Der Sommer der Sorgen

Hitzefrei. Alle, die wie ich im letzten Jahrtausend zur Schule gegangen sind, erinnern sich noch daran: Wie es im Lautsprecher knackst und die heiß ersehnte Durchsage durch Flure und Klassenzimmer hallt, dass die beiden letzten Schulstunden heute entfallen. Dann der vielstimmige Jubel, der unter den Schulkindern ausbricht. Wer kommt mit ins Bad? Gehen wir direkt – ich habe meine Schwimmsachen schon dabei? Momente reinsten Schülerglücks. Aber seltene Momente – kaum mehr als eine Handvoll Tage jeden Sommer waren damals warm genug.

Vielleicht kam deshalb der alte Ohrwurm von Rudi Carrell so gut an: 

Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal war. Mit Sonnenschein von Juli bis September. Und nicht so kalt und so verregnet wie im letzten Jahr

Noch heute warte ich darauf, dass die Radiosender spätestens am zweiten feuchtkalten Julitag den Evergreen aus dem Regal kramen. Aus ihm spricht die Mentalität von Menschen in gemäßigten Breiten, die es gewohnt sind, im Sommer Badeurlaub im Süden zu machen: Warm ist gut. Wärmer ist besser. Der Winter kommt früh genug.

Inzwischen ist all das eingetroffen, was in den Siebzigern verklärte Erinnerung oder blumige Hoffnung war. Die 40 Grad, die wir erst vor kurzem hatten, und monatelange Dürren entpuppen sich allerdings als Albtraum. Was Carrell besingt, ist mit beschönigenden Worten wie „Wetterkapriolen“ oder „Jahrhundertsommer“ nicht angemessen beschrieben. Es ist kein „richtiger Sommer“, sondern ein falscher, ein nie dagewesener. Wir erleben Extremwetter, das allen Lebewesen massiv zusetzt. Von Griechenland bis Großbritannien, von Spanien bis Dänemark Hitzerekorde, Flächenbrände, Ernteausfälle, Wasserknappheit. Der Mai brachte an die 50 Grad Hitze in Indien und im vergangenen Jahr gab es ähnliche Extreme im vermeintlich kühlen Kanada. Ich wohne in Nürnberg, und da war das letzte Vierteljahr zweieinhalb bis dreieinhalb Grad wärmer als zu Rudis Zeiten. Der Rasen in den Parks ist gelbbraun und die ersten Bäume werfen schon Blätter und Früchte ab.

Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal war: Mit Regen für die Gärten und die Felder. Und nicht so trocken und so staubig wie in diesem Jahr.

Szenen, die zu Herzen gehen

Es gibt in der Bibel eine Extremwettergeschichte. Sie ist nicht besonders bekannt, weil das für uns lange kein Thema war und weil wir lieber die schönen Sachen lesen, nicht die schwierigen. Aber vielleicht hat diese Geschichte uns mehr zu sagen, als es auf den ersten Blick erscheint. Wir finden sie beim Propheten Jeremia im 14. Kapitel:

Das Wort des Herrn erging an Jeremia wegen der großen Dürre: Juda ist ausgedörrt; seine Tore verfallen, sie sinken trauernd zu Boden und Jerusalems Klageschrei steigt empor.
Die Vornehmen schicken ihre Diener nach Wasser; sie kommen zu den Brunnen, finden aber kein Wasser; sie kehren mit leeren Krügen zurück.
Die Bauern sind um den Ackerboden besorgt; denn es fiel kein Regen im Land. Sie sind bestürzt und verhüllen ihr Haupt.
Selbst die Hirschkuh im Feld lässt ihr Junges im Stich, weil kein Grün mehr da ist. Die Wildesel stehen auf den kahlen Höhen; sie schnappen nach Luft wie Schakale. Ihre Augen erlöschen; denn nirgends ist Gras.

Der Berichterstatter dieser großen Dürre ist Jeremia. Er spricht im Namen Gottes, aus göttlicher Perspektive. Und macht das ganz anders als ich es eben getan habe und als unsere Nachrichtenredaktionen es derzeit täglich melden. Keine abstrakten Zahlen, Messwerte, Diagramme. Keine Informationen nur für den Kopf, sondern Szenen, die zu Herzen gehen. 

Da sind die Vornehmen, die es sich leisten können, im kühlen Haus zu bleiben, und ihre Diener mit der schweißtreibenden Aufgabe losschicken, Wasser aus den Brunnen zu holen. Aber die Krüge blieben leer. Betretene Gesichter bei den Herrschaften und dem Gesinde. Wenn nichts mehr da ist, was man kaufen kann, ist auch das Geld nichts mehr wert.

Sorgenfalten auf der Stirn der Bauern, die vergeblich den Horizont nach Regenwolken absuchen. Die Feldfrüchte vertrocknen, der heiße Wind bläst den fruchtbaren Mutterboden davon, den kein Grün mehr bedeckt. Auch wenn wieder Regen kommt, die nächsten Ernten werden schlechter ausfallen.

Der Katastrophe schutzlos ausgeliefert sind die Wildtiere. Die Wildesel hecheln, um dem drohenden Hitzetod gerade noch zu entgehen. Wälder, die brennen könnten, gibt es schon keine mehr. Und die Hirschkuh findet keine Nahrung für sich und ihr Kalb. Sie lässt es zurück und es verendet. Wie verzweifelt muss sie sein?

Nicht nur Bäume und Sträucher welken dahin, sogar die Stadttore und Befestigungen in Jerusalem und Umgebung hängen schlaff in den Angeln und haben ihre Wehrhaftigkeit verloren. Und die Leserin ahnt schon: Auf die Dürre folgt der Hunger folgt der Krieg. Wie so oft in der Geschichte. 

Klage und Trauer sprechen aus dem folgenden Lied von Tracy Chapman: Mutter Erde, auf der wir alle geboren wurden, wird vergewaltigt. Und wir sehen tatenlos zu. Der Anfang vom Ende, die größte Todsünde.

