Anfälliger als wir dachten

Als ich heute laufen ging, war ich viel zu warm angezogen. Die letzten Tage waren sonnig, aber da wehte noch ein eisiger Wind und ich hätte mich um ein Haar erkältet. Und da sind wir schon bem Problem – es gibt ja keine unschuldige Erkältung mehr, sondern jeder Huster steht unter Seuchenverdacht. Er könnte das erste Symptom einer Krankheit sein, die (bei schwerem Verlauf) für mich gefährlich sein könnte oder mich zur Gefahr für andere Menschen macht.

Mir wird meine Anfälligkeit gerade sehr bewusst. Die mag geringer sein als die manch anderer Menschen mit höherem Infektionsrisiko. Und doch – das Jesuswort aus der Bergpredigt „Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern?“ ging mir in letzter Zeit immer wieder durch den Kopf. Jetzt wo so viel still steht und zugleich so viel von Krankheit und Tod die Rede ist, rückt diese Anfälligkeit und Verletzlichkeit allen Lebens, auch meine eigene, mit Macht ins Bewusstsein. Ich denke an diese Zeilen von Sting, auch wenn es gerade nicht regnet draußen:

On and on the rain will fall
Like tears from a star like tears from a star
On and on the rain will say
How fragile we are how fragile we are

Eine ganz ähnliche Melancholie findet sich auch in dem Klassiker von Kansas aus dem Jahr 1979, sie erinnert nebenbei ein bisschen an das „alles ist eitel“ aus dem Buch Prediger:

Now don’t hang on
Nothin‘ last forever but the earth and sky
It slips away
And all your money won’t another minute buy
Dust in the wind
All we are is dust in the wind

Diese Anfälligkeit hat einen gewissen Schock verursacht. Vor ein paar Wochen war Covid-19 noch weit weg, dann waren es Einzelfälle, jetzt ist es potenziell überall. Weil es unsichtbar ist, weil jede(r) es haben und verbreiten kann, auch wenn er sich kerngesund fühlt, weil es keine Impfung gibt und die Pandemie so unkontrollierbar ist, legen wir alles, was geht, auf Eis.

Wir werden wieder sensibel für unsere Anfälligkeit. Die Anfälligkeit des Organismus für das Virus, die Anfälligkeit der Emotionen angesichts ungewisser Umstände, die Anfälligkeit der Systeme: Gesundheitswesen, Börsenkurse, Arbeitsmarkt, Bildung, Kirchen, sogar der Nationalstaaten, von denen derzeit der größte Teil des Krisenmanagements ausgeht. Hartmut Rosa spricht im aktuellen Philosophiemagazin von der „typisch modernen Logik, eine unbegrenzte Herrschaft über die Welt auszuüben.“ Die kommt uns gerade abhanden. Ich bin nicht mehr Herr meiner Welt, wir sind nicht mehr die Herren unserer Welt.

Die Wahrheit ist: Wir waren es nie. Wir hatten nie die vollständige Kontrolle. Das große Projekt der Moderne (seit dem Erdbeben von Lissabon 1755) hat nur Teilerfolge gebracht und an anderen Stellen die Risiken vergrößert. Die Folgen der Klimakatastrophe mögen zeitlich noch weiter weg liegen, aber sie werden nicht minder heftig ausfallen.

Covid-19 und seine Folgen sind nicht einfach eine Bedrohung von außen, sondern aus dem System heraus entstanden. Wenn wir nun vor leeren Supermarktregalen stehen oder uns darum sorgen, ob unsere Verwandten bei einer Infektion überhaupt behandelt werden, sollten wir begreifen, wie existentiell krisenanfällig der Kapitalismus ist und wie sehr die ökologische und die soziale Frage zusammenhängen.

Kathrin Hartmann im Freitag

Der Kontrollverlust wird uns noch lange und in vielen unterschiedlichen Formen beschäftigen. Ein neues Selbstbild wird dazu nötig sein: Wir sind nicht die Herren der Welt, sondern verletzliche, endliche Geschöpfe. Wir sind anfällig und angewiesen auf die Liebe und Fürsorge anderer. Und auf einen achtsamen, fürsorglichen Umgang mit den menschlichen und außermenschlichen Mitgeschöpfen.

