman!!!«


Mir fällt ein Bekannter ein, der immer ausgesprochen progressiv (und im damaligen Sinne „links“) war. Dann hat er sich wie Thilo Sarrazin zum zornigen Islam- und Migrationskritiker mit repressiven Tendenzen gewandelt. Wir haben äußerlich immer noch einiges gemeinsam, trotzdem sind wir uns fremd geworden.

Ich könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Aber zurück zur Bibel:

In genau solche Nachbarschaften mit ihren Animositäten, Allergien und Vorurteilen begibt sich das Wort: Noch im selben Kapitel lesen wir, wie Nathanael fragt: „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?“ Damit beginnt eine ganze Reihe von Urteilen, die über Jesus gefällt werden:

  • „Was, du willst den Römern nicht an die Gurgel? Dann bist du ein Verräter an der Sache Gottes! Oder einfach nur ein Feigling?“
  • „Was, du gibst dich mit Sündern ab und verurteilst sie nicht? Du setzt dich über die Reinheitsvorschriften unserer Religion hinweg? Du störst den Opfergottesdienst im Tempel? Dann bist du ein falscher Prophet.“
  • „Was, du verkündest das Reich Gottes in dieser Welt? Dann bist Du ein Aufrührer und Terrorist. Besser, wir bringen dich gleich um.“

Das leibhaftige Wort umgibt sich mit Menschen, die ihrerseits eine gefährliche Nachbarschaft bilden: Simon, der Zelot (ein Terrorsympathisant), Levi, der Zöllner (ein Profiteur der Besatzung), Petrus, der Hitzkopf – und natürlich Judas…

Die Tür in der Nähe

In dieser Nähe liegt nicht nur ein Problem, sondern auch eine Hoffnung. „Rechts“ und „links“ liegen nicht Lichtjahre auseinander. Das eine ist nicht in jeder Hinsicht das komplette Gegenteil des anderen. Irgendwann hat sich mein autoritaristischer Nachbar oder Bekannter entschlossen, durch diese problematische Tür ganz in der Nähe zu gehen. Die Nähe braucht mich aber nicht zu irritieren oder zu alarmieren, auch nicht die Gemeinsamkeiten wie der Apfelkuchen.

Weihnachten heißt: Das Wort hat sich auch in meine gefährliche Nachbarschaft begeben. In dem „unter uns“ des Evangelisten Johannes sind ja auch wir Heutigen eingeschlossen. Meine Fehler und Dummheiten, meine Versäumnisse und Verstrickungen fallen auf ihn zurück. Gott nimmt das ganz bewusst in Kauf. Und für mich ist eine Tür offen in ein neues, anderes Leben. Ganz in der Nähe. Überall da, wo ich falsch abgebogen bin und Lügen auf den Leim gehe oder mich selbst betrüge. Denn das mit der Tür funktioniert auch in umgekehrter Richtung – von der Ausgrenzung zur Umarmung, von der Feindschaft zum Frieden.

Kann ich das auch: Zankenden und zeternden, zugänglichen und zauberhaften Menschen ein guter Nachbar sein? Vielleicht handle ich mir das eine oder andere Missverständnis ein. Aber das hier ist nun eben die Nachbarschaft, in die Gott mich stellt. Wie schön, dass Sie alle dazugehören. Und wenn wir dieser Spur folgen – wer weiß, was wir nächstes Weihnachten einander alles über Gnade und Wahrheit erzählen können?

Share

Gott ist genervt: Unharmonische Weihnachtsgedanken.

Weihnachten herrscht in unseren Familien und Freundeskreisen manchmal, aber beileibe nicht immer ungetrübte Freude. Hin und wieder ist einer genervt. Das Essen misslingt oder entspricht nicht den Erwartungen, Gäste verspäten sich, mühsam ausgesuchte Geschenke treffen auf eher mäßige Begeisterung, der Gesprächsstoff geht aus, weil zu viele Themen mit Konflikten besetzt und die Harmlosigkeiten alle schon abgegrast sind. Irgendwann fällt ein falsches Wort, oder jemand bekommt etwas gut Gemeintes in den falschen Hals. Es folgt betretenes oder beleidigtes Schweigen, manchmal auch ein erhitzter Wortwechsel.

Einen solchen finden wir zu Weihnachten auch beim Propheten Jesaja. Mit dem feinen Unterschied, dass hier Gott der Genervte ist:

Und der HERR redete abermals zu Ahas und sprach: Fordere dir ein Zeichen vom HERRN, deinem Gott, es sei drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe! Aber Ahas sprach: Ich will’s nicht fordern, damit ich den HERRN nicht versuche.