Was hier geschieht, zerreißt auch Gott das Herz. Er ist kein unbeteiligter Zuschauer, er sitzt nicht in der himmlischen Wetterzentrale und schaut auf seine Anzeigen von Temperatur, Wind und Niederschlag. Mitfühlend, mitleidend. Heiße Tränen im Gesicht, kein kaltes Lächeln. Gott sagt von sich selbst: 

Meine Augen fließen über von Tränen bei Tag und bei Nacht und finden keine Ruhe. Denn großes Verderben brach herein über … mein Volk, eine unheilbare Wunde.

Was empfand Gott, als im Juni die Mauersegler in Spanien tot vom Himmel fielen, weil die eleganten Flieger – aus Afrika zurückkehrend! – die Gluthitze in Europa nicht verkraften? 

Was sagt er zu den Sorgen der Bauern in der Po-Ebene, die ohnmächtig zusehen müssen, wie ihre einstmals satt grünen Äcker vertrocknen, weil Italiens mächtigster Strom in diesem Sommer kaum noch Wasser führt?

Fühlt er mit den Dorfbewohnern in der Toskana, die Rauchschwaden und Feuerwalzen auf ihre Häuser zukommen sehen und sich nur noch ins Meer flüchten können? 

Mit den Familien der Bergsteiger, die kürzlich beim Abbruch des Marmolata-Gletschers in den Dolomiten den Tod fanden? 

Geht ihm das Fischsterben im Main und in vielen seiner Nebenflüsse nahe, oder… oder … ich weiß gar nicht, wo ich aufhören soll, bei so vielen bedrückenden Meldungen in jüngster Zeit. 

Warum so apathisch? 

Aber wie kann es sein, dass wir tagein, tagaus solche Nachrichten hören und, so lange es uns nicht – noch nicht! – direkt trifft, weder Tränen in den Augen haben, noch ernsthaft und schonungslos fragen, was das mit uns zu tun hat und was jetzt sofort anders werden muss?

Hubert von Goisern hat, wie ich finde, den heimlichen Sommerhit der letzten Jahre mit all den Bränden, Hitzewellen und Flutkatastrophen geschrieben: „Jeder weiß, dass Geld nicht auf der Wiese wächst. Und essen kann man’s auch nicht, aber es brennt gut. Aber heizen tun wir mit Weizen, Rüben und Mais. Wenn wir noch lange so weiterheizen, brennt der Hut.“

„Samma Christ, hättma gwisst, wo der Teife baut im Mist“  – Menschen, die mit Gott im Bunde sind, könnten, ja sollten eigentlich den Mist durchschauen. Und klar all die zerstörerischen Verhaltensweisen und Gewohnheiten beim Namen nennen, anstatt sie zu beschönigen oder zu vertuschen. Denn dass es immer irgendwo brennt, haben meistens wir selbst zu verantworten. Und wenn wir Europäer sogar den knappen Weizen zu Sprit verarbeiten, mit dem wir unsere Autos betanken und durch die Gegend heizen, dann brennt der Huat völlig zu Recht.

Der Journalist Bernhard Pötter wunderte sich als Kind darüber, dass die Bauern in Südtirol, wo seine Eltern mit ihm Urlaub machten, um Regen beteten. Er war ja wegen der Sonne gekommen. Aber was heute passiert, ist nicht weniger wunderlich, findet er. Es hat mit einem handfesten Aberglauben zu tun:

»Voller Stolz und emanzipatorischer Kraft ruinieren wir die natürlichen Kreisläufe, in denen wir stecken und von denen Bauern und Indigene noch eine Ahnung haben. Unsere Hybris heißt Hybrid, unser Glaube nennt sich Kredit. Unsere Hoffnung steckt im DAX, unsere Kathedralen stehen in Dubai und unsere Hohepriester tragen Slim-fit-Anzüge. Sie lachen über die Theologie der Jungfrauengeburt oder traditionelle Rituale – und glauben doch selbst an den Götzen des ewigen Wachstums.

Und dann, wenn es schiefgeht (also: genau jetzt), stehen wir oberschlau da und haben auch keine Ahnung, wie es weitergeht. Und wir tun, was wir seit Jahrtausenden tun: auf Regen hoffen. So viel zum Triumph der Aufklärung» 

Bernhard Pötter: „Aufklärung heißt: Da hilft nur hoffen.“ taz vom 24.6.2022, S.9

Es gibt also eine religiöse oder spirituelle Dimension der Klimakrise: Den folgenschweren Glauben an den „Götzen des ewigen Wachstums“. Der hat seine Verehrer in gewisser Hinsicht reich gemacht, aber nun fordert er einen verheerenden Preis dafür ein.

Kann er nicht oder will er nicht?

Mitten in der tödlichen Dürre versuchen die Zeitgenossen des Jeremia, Gott umzustimmen. Schließlich ist er Herr über das Wetter.

Unsre Sünden klagen uns an. Doch um deines Namens willen handle, o Herr! Ja, zahlreich sind unsre Vergehen; gegen dich haben wir gesündigt. Du, Israels Hoffnung, sein Retter zur Zeit der Not, warum bist du wie ein Fremder im Land und wie ein Wanderer, der nur über Nacht einkehrt? Warum bist du wie ein ratloser Mann, wie ein Krieger, der nicht zu siegen vermag? Du bist doch in unsrer Mitte, Herr, und dein Name ist über uns ausgerufen. Verlass uns nicht!

Irgendetwas muss diese Dürre in Juda mit dem Verhalten der Menschen zu tun haben. So viel scheint klar. Doch das Eingeständnis der Schuld bleibt vage: Ja klar haben wir dich vor den Kopf gestoßen Gott. Tut uns leid. Aber jetzt bist Du am Zug. Vergeben ist schließlich dein Beruf. Denk’ an dein Image: Du bist doch unser Nothelfer, Retter, Feuerwehrmann und Sanitäter. Warst du schon immer. Was ist los mir dir? Bist du müde geworden? Hast du das Interesse verloren? Kannst du nicht oder willst du nicht helfen?