Etwas weniger melancholisch als Sting und Kansas drückt sich diese Erkenntnis bei Rich Mullins aus. Im Refrain heißt es

We are frail, we are fearfully and wonderfully made
Forged in the fires of human passion
Choking on the fumes of selfish rage
And with these our hells and our heavens, so few inches apart
We must be awfully small and not as strong as we think we are

Rich Mullins

Ich denke, es ist völlig in Ordnung, dieser Melancholie ein bisschen Raum zu geben. Sie muss nicht, aber sie könnte heilbar sein. Auch der Abschied von einer Illusion ist mit Trauer verknüpft. Aber es gibt schon jetzt – schon immer! – eine große Gruppe von Menschen, die sich ihres Angewiesenseins auf andere bewusst ist und darüber nicht schwermütig wird: Kinder.

Jesus – Kinder – Gottes neue Welt… da war doch was?

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Die Sicherheitslücke

Die Sicherheit hat dem Reichtum und dem Ruhm den ersten Rang unter den modernen Götzen abgelaufen. Die Nachrichten spiegeln das fast im Wochenrhythmus wider. Sicherheit ist die fixe Idee, von der die Moderne seit dem Erdbeben vom Lissabon beherrscht wird, hat Zygmunt Bauman in Collateral Damage geschrieben. Dafür ist uns kaum ein Opfer zu groß, bis heute. Wer radikale oder grausame Maßnahmen in der Politik durchsetzen möchte, muss die Bedrohung beschwören. Wer zur Macht aufsteigen möchte, muss sein Programm als Prävention von Risiken verkaufen.

Gestern hat sich nun herausgestellt, dass der BND im Auftrag der NSA nicht nur potenzielle Straftäter überwacht und ausgespäht hat, sondern auch Politiker und Unternehmen, und zwar ohne Kenntnis der (überforderten, inkompetenten oder desinteressierten?) Kontrollorgane, monatlich des Kanzleramtes. Für Kai Biermann von der Zeit ist das der Albtraum der Demokratie. Unterdessen fordern Politiker der GroKo seit Wochen weitere Befugnisse in der Überwachung (die Vorratsdatenspeicherung), obwohl sich die unkontrollierbaren Dienste jetzt schon an keine demokratischen Regeln mehr halten. Und der NSU-Prozess zeigt Woche für Woche, wie deutsche Sicherheitsbehörden sich, etwa mit ihren V-Leuten, im rechten Sumpf verstricken und ihn eher ausweiten, statt ihn trocken zu legen, weil sie selbst längst zur Parallelgesellschaft geworden sind.

Der Absturz von Germanwings 4U9525 hat gezeigt, wie eine Sicherheitsmaßnahme – die gepanzerte Cockpittüre – zur tödlichen Falle für 150 Menschen wurde. Ungeachtet dessen wurden umgehend neue Forderungen erhoben (Berufsverbote für psychisch Kranke), die völlig zu Unrecht Millionen von Menschen als gemeingefährlich stigmatisieren – und es um so wahrscheinlicher machen, dass Betroffene ihre Krankheit möglichst lange verheimlichen, statt sich behandeln zu lassen.

17209448546_f3f217e254_zDer Wahn, alles kontrollieren zu müssen, führt offenkundig dazu, dass wir immer mehr die Kontrolle verlieren. Hier nun schlicht und lapidar auf Gottvertrauen zu verweisen, ist nicht unproblematisch. Gott lässt sich sicher nicht als Garant für unsere Unversehrtheit unter allen Umständen in die Pflicht nehmen. Aber der Glaube, dass Gott auf der Seite der Leidenden steht und die Hoffnung darauf, dass er – spät vielleicht, aber doch – Trauer in Freude verwandeln wird, könnten in uns den Mut wachsen lassen, mit manchen Risiken zu leben.

Denn da, wo wir Risiken um jeden Preis ausschalten wollen, verspielen wir nicht nur unsere Freiheit, wir erschaffen womöglich auch noch schlimmere Gefahren als die, vor denen wir uns fürchten. Das wäre vielleicht der erste Schritt, um aus den Albträumen aufzuwachen.

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