Da sprach Jesaja: Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist’s euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen? Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel. (Jesaja 7,10-14)

Der Prophet Jesaja und Ahas, der König von Jerusalem, haben Stress: Die Sicherheitslage ist angespannt. Es droht Krieg mit den nördlichen Nachbarstaaten. Jesaja fordert Ahas auf, zu glauben, und das heißt, sich angesichts sehr realer Gefahr auf Gottes Treue zu verlassen. Ahas indes glaubt nicht, dass Gott ihn und sein Volk retten wird. Jesaja bietet dem König im Namen Gottes an, sich – quasi als vertrauensbildende Maßnahme – ein Zeichen auszusuchen, der aber lehnt – freilich nur scheinbar demütig – ab. In Wahrheit ist das ein Affront: Er will sich die Möglichkeit offen halten, die mächtigen Assyrer um Hilfe zu bitten – eine brutale Supermacht, viel schlimmer als die jetzigen Feinde.

Gott ist genervt davon, wie dieser König hier herumlaviert. Wenn sich Ahas eine andere Schutzmacht sucht als Gott, steht damit auch die besondere Beziehung Gottes mit dem Königshaus aus Davids Linie in Frage. Und damit die Zukunft des Volkes Gottes. Also kündigt der Prophet von sich aus ein Zeichen an, ungebeten: Ein Kind wird in Kürze zur Welt kommen, das seine junge Mutter „Immanuel“ nennt: „Gott mit uns“. Bevor der Kleine gut und böse unterscheiden kann, sagt Jesaja gleich anschließend, werden die Reiche der Aggressoren verwüstet sein. Leider auch der größte Teil von Ahas’ eigenem Königreich, weil Ahas – das zeichnet sich schon ab – auch diese erneute Einladung zum Vertrauen ausschlägt.

Die gute Nachricht in der schlechten Nachricht lautet: Es ist kein totaler Untergang, der jetzt droht. Aber es bleibt unklar, ob der Name „Immanuel“ ein dankbares Bekenntnis, oder ein trotziges ist, oder vielleicht auch nur ein verzweifeltes Flehen.

201712231406.jpg

Ilya Yakover

* * *

Ein Mann im Belagerungszustand. Das können wir verstehen: Auch für uns Heutige scheint die Frage eher die zu sein, welches der vielen Unheile, die derzeit drohen, uns zuerst erreicht:

  • Die Atomraketen aus Nordkorea und Donald Trumps Vergeltung?
  • Die Folgen der Kriege in der Ukraine und Syrien?
  • Die nächste große Wirtschaftskrise, gegen die sich nur wenige Superreiche versichern können?
  • Das labile Klima unseres Planeten – Stürme, Dürren, Überflutung?
  • Der massive Rechtsruck in Polen, Ungarn, Österreich und Sachsen mit seinem aggressiven Argwohn gegen alles Fremde und jeden, der aus der völkischen Reihe tanzt?

Aus Angst vor vermeintlichen Gefahren wenden sich auch heute viele an Helfer, die noch größeren Schaden anrichten. Irrsinnigerweise sind (in Ungarn, Polen oder den USA) auch viele fromme Christen darunter. Sie gewinnen kurzfristig an Sicherheit und opfern langfristig ihre Freiheit, wenn sie knallharte Machtpolitiker wählen, die Meinungs- und Pressefreiheit abschaffen oder ständig den Finger ab Abzug haben.

Kein Zweifel: Auch davon ist Gott genervt. Er hat es satt. Was wird er dagegen unternehmen?

* * *

Er unternimmt Folgendes:

Fast 800 Jahre nach Jesaja legt der Evangelist Matthäus den Satz von der Jungfrau und dem Immanuel einem Engel in den Mund, der Josef im Traum erscheint und ihn auffordert, die schwangere Maria nicht zu verlassen.

Wieder macht Gott seinem Volk in schweren Zeiten ein Angebot. Wieder durch die Geburt eines Kindes.