Eigentlich möchten sie gern weitermachen wie bisher. Aber Gott hat das ewige Ausputzer-Dasein satt. Dieses ungutes Muster, das sich in die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk eingeschlichen hat, muss unterbrochen werden. Ein ums andere Mal ist sind die Judäer den Götzen der Wohlstandsreligion auf dem Leim gegangen. Schwamm drüber hilft da nicht mehr weiter. Gott sagt zu Jeremia: „Bete nicht um das Wohlergehen dieses Volkes“. Ein neuer Anfang muss her zwischen Gott und den Seinen. Und das bedeutet auch das Ende einer Epoche: Das Königtum, die Dynastie Davids, seine stolze Hauptstadt, der prächtige Tempel sind Geschichte. Sie werden untergehen. 

Wie ist das mit uns? Sollten wir heute in Kirchen, Synagogen und Moscheen für Regen beten? Sollten wir Gott dazu bewegen, wundersam den kosmischen Thermostat herunterzudrehen, damit alles so weitergehen kann – die Profite, das Plündern des Planeten, die Billigflüge fürs Volk und die Privatjets der Eliten?

Auch wir erleben das Ende einer Epoche. Das Erdzeitalter des Holozän geht zu Ende. 12.000 Jahre lang, seit der letzten Eiszeit, hatten wir stabile klimatische Verhältnisse. „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter“ wechseln sich in einem verlässlichen, lebensfördernden Rhythmus ab. So kennt es die biblische Urgeschichte. 

Der große Naturfilmer David Attenborough sagte 2019 beim Weltwirtschaftsforum: „Den Garten Eden gibt es nicht mehr“. Frost und Hitze sind zwar noch da, aber längst nicht mehr, was sie früher einmal waren. Das „ewige Eis“ der Polkappen schmilzt schneller dahin, als die Pessimisten unter den Klimaforschern es erwartet hatten. Die Luftströmungen, die Sonne und Regen im Wechsel brachten, haben sich verschoben. „Richtig Sommer“ und „richtig Winter“ wird es künftig nur vereinzelt geben. Und nicht jede Saat wird eine Ernte erleben.

Das ist auch ein „Erfolg“ unserer Zivilisation: Wir wollten uns von den Launen der Natur unabhängig machen, und das haben wir geschafft. Nun ist die Natur unseren Launen ausgesetzt und sie reagiert immer heftiger auf den Stress. Das „Anthropozän“ hat begonnen, der Mensch hat die Erde aus dem Gleichgewicht gebracht, und es wird viel mehr als Hitzefrei und Blühwiesen vor der Kirche brauchen, um uns an die extremen Bedingungen anzupassen. Eine „unheilbare Wunde“ droht, um es mit Jeremia zu sagen. 

Es sind schon ganze Zivilisationen wegen geringerer Probleme zusammengebrochen. Kurz: Die Klimakrise bedeutet zwar nicht das Ende der Welt, aber möglicherweise der stabilen Welt, die wir kennen. Der Welt, wie sie früher einmal war.

Eine radikale Hoffnung

Der Prophet Jeremia hat sich für seinen Abgesang auf die Zeit der Könige eine Menge gehässiger Kritik anhören müssen. Aber es kam alles so, wie er gesagt hatte. 

Ich kann mir gut vorstellen, dass einige mittlerweile ungeduldig fragen: Wo bleibt in all der Düsternis bloß das Evangelium, die frohe Botschaft? Ist Kirche nicht dazu da, Hoffnung zu verbreiten?

Im Prinzip ja.

Aber…

… manchmal ist eine falsche Hoffnung schlimmer als keine Hoffnung. Und oft führt der Weg zu neuer Hoffnung erst durch die Verzweiflung: Die Verzweiflung des babylonischen Exils, durch die die Zeitgenossen des Jeremia hindurchmüssen. Die Trauer um einen geliebten Menschen. Verzweiflung wegen einer niederschmetternden ärztlichen Diagnose. Der Makel des Scheiterns. Oder die Verzweiflung durch die Jesus von Nazareth hindurchgeht im Kreuzestod, im dunklen Grab. Mitten durch die Tragödie, nicht daran vorbei oder leicht und locker darüber hinweg. 

Klimaaktivist:innen haben in den letzten Jahren hitzig darüber debattiert, ob man öffentlich sagen sollte, dass wir die Kurve vielleicht nicht mehr rechtzeitig kriegen und dass die Mehrzahl der Kipppunkte inzwischen schon überschritten sein könnte. Die einen fürchten, dass das auch noch die letzten zarten Bemühungen erstickt, das Schlimmste noch zu verhindern. Andere plädieren für eine „radikale Hoffnung“, die dem Realitätsschock nicht ausweicht. Freilich – die Hoffnung aufzugeben, dass alles wird, „wie es früher einmal war“, erfordert einen inneren Wachstumsschritt. Doch nur so entsteht Raum für neue Hoffnung. Sie lässt sich nicht aus dem brennenden Hut zaubern, sie muss wachsen. 

Genau das erleben Jeremia und sein Volk. Aus dem Königreich Juda wird im babylonischen Exil das Judentum. Eine geistlich und theologisch enorm produktive Zeit beginnt. Schriften werden verfasst und gesammelt, aus denen allmählich die Bibel entsteht. Jüdische Gemeinschaften breiten sich in den folgenden Jahrhunderten über den gesamten Mittelmeerraum und vorderen Orient aus. Sie blühen auf und überstehen neue Wunden. Bis heute. 

Radikale Hoffnung im Anthropozän. Ich suche sie, indem ich mich an Jesus halte, den Gekreuzigten. Dann muss ich die Augen vor dem unvermeidlichen Ende der stabilen Welt nicht mehr verschließen. Und kann meinen Anteil daran anerkennen, egal wie klein oder groß. Vieles wird schwerer werden, manches viel schwerer. Ich kann lernen, mit Gott zusammen zu weinen über die Tragödien, die sich auf der Erde abspielen. Darin ist er mir nahe, genauso wie in den schönen Erfahrungen. Und das Mitempfinden bringt mich in eine tiefere Beziehung zu seiner Schöpfung: Sie ist so viel mehr das Rohstofflager und die Freizeitkulisse, die unsere moderne Welt daraus gemacht hat. Voller lebendiger und fühlender Wesen ist sie – allesamt Leidensgenossen, aber auch Verbündete.

Für Kirchen und Gemeinden könnte es bedeuten, dass wir einander fragen: Was ist uns wirklich wichtig und wie können wir das durch den Umbruch hindurch bewahren? Was müssen wir jetzt aufgeben, damit die Tragödie, die auf uns zukommt, nicht noch größer wird? Welche Fertigkeiten, die wir dann brauchen, haben wir verlernt, und wer bringt uns das wieder bei? Und mit wem sollten wir uns angesichts unserer Sterblichkeit und Endlichkeit aussöhnen und Frieden schließen? 

Hand in Hand bilden wir dann eine Rettungsgasse zwischen der Apathie auf der einen und der Panik auf der anderen Seite. Und die sanfte, schöpferische Hand Gottes ist immer im Spiel. Damit die Dunkelheit nicht das letzte Wort hat.

https://www.br.de/mediathek/podcast/embed?episode=1860272

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Team Regenbogen oder Team Apokalypse

Multiple, sich überlagernde und gegenseitig verschärfende Krisen sind das Kennzeichen des 21. Jahrhunderts. Die großen Kirchen sind in ihrer institutionellen Form Geschöpfe des 20. Jahrhunderts und kommen erst allmählich in dieser Realität an. An vielen Stellen sind wir zudem noch mit unseren eigenen, internen Krisen beschäftigt. Nicht alle sind begeistert von der Idee, sich in die hitzigen Debatten einzumischen und Position zu beziehen.

Und selbst wenn, es bleibt noch die Frage, was unser Beitrag sein könnte oder sollte. Auch da liegen die Einschätzungen zum Teil weit auseinander. Hier werfe ich einen Blick auf die beiden Pole. Es gibt freilich viel dazwischen, aber diese Mitte ist, wie ich zeigen möchte, auch alles andere als golden.

Die Ausgangslage

Auch wenn der Ukrainekrieg gerade fast alles überlagert, die Nachrichten von der Klimafront müssten uns noch viel mehr Sorgen machen. Hier ein paar Schlaglichter der letzten Wochen:

Team Regenbogen

Im Team Regenbogen denkt man: Schlechte Nachrichten gibt es in der Welt mehr als genug, Christen müssen Hoffnung verbreiten. Also konzentrieren wir uns auf das Gute, das geschieht, und weniger auf das Bedrohliche und Deprimierende. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Wir betonen die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, die ganz am Ende der Bibel steht, oder wir gehen ganz an den Anfang der Bibel und betonen die Treue Gottes zu seiner Schöpfung in der biblischen Urgeschichte. Als fest etabliertes Gegenbild zum Klimakollaps dient dann meist der Regenbogen. Gott hat ja versprochen, dass nicht alles den Bach runtergeht. Wer hingegen alarmistisch agiert, verrät damit nur den eigenen Unglauben. Und wenn er/sie auch noch emotional wird, stört die „Hysterie“ den Seelenfrieden, den zu verbreiten unser Auftrag ist.

Fragen an das Team Regenbogen

Aber ist es wirklich so, dass „die Welt“ (also unser öffentlicher Diskurs) sich den Tatsachen der Klimakrise und den begründeten Prognosen der Klimaforschung stellt? Mir scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein: Verharmlosung, Verdrängung, Verschleppung sind an der Tagesordnung. „Keep it light, fun“ ist die irre Anweisung, die das Team der TV-Nachrichten in der Satire „Don’t Look Up“ den Wissenschaftler:innen erteilt, die den Asteroiden auf Kollisionskurs entdeckt haben und vor einer globalen Katastrophe warnen. Aber die Satire liegt eben ganz nah an der Wirklichkeit.

Ob der Regenbogen, der einem Wolkenbruch häufig vorausgeht oder folgt, für die Flutopfer im Ahrtal (oder sonst irgendwo auf der Welt) noch irgendwelche tröstlichen Gefühle bereithält, wäre erst noch zu verifizieren. Und mit dem Verweis auf die Neuschöpfung lässt sich das milliardenfache Leid, das die Erdüberhitzung in den kommenden Jahrzehnten mit sich bringen wird, ähnlich elegant überspringen wie mit dem Hinweis, dass „die Natur“ den menschengemachten Kollaps freilich überleben wird – nur halt die Spezies Homo Sapiens (und ein paar hunderttausend andere) nicht. Zudem macht die Ewigkeitsperspektive (egal ob theistisch oder atheistisch) den immensen Zeitdruck unsichtbar, unter dem wir fünf Jahre vor einem wahrscheinlichen Point of no return stehen.

Billige Hoffnung?

Könnte es analog zu Bonhoeffers „billiger Gnade“ auch eine billige Hoffnung geben? Sie wäre billig, wenn sie sich an der aufreibenden Konfrontation mit den gewaltigen Kräften des „Weiter so“ vorbeimogelt. Sie wäre billig, wenn sie vertröstet und dabei verharmlost, was Menschen jetzt schon und künftig das Leben zur Hölle macht.

"Sie heilen den Schaden meines Volks nur obenhin, indem sie sagen: »Friede! Friede!«, und ist doch nicht Friede." 