Nur hat Herodes das, was Ahas noch überlegte, längst hinter sich: Er ist bereits mit einer brutalen und gierigen Supermacht verbündet. Die Römer garantieren, dass seine Sippe an der Macht bleibt. Er ist König von Augustus Gnaden, so wie Assad in Syrien heute nicht ohne Putins Hilfe regieren könnte. Herodes ist paranoid, prunksüchtig, gewalttätig und heimtückisch, wie der Kindermord von Bethlehem beweist. Sogar ein paar seiner eigenen Söhnen ließ er umbringen, damit sie ihn nicht vom Thron verdrängen. Der neugeborene Immanuel – Jesus – muss mit seinen Eltern vor Herodes nach Ägypten fliehen. In jenes Land, dessen König zu Moses Zeiten kleine israelitische Jungs ermorden ließ. Aus Gründen der staatlichen Sicherheit, wie es dann immer heißt.

Gott ist genervt vom Verhalten der Mächtigen. Für Herodes ist die Geburt des Immanuel der Anfang vom Ende, ein Zeichen seines Untergangs. Die mörderische Intrige gegen das Jesuskind schlägt fehl. Er stirbt nach qualvoller Krankheit, seine Dynastie tritt ab. Statt seiner Söhne regiert jetzt ein römischer Statthalter in Jerusalem. Die Stimmung im Land ist so polarisiert, dass noch zwei Generationen später heftige Unruhen ausbrechen. Die Stadt und der Tempel werden dabei zerstört. Nur ein Rest überlebt und zerstreut sich über die ganze Welt – Jesaja reloaded.

* * *

Jesus, der neue Immanuel, wächst inmitten dieser Ereignisse auf. Die Evangelisten sehen in ihm das Gegenbild zu einer Politik der Angst, der Korruption und Ausbeutung, des Vertrauens auf Rüstungstechnik, Waffengewalt und Geheimpolizei. Er wird gut und böse provokant anders unterscheiden als die meisten seiner Zeitgenossen. Er wird zur Gewaltlosigkeit aufrufen, zum friedlichen Aufstand gegen Macht und Mammon, zum radikalen Vertrauen auf Gottes Fürsorge, sein Mit-Sein mitten in den Turbulenzen des Lebens. Wie Jesaja ruft er Menschen auf, in einer alternativen Welt zu leben, die von Gott und seiner Treue bestimmt wird, und sich keine Angst einjagen zu lassen.

Der Immanuel zeigt: Gott hat sich durch die Hintertüre in die Welt geschlichen. Er ist mit den Armen, mit den Friedfertigen, mit den Leidenden, er ist einer von ihnen und teilt ihr Leben. Er erleidet wie sie den Hass, der ihm von den Unterdrückern entgegenschlägt, und ebenso die Wut des Mobs, der Sündenböcke sucht und Blut sehen will.

Mob und Macht versuchen diese Störung aus der Welt zu schaffen, aber am dritten Tag ist sie wieder da und breitet sich aus wie ein Gerücht, von Mund zu Mund und Herz zu Herz. Ein Gerücht von der Treue Gottes denen gegenüber, die ihm vertrauen. Selbst im Angesicht von Krisen, Krieg, Katastrophen und Tod.

* * *

Gott ist genervt von allem, was Menschen zerstört, ihre Würde mit Füßen tritt, Zusammenhalt und Vertrauen zersetzt, Gewinn über Gemeinwohl stellt. Er hat sich endgültig auf die Seite all derer geschlagen, die unter Unrecht leiden und nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. Nun fordert er uns heraus, uns zu ihm zu stellen. Und unsererseits darauf zu vertrauen, dass Gottes Macht größer ist als all die Drohungen, denen wir uns ausgesetzt sehen.

Weihnachten – das ist aus der Jesaja-Perspektive die Frage, welcher Schutzmacht wir uns anvertrauen, einzeln und gemeinsam. Und was dabei aus uns wird. Vielleicht haben sogar einige der Dinge, die uns an Weihnachten genervt haben, mit solchen Schutzmächten und unserer Abhängigkeit von ihnen zu tun:

  • Dem wehrhaften Nationalstaat mit Polizei, Armee (und, wenn nötig, Bürgerwehren)? Der stellt Ordnung über Leben, Überwachung über Vertrauen und Gleichschritt über Freiheit.
  • Der Supermacht des freien Marktes, des Geldes und des cleveren Kalküls? Sie bringt wenige Gewinner und viele Verlierer hervor. Sie stürzt mich in die Tretmühle der Selbstoptimierung – und wenn alles ausgereizt ist, werde ich ausgemustert.
  • Starken und aggressiven Anführern, die laut, rücksichtslos und breitbeinig daherkommen und von sich behaupten, für „das Volk“ zu sprechen? Sie leben von Opfer-Typen und Opportunisten, beuten Angst, Neid und Hass aus. Sie spalten und säen Misstrauen. Andere machen sie innerlich kleiner, um selbst größer zu wirken.
  • Der Hoffnung auf Ruhm, Bewunderung und Anerkennung auf den analogen und digitalen Bühnen dieser Welt? Statt ich selber zu sein (und zu entdecken, was das eigentlich bedeuten würde), werde ich immer überlegen, was gerade gefragt ist und gut ankommt. Was Beifall (die „Likes“) oder Aufsehen erregt (die beliebten „Tabubrüche“). Was eben gerade als Projektionsfläche vorhandener Stimmungen taugt.