Diese Klage des Jeremia gegen das Abwiegeln der Priester und Tempelpropheten ging mir in den letzten Wochen immer wieder durch den Kopf, als ich so manches „wir-haben-Putin-unterschätzt“-Bekenntnis las. Die Folgen dieser Fehleinschätzung sind noch nicht absehbar. Aber das wirft die nächste Frage auf: Wiederholen wir diesen Fehler, wenn wir uns in der Klimafrage vor Positionen scheuen, die in der veränderungsresistenten Mitte der Gesellschaft als „radikal“ erscheinen könnten?

Bei allem, was man in den biblischen Schöpfungstexten an wunderbaren Perspektiven auf die Erde und unsere Mitgeschöpfe lernen kann, stammen sie doch weitgehend aus den königlich-priesterlichen Traditionen des Alten Testaments. Disruption ist dort nicht vorgesehen, da geht es um Stabilität und Kontinuität – wie in der bürgerlichen Politik. Aber Disruption auf allen Ebenen (Klima, sozialer Friede, Demokratie) ist genau das Thema, mit dem wir jetzt wie nie zuvor konfrontiert werden. Die biblischen Schöpfungstexte spiegeln die Lebensbedingungen des Holozän wieder. Dass diese sich im Anthropozän radikal ändern könnten, war für ihre Verfasser unvorstellbar. Sie geben keine Garantie, dass Gott uns schon davon abhalten wird, die Kippunkte zu überschreiten.

Team Apokalypse

Die biblische Apokalyptik ist ein Kind der Prophetie. Die Propheten waren und sind die Systemkritiker, die Gottes Vorbehalt gegenüber den Mächtigen und ihrem Gebaren verkörpern, oft genug auch seinen ausdrücklichen Protest. Die Propheten spitzen zu – polemisch in ihren Gerichtsdrohungen und poetisch in ihren Verheißungen des Heils, während um sie herum gerade alles zusammengebrochen ist.

In der Apokalyptik entwickelt sich diese herbe Krisenpoesie weiter. Reale weltpolitische Umbrüche erscheinen als Kampf mythischer Wesen, Irdisch-Geschichtliches wird auf eine kosmische Leinwand projiziert. Die Elemente (Himmel, Meer, Erde, Winde) erscheinen als Akteure (Bruno Latour lässt grüßen) in diesem Geschehen. Mit ihrer Hilfe führt Gott den Sturz der Gewaltherrscher herbei.

Die Apokalyptik gibt uns Worte und Bilder für die Gegenwart, in der die Menschheit sich je befunden hat. Wir sind dabei, kollektiven Selbstmord zu begehen, sagte UN-Generalsekretär Guterres schon im Dezember 2020. Der neigt normal nicht zur Panik, aber es ist gerade nichts normal. John Kerry, der Klimabeauftragte der US-Regierung, spricht von einem „globalen Selbstmordpakt“. Es ist grotesk, und das lässt sich mit normaler Sprache nicht mehr adäquat wiedergeben. Die Rohstoffkonzerne sind Ungeheuer, die das Leben auf der Erde dem Profit opfern.

»Klimaaktivisten werden manchmal als gefährliche Radikale dargestellt, aber die eigentlichen gefährlichen Radikalen sind die Länder, die die Produktion fossiler Brennstoffe steigern.« (Antonio Guterres)

Apokalyptik ist nicht Panik, sondern der neue Realismus. Es ist bitterernst. Es ist Zeit für Klage, Zorn und Galgenhumor. Alles, was nicht abwiegelt und „normalisiert“. Alles, was nicht den Eindruck erweckt, wir hätten unbegrenzt Zeit, uns in winzig kleinen Schritten fortzubewegen, das Ruder erst einmal sachte acht oder achtzehn Grad zu drehen anstatt der nötigen 180.

In den großen Kirchen haben wir uns die Apokalyptik abgewöhnt, weil über die Jahrhunderte immer wieder falscher Alarm ausgelöst wurde. Ich erspare mir jetzt die Aufzählung aller Personen und Bewegungen, die den Weltuntergang irrtümlich für ihre Lebenszeit vorhergesagt hatten. Die schrägen Endzeitszenarien der „Left Behind“-Romane sind nur das jüngste Beispiel für sektiererische Verdrehungen. Aber das bedeutet ja nicht, dass es auch einen berechtigen Alarm geben kann und eine sachgemäße Interpretation der biblischen Apokalyptik. Sicher nicht als Endzeit-Fahrplan, der sich eins zu eins dem Gang gegenwärtiger Ereignisse zuordnen lässt (so war es nie gemeint). Wohl aber als Aufforderung, das Undenkbare zu denken – das Ende der Mächte und Akteure, die „die Erde verderben“ (Offb 11,18).

Der wandernde Horizont

Apokalyptik bedeutet nämlich nicht immer gleich Weltuntergang. Nicht der Kosmos wird vernichtet, sondern die Weltzeit (Aion) geht zu Ende. In der Bibel sehen wir einen wandernden eschatologischen Horizont. Für die großen Schriftpropheten ist es die Zerstörung Jerusalems und des ersten Tempels. Im Danielbuch ist es der Untergang der antiken Weltreiche. Jesus kündigt die Zerstörung Jerusalems durch die Römer an und bei Paulus und dem Seher Johannes richtet sich der Blick auf das Ende des Imperium Romanum. Nicht die Welt geht unter, aber die Welt, wie wir sie kennen. Und nun steht uns mit dem sich anbahnenden Kollaps des Klimas und dem Ende des Holozäns ein Zivilisationsbruch ins Haus, der all jene Untergänge in den Schatten stellt. Andrew Perriman hat dazu viel Lesenswertes geschrieben, und auch er betont dabei die prophetische Dimension:

First, the church needs to recover a plausible prophetic voice—to warn, to call for repentance and change, to explain how and why the crisis has come about, to begin to outline a new meaningful, sustainable, long-term future for the church in the secular-humanist West, to keep the story moving forwards.

Tom Wright weist in seinen Arbeiten zur Verkündigung Jesu immer wieder darauf hin, dass Albert Schweizer die richtige Fährte verfolgte, als er gegen die Leben-Jesu-Forschung die apokalyptische Dimension radikal herausstellte. Und er merkt zugleich an, dass Schweizer irrtümlich annahm, Jesus habe von einer kosmischen Katastrophe gesprochen und nicht von der Zerstörung Jerusalems im jüdischen Krieg. Für Wright spricht Jesus nicht vom Ende der Geschichte, sondern vom Ende einer Ära.

Jesus war Apokalyptiker und Prophet. Die Selbstbezeichnung „Menschensohn“ ist ein unübersehbarer Hinweis darauf. Zu den königlich-priesterlichen Traditionen verhielt er sich (vorsichtig gesagt) sehr differenziert. Bilder und Begriffe, mit denen Jeremia und andere den Untergang Babylons angekündigt hatten, überträgt er in Markus 13 auf die Hauptstadt Judäas. Er weint und klagt, er provoziert und dramatisiert wie seine Vorläufer. Er stößt auf taube Ohren bei der Mehrheit seiner Landsleute. Und er wird, wie Jeremia, von den Mächtigen dafür aus dem Weg geräumt.

„Hoffnung“ kommt in den Evangelien nicht vor

Es ist schon bemerkenswert, dass in keinem der vier Evangelien der Begriff „Hoffnung“ auftaucht. Ich will damit nicht sagen, dass die Sache fehlt. Aber angesichts der inflationären kirchlichen Hoffnungsrhetorik könnte das durchaus ein Wink sein, diesen Anspruch an uns selbst einmal kritisch zu betrachten, immer und überall Hoffnung liefern zu können oder zu müssen. Vielleicht muss auch die alte Hoffnung sterben (oder wir müssen angesichts des Infernos „alle Hoffnung fahren lassen“), damit sie irgendwann neu geboren werden kann.

Vielleicht sollten wir das Wort Hoffnung mal ein, zwei, zehn Jahre nicht verwenden. Und wie Jesus anders von Gott und der Welt reden. Hoffnungsfähig werden wir wohl nur, wenn wir den Kollaps nicht verharmlosen, das Grauen nicht verdrängen, die Klage nicht dämpfen, die Schuld nicht beschönigen. Hoffnung findet vielleicht wieder einen Landeplatz, wenn wir Gott recht geben in seinem Urteil über unsere Zivilisation, deren Wohlstand und Zusammenhalt auf der Anbetung des Mammon, der Plünderung der Natur und der Ausbeutung der Armen beruht. Aber da sind wir noch nicht. Vielleicht ist dieses Gebet aus Daniel 9 ein Schritt in die richtige Richtung und eine Hilfe, uns der Wirklichkeit unseres gemeinschaftlichen Versagens zu stellen.

Ach Herr, du großer und Furcht einflößender Gott, der den Bund und die Gnade bewahrt denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, wir haben gesündigt und sind schuldig geworden, wir haben gefrevelt und sind abgefallen, und von deinen Geboten und deinen Rechtssatzungen sind wir abgewichen. 
Und wir haben nicht auf deine Diener, die Propheten, gehört, die in deinem Namen geredet haben zu unseren Königen, unseren Fürsten und unseren Vorfahren und zum ganzen Volk des Landes. Du, Herr, bist im Recht, uns aber steht die Schande ins Gesicht geschrieben…  

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Ein trotziges Fest, oder: das kleine Horn mit der großen Klappe

Nächste Woche ist Christi Himmelfahrt. Ich bin weiter als sonst mit meiner Vorbereitung, weil wir gestern schon alles für die Evangelische Morgenfeier am 26. Mai (10:30 auf Bayern 1) aufgenommen haben. Ich habe ganz bewusst den Text aus der Perikopenordnung genommen, weil ich den Eindruck habe, der ist aktueller denn je. Hier ist die Extended Version.

Nachts fühlt sich so manches anders an als am Tag. Ich erinnere mich, wie ich als Kind manchmal nachts fiebernd und schweißgebadet aufwachte: Mein dunkles Kinderzimmer schien in diesen Augenblicken immer größer zu werden und ich immer kleiner. In meinen Ohren klang ein Brummen und Dröhnen, das lauter wurde und dann wieder nachließ. Irgendwann schlief ich wieder ein, und wenn ich am Morgen aufwachte, war es hell, das Fieber hatte nachgelassen und ich war wieder normal groß. Aber der nächtliche Schatten war nicht sofort wieder weg. So wie auch heute auf diesen Frühlingstagen für viele Menschen ein Schatten liegt.

Nachts, wenn alles still ist und die Geschäftigkeit des Alltags uns nicht ablenkt, sehen und empfinden wir anders als am Tag. Mitten in der Nacht wirft der jüdische Weise Daniel einen Blick auf die Welt. Albtraumhafte Szenen erscheinen vor seinem Auge. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch Daniel gefühlt immer kleiner wurde beim Hinsehen: 

Ich sah vier Winde.
Die kamen aus den vier Himmelsrichtungen und wühlten das große Meer auf.
Aus dem Meer stiegen vier große Tiere herauf, jedes anders als die anderen.
Das erste Tier war einem Löwen ähnlich und hatte Flügel wie ein Adler.
Ich sah, wie ihm seine Flügel ausgerissen wurden.
Es wurde vom Boden aufgehoben und wie ein Mensch auf seine Füße gestellt.
Ihm wurde menschlicher Verstand gegeben.
Dann sah ich ein zweites Tier.
Dieses Tier ähnelte einem Bären, und es stand an einer Seite aufrecht.
In seinem Maul hatte es drei Rippen, sie waren zwischen seinen Zähnen.
Man sagte zu ihm: »Steh auf, friss viel Fleisch!«
Dann sah ich ein anderes Tier, das einem Panther ähnelte.
Auf seinem Rücken hatte es vier Flügel, die aussahen wie die Flügel eines Vogels.
Es hatte vier Köpfe, und ihm wurde Macht gegeben.
Dann sah ich in der nächtlichen Vision ein viertes Tier.
Es war fürchterlich, schrecklich und sehr mächtig. Seine Zähne waren groß und aus Eisen.
Es fraß und zermalmte alles, und was übrig blieb, zertrat es mit den Füßen.
(Daniel 7,2-7 Basisbibel)