Ständig werden wir bewertet und beurteilt. Das strengt an und macht müde. Kein Wunder, dass wir genervt sind. Weihnachten ist eine Gelegenheit, dem auf die Spur zu kommen, was uns das Leben wirklich verleidet.

Und dann die Alternative zu betrachten: Ich vertraue dem Einen, der als Kind kam und es nicht als Zumutung empfand, klein zu sein. Der auch als Erwachsener Vertrauen schenkte und sich verletzlich machte. Der nicht das eigene Überleben und Wohlergehen im Sinn hatte. Der Menschen nicht taxierte und sich überlegte, welchen Nutzen sie für ihn wohl haben. Der Leute zusammenbringt, die sich von selbst nie zusammenfinden würden. Dem Immanuel.

Es ist riskant, Gott zu vertrauen. Es ist schwer, sich von ihm allein beschenken und beschützen zu lassen. Aber es ist auch der Weg zu einem erfüllten Leben – und zum Frieden mit mir selbst, meinen Mitmenschen und Gott.

Sein Segen und Wohlgefallen sei mit uns allen.

Share

Keiner von uns

Zum Ausklang des Blog-Jahres noch ein eher meditativer Nachklang von Weihnachten. Danke Euch/Ihnen allen fürs Mitlesen und -denken, kommt gut ins neue Jahr!

„Gott wird einer von uns“
Vielfach bejahte man dieser Tage
was Joan Osbourne fragend sang:
What if God was one of us?

Was die Frage aufwirft:
Wer sind eigentlich „wir“? Und
wäre, nach unserer Definiton von „wir“, Er
wirklich einer von uns?

Ist er nicht eher
einer von „denen da“:
Entwurzelt, fremd,
nicht von unserer Welt?

Blieb er nicht immer ein Fremd-Körper
Wie ein Stein zwischen den Zehen,
wie ein Sandkorn im Auge,
wie ein Krümel in der Luftröhre?

Wir verschlucken uns an seinen Worten.
Sein Anblick brennt in den Augen.
Seine Berührung scheuert uns wund.
Sein Atem reizt die Schleimhaut.

Als einer von denen kommt er zu uns.
Das Wort ward Fleisch, sagt der Theopoet.
Keiner von uns, solange wir nur
denen das Schlimmste nachsagen.

Der eine, als einer
von denen, das dehnt
unser enges Herz
das nur Platz hat für Gleiches.

Wenn unser „Wir“
Raum hat für mehr
erst dann ist er wirklich
einer von uns.

Share

„Fehl am Platz“ – eine Weihnachtspredigt

Sie brachte ihr erstes Kind, einen Sohn, zur Welt, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe; denn sie hatten keinen Platz in der Unterkunft bekommen. (Lukas 2,7)

Das Jahr 2015 brachte Licht und Schatten in einer Deutlichkeit wie schon lange nicht mehr: Paris wird von einem verheerenden Terroranschlag getroffen und nur ein paar Wochen später entscheiden sich die Regierungen der Welt, gemeinsam zu handeln, um das Klima für kommende Generationen in einem erträglichen Rahmen zu halten – in derselben Stadt. In Deutschland brennen so viele Flüchtlingsunterkünfte wie nie zuvor und Helfer werden bedroht, aber der Münchener Hauptbahnhof wurde zum Symbol spontaner Hilfsbereitschaft, die sich die Deutschen selbst nicht zugetraut hatten. Östlich von uns höhlen autoritäre Machthaber wie Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan demokratische Strukturen aus – und weit im Westen will mit Donald Trump ein alter, weißer Mann Präsident werden, der unter dem Jubel seiner Anhänger gegen ethnische und religiöse Minderheiten gehässige Dinge sagt.