Sturm wühlt das Meer auf, und nacheinander kriechen aus dem Hexenkessel vier Monster ans Ufer. Schaurige Mutanten sind sie, aus Raubtierteilen zusammengeschustert. Gier, Gewalt und Verwüstung geht von ihnen aus. Und das letzte ist das Schlimmste.

Aber ich stolpere schon vorher beim Lesen: Der Bär hat nämlich ungeheuren Appetit auf Fleisch und wird darin noch kräftig bestärkt. Gab es damals schon eine Ahnung davon, was unser exzessiver Fleischkonsum an Verwüstung anrichten würde – von der Rodung des Regenwalds und der Gewalt gegen indigene Völker über den Methan-Ausstoß der Rinder, die Nitratbelastung der Gewässer, die Qualen der Massentierhaltung und die Geschäftspraktiken von Tönnies und Kollegen?

Wahrscheinlich bin ich auch nicht der einzige, dem zu dem Bären, spätestens aber zu dem Tier mit den eisernen Zähnen, das alles zermalmt und zertrampelt, die Berichte über die Verwüstungen durch Putins Truppen in der Ukraine einfallen. Als dieser Krieg vor einem Vierteljahr begann, hörte ich von vielen Seiten: „Das ist ein Albtraum! Kann ich bitte wieder aufwachen? Am liebsten in den Neunzigern, nach dem Mauerfall, als die Welt fast von selbst besser zu werden schien und Friede und Demokratie überall auf dem Vormarsch waren…!“

Photo by Gaspar Uhas on Unsplash

Manchmal kommt es mir so vor, als käme gerade ein Monster nach dem anderen um die Ecke: Erst sorgt die Finanzkrise weltweit für Armut und leere Sozialkassen, dann bringt die Demokratiekrise vielerorts rechte Autokraten an die Macht. Im mächtigsten Land der Welt führt das zum Sturm aufs Kapitol. Derweil fegt eine Pandemie über den Globus, die viel Not verursacht und den Zusammenhalt weiter schwächt. Und just in dem Moment, als das Schlimmste ausgestanden scheint und wir uns endlich um die Klimakrise kümmern wollten (die sich immer weiter verschärft!), bricht der nächste größenwahnsinnige Despot einen sinnlosen Krieg vom Zaun. Mit unabsehbaren Folgen für die ganze Welt. Aufwachen in einer heilen Vergangenheit? Träum’ weiter.

Die Welt steht in Flammen, singt Sarah McLachlan, und es geht über meine Kräfte. Herzen sind erschöpft in diesen düsteren Zeiten. Das Licht ist erloschen über Lebenden und Toten, aber ich versuche, mich zusammenzureißen. 

Das kleine Horn mit der großen Klappe

Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Christus ist Daniels monströser Albtraum kein Traum mehr, sondern knallharte Realität. Nachdem die Heere der Babylonier, Meder, Perser und Alexanders des Großen Israel überrollt hatten, entweiht der syrische König Antiochus IV den jüdischen Tempel. In Daniels Traumwelt hört sich das so an:

Ich betrachtete die Hörner. Plötzlich wuchs zwischen ihnen ein anderes, kleines Horn hervor. Da wurden drei von den ersten Hörnern ausgerissen.
Auf dem Horn waren Augen, die den Augen eines Menschen ähnelten. Es hatte einen Mund, der großspurig redete.
(Daniel 7,8)

Was da gerade vor aller Augen in Jerusalem Wirklichkeit wird, lässt sich nur noch mit grotesken Bildern beschreiben. Das Staatsoberhaupt einer Mittelmacht hält sich für Gott und ist doch nur der Pickel auf dem Kopf des alten Drachen. Aus dieser luftigen Höhe heraus schwingt er sich zu großen Reden auf. Fake News, Lügen, Drohungen, Hassreden, Propaganda. Maßlose Selbstüberschätzung. 

Die Bibel beschreibt all das in diesen grellen Bildern, weil die Wirklichkeit so grotesk ist. Es ist grotesk, dass wir so viel über das höllische Ausmaß der Klimakrise wissen, aber den Hintern nicht hochkriegen. Mich hat das umgetrieben, wie erschreckend treffend der Film „Don’t Look Up“ dieses kollektive Versagen aufs Korn nimmt: Eine beißende Satire über Forscher, die einen Asteroiden entdecken, der auf die Erde zurast. Nach einigem Hin und Her werden sie ins Fernsehen eingeladen, um ihre Entdeckung zu erläutern. Aber statt ernsthaft über die zu erwartenden Folgen dieser Kollision zu reden, bekommen sie zu hören: „Keep it light, fun!“ – „Sagen Sie es leicht und lustig!“ Und als eine von beiden vor laufender Kamera traurig und emotional reagiert, weil niemand im Studio die Gefahr erst nimmt, wird sie als hysterische Spinnerin abgestempelt.

Die Welt brennt, und ich pack’s nicht mehr. Lustig und leicht war gestern. Nicht darüber reden zu können, wie es mir damit geht, wenn der Albtraum Wirklichkeit wird, ohne verhöhnt oder beschimpft zu werden, macht alles noch schlimmer. Hier im Buch Daniel (und in anderen apokalyptischen Texten der Bibel) finde ich die befreiende Erlaubnis: Blick den Monstern ins Auge, die über unsere Welt herfallen. Blick deiner Angst, deiner Wut, deiner Verzweiflung ins Auge. Für wie viele ist das Leben ein täglicher Albtraum. Durch Wegschauen oder Abwiegeln wird nichts besser. Das haben die letzten Monate und Jahre eindrücklich gezeigt. 