Wie passt unsere Weihnachtsgeschichte in diese Welt? Es ist eine vielerorts brutalisierte Welt, in der sich aus einer verunsicherten Masse jederzeit ein rastloser Mob bilden kann, und in der die „Sicherheitskräfte“ rücksichtslos zuschlagen oder alle und jeden ausspähen. Eine Welt, in der Millionen Menschen umherirren auf der Suche nach einer sicheren Heimat und einem menschenwürdigen Leben. Eine Welt, in deren medialem Dauerrauschen eine dramatische Nachricht die nächste jagt und jedes neue Ereignis das größte zu sein vorgibt, nur um vom nächsten Aufreger überlagert zu werden. In diesem Sinne bleibt alles beim Alten: Diese Welt scheint dem Ende immer wieder gefährlich nahe. Und in der Enge und dem Lärm scheint kein Platz zu sein für kleine Hoffnungen.

Der Mönch und Schriftsteller Thomas Merton (1915-1968), der als Einsiedler in der Abtei von Gethsemani im US-Bundesstaat Kentucky lebte, hat vor 50 Jahren auf dem Höhepunkt des kalten Krieges Worte gefunden, die unser Lebensgefühl heute erstaunlich gut treffen:

Wir leben in der Zeit, in der es keinen Raum gibt, der Zeit des Endes. Die Zeit, in der jeder besessen ist von Zeitmangel, Platzmangel, davon Zeit zu sparen und Raum zu erobern, in Raum und Zeit hinein die Angst zu projizieren, die das technologische Wüten von Größe, Menge, Geschwindigkeit, Stückzahl, Preis, Macht und Beschleunigung in ihm hervorruft.

Der Ursegen „Seid fruchtbar und mehret euch“ ist plötzlich in das Bluten des Terrors umgeschlagen. Man zählt uns nach Milliarden, wir werden zu Massen verdichtet, herumkommandiert, nummeriert, … besteuert, gedrillt und bewaffnet, bis zum Empfindungslosigkeit beansprucht, von Informationen geblendet, mit Unterhaltung benebelt, bis uns übel wird von der Menschheit und uns selbst, übel vom Leben.

Aber das Ende im biblischen Sinne ist nicht der große Abgrund der Selbstzerstörung: Das Dunkle und die Angst, die es heraufbeschwört, werden nicht verleugnet, aber ihnen wird im Evangelium die Freude und das Helle entgegengesetzt. Das findet seinen Platz freilich nicht im Gedränge der durch die Volkszählung überfüllten Stadt, sondern unter freiem Himmel. Da gehört es hin.

Die Hirten von Bethlehem sind der Rest des „wahren Israel“. In ihnen lebt noch etwas von den Nomaden und Wüstenbewohnern der Frühzeit, das an die großen Gestalten erinnert: Mose war Hirte, bevor Gott ihn nach Ägypten sandte. David war Hirte (in Bethlehem!), bis er Goliath besiegte und König wurde. Und so beginnt auch hier das Neue in der Stille und Leere der Nacht auf dem Feld. Die Herrlichkeit Gottes (Juden sprechen von der Schechina), die den Weg aus Ägypten gewiesen hatte und später im Tempel ihre Heimat fand, erscheint wieder unter freiem Himmel. Gott hat sein Haus verlassen und taucht bei seinen Leuten auf. Er bricht aus – aus der festgelegten religiösen und politischen Welt, in der kein Spielraum für Neues ist.

In unserer Welt fehlt für viele Dinge der Platz: Die Natur steht an der Schwelle zu einem Artensterben, wie es die Welt in Milliarden von Jahren nur selten gesehen hat – eine Folge ihrer rücksichtslosen Ausbeutung durch den Menschen. Immer produktiv sein zu müssen und nicht abschalten zu können führt dazu, dass uns die Ruhe und Stille verloren geht, in der wir nachdenken und zu uns selbst finden können. Und so erliegen wir dem Druck, uns selbst immer weiter zu optimieren, um nicht den Anschluss zu verlieren, um konkurrenzfähig zu bleiben, um nicht in den Augen der anderen irgendwann selbst fehl am Platz zu sein: nutzlos, abgeschrieben, eine ungeliebte Last. Wir versuchen jeder Art von Schmerz auszuweichen, verleugnen unsere Verletzlichkeit, und mit ihr unsere Sterblichkeit. Unsere Unfähigkeit, richtig zu trauern, macht uns paranoid. Und die vielen Dinge, die wir uns leisten, erfüllen uns nicht tief oder dauerhaft, sondern sie verdecken nur die Leere, die daher rührt, dass für etwas Wesentliches kein Platz ist. Noch einmal Thomas Merton:

In diese Welt, in diese wahnwitzige Herberge, in der für ihn absolut kein Platz mehr ist, kam Christus ungebeten.

Aber weil er in ihr nicht zuhause sein kann, weil er fehl am Platz ist in ihr und doch in ihr sein muss, ist sein Platz bei denen, für die kein Platz ist.

Sein Platz ist bei denen, die hier nicht hingehören, die von der Macht Abgelehnten, die man für schwach hielt, die in Verruf Gebrachten, denen man das Personsein nicht zugesteht, die Gefolterten und Vernichteten.

Bei denen, für die es keinen Raum gibt, ist Christus in dieser Welt gegenwärtig.

Denen, die fehl am Platz scheinen, verkünden die Engel große Freude. Nicht das Ende vom Ende der alten Welt ist im Blick, sondern die Saat einer neuen Welt. Diese neue Welt funktioniert nicht mehr nach den Bedingungen der alten: Mehr vom Selben, Auge um Auge, Survival of the Fittest, die Mechanismen des Marktes. Sie gehört all jenen, die ihre kleinen Hoffnungen auf etwas Glück und ein Leben in Würde nicht begraben oder verkauft haben. Insofern wir zu diesem Menschen gehören, die fehl am Platz sind, gilt sie uns. Und wenn wir sie suchen, dann finden wir sie bei denen, die aussortiert und abgeschoben werden sollen.

DSC00446.jpg

Im April 2015 war ich in Bethlehem. Die Enge und der Druck, von denen Merton schreibt, sind dort mit Händen zu greifen, wenn man die Checkpoints der israelischen Soldaten passiert und vor einer Mauer und Wachtürmen steht, die doppelt so hoch sind wie die Berliner Mauer. Sie trennt Familien von ihren Verwandten und Bauern von ihren Feldern. Diese Woche habe ich den Brief eines neunjährigen Mädchens aus Bethlehem gelesen. Sie heißt Marianne, ist palästinensische Christin und lebt in Beit Sahour. Jeden Morgen betet die ganze Familie das Vaterunser oder singt „Christus ist auferstanden“, dann macht Marianne sich auf den Weg in die Schule, der sie am Feld der Hirten vorbei führt. Sie muss gar nicht bis zur Geburtskirche gehen, um an das „Fürchtet Euch nicht“ erinnert zu werden, das der Engel den Hirten zurief.

Immer wieder eskaliert die Gewalt im besetzen Gebieten Westjordanland. Marianne hat daher viele Gründe, sich vor den Panzern und Soldaten zu fürchten. Es ist gefährlich, draußen zu spielen. Die Lage ist sicher nicht so schlimm wie in Syrien, doch viele Verwandte und Bekannte sind schon frustriert ausgewandert. Marianne möchte bleiben, und ihr Glaube gibt ihr die Hoffnung, dass so etwas wie ein normales Leben möglich sein kann. Am Ende des Briefes lädt sie uns ein, sie zu besuchen, und zu sehen, dass auch die Palästinenser in Bethlehem Menschen sind wie Du und ich. „Wir sind die Hirten“, sagt sie.

An Weihnachten lädt uns Gott zu zwei Dingen ein: Als behütete Gotteskinder damit aufzuhören, uns ständig von der Sorge um unseren Platz umtreiben zu lassen. Und uns, als Hüter unseres Bruders, furchtlos und verletzlich wie er auf die Seite all derer zu stellen, für die das Europa des 21. Jahrhunderts keinen Platz und keine Verwendung hat. Oder, wie Thomas Merton schrieb: „Sei menschlich in dieser so unmenschlichen Zeit. Wahre das Bild des Menschen, denn es ist das Bild Gottes.“ Darin erwartet uns die große Freude: Wir finden wieder Geschmack – an der Menschheit und uns selbst, am Leben.

Share

Fehl am Platz

In diese Welt, in diese wahnwitzige Herberge, in der für ihn absolut kein Platz mehr ist, kam Christus ungebeten.

Aber weil er in ihr nicht zuhause sein kann, weil er fehl am Platz ist in ihr und doch in ihr sein muss, ist sein Platz bei denen, für die kein Platz ist.

Sein Platz ist bei denen, die hier nicht hingehören, die von der Macht Abgelehnten, die man für schwach hielt, die in Verruf Gebrachten, denen man das Personsein nicht zugesteht, die Gefolterten und Vernichteten.

Bei denen, für die es keinen Raum gibt, ist Christus in dieser Welt gegenwärtig.

Thomas Merton

Share