Aber woher soll dann Hoffnung kommen in düsteren Zeiten? 

Elons Himmelfahrt

Apropos „Großspurig reden“: Auch die Sonnenkönige des 21. Jahrhunderts, die Superreichen und HighTech-Gurus lassen sich gern als Hoffnungsträger feiern. Allen voran Tesla-Gründer Elon Musk, der sich mit Twitter gerade sein privates Sprachrohr kauft. Dann kann er weiter ungehindert Börsenkurse abstürzen lassen und andere durch Gehässigkeiten einschüchtern. Mit seiner Riesenrakete Starship X will Musk nun den Mars besiedeln. Nicht weil es da so schön wäre – er hat es eilig, von hier wegzukommen. Die Erde ist für ihn ein sinkendes Schiff. Im Februar sagte er:

Wir müssen die Gelegenheit ergreifen, und zwar so schnell wie möglich. Um ehrlich zu sein, Zivilisation fühlt sich gerade ziemlich zerbrechlich an.

„Elons Himmelfahrt“ ist freilich nur den Wenigen vorbehalten, die über das entsprechende Kleingeld oder Beziehungen verfügen. Alle anderen bleiben zurück auf der ausgeplünderten Erde. In Sachen Hoffnung ist dieser Kaiser doch ziemlich nackt.

Mit dem Schlenker ins Satirische, zum kleinen Horn mit der großen Klappe, bahnt sich im Nachtgesicht des Daniel die Wende an. Dieser Galgenhumor schafft Distanz zu dem, was mich bedroht. Und schräge Verfremdungen der Wirklichkeit haben seit je her Hochkonjunktur, wenn Whistleblower und Mahner mundtot gemacht werden. 

Als ob

Der russische Autor Vladimir Sorokin hat so eine Szene für unsere Zeit erfunden. In seiner Erzählung „lila Schwäne“ versammelt sich die russische Elite vor der Höhle eines alten Einsiedlers. Der verschrobene Vater Pankrati ist ihre letzte Hoffnung. Denn über Nacht haben sich alle russischen Atomsprengköpfe in Zuckerhüte verwandelt. Einer der Gesandten, Alex, erklärt das Problem:

„Ihr wisst, wo wir alle leben in welchem Land, welchem Staat. Hier ist alles als ob. Ruhe – als ob, Freiheit – als ob, Gesetze – als ob, Ordnung – als ob, … Kirche – als ob, Kindergarten – als ob, Schule – als ob, Parlament – als ob, Gerichte – als ob … Rente – als ob, Käse – als ob, Frieden – als ob, Krieg – als ob. … Echt ist bei uns nur dieser Sprengkopf. Nur dieses Uran, das Lithiumdeuterit. Das funktioniert. Wenn auch das noch zum Als-ob wird, dann ist gar nichts mehr da. Nur noch eine große Leere.“   (V. Sorokin, Die rote Pyramide, S. 130)

Sorokin hat die „Lila Schwäne“ vor dem Überfall auf die Ukraine geschrieben. Aber sein „als-ob“ trifft den Nagel auf den Kopf: Wir haben Wladimir Putin behandelt, als ob er ein verlässlicher Partner mit etwas seltsamen Ansichten wäre. Er ist es nicht. Wir haben so getan, als ob seine Kriegsverbrechen und seine Morde in Syrien, Luhansk, Berlin und London uns egal sein könnten. Sie waren nicht egal. Politiker, Generäle und Stammtisch-Strategen behandelten die Ukraine und ihre Regierung, als ob sie hoffnungslos unterlegen wäre und dem russischen Ansturm nicht mehr als ein paar Tage standhalten könnte. Sie ist es nicht.

Die Monster gebärden sich, als ob die Welt ihre Beute wäre. Sie ist es nicht. Der König redet, als ob er Gottes Stellvertreter auf Erden wäre. Er ist es nicht. Und Daniels Traum ist noch nicht zu Ende.

Die Zeitenwende

Szenenwechsel. Die Bühne wird umgebaut, vom Schlachtfeld zum Gerichtssaal. Der Vorsitzende lässt die Akten kommen. Die Gräueltaten der Angeklagten sind darin lückenlos dokumentiert. Das Urteil fällt – keine große Überraschung – vernichtend aus.

Ich sah, dass Throne aufgestellt wurden und der Hochbetagte sich setzte.
Seine Kleidung war weiß wie Schnee, und sein Kopfhaar war wie reine Wolle.
Sein Thron bestand aus lodernden Flammen, und dessen Räder waren aus Feuer.
Ein Strom aus Feuer floss von ihm weg.
Tausendmal Tausend dienten ihm, eine unzählbare Menge stand vor ihm.
Es wurde Gericht gehalten, und Bücher wurden geöffnet.
Ich sah hin, weil das Horn so großspurig redete.
Da sah ich, dass das Tier getötet wurde.
Sein Körper wurde vernichtet und dem brennenden Feuer übergeben.
Auch den übrigen Tieren wurde ihre Macht genommen.
Denn die Länge ihres Lebens war auf die Stunde genau festgesetzt.
(Daniel 7,9-12)

Israels Gott erscheint auf der Bühne. Hat J.R.R. Tolkien sich hier seinen Gandalf abgeschaut? Von Altersschwäche jedenfalls keine Spur: Grenzenlose Energie geht von diesem kosmischen Kraftzentrum aus. Als flösse Lava die Abhänge eines Vulkans herab. Alles, was sich dem glühenden Strom in den Weg stellt, wird von dieser Naturgewalt weggerissen und geht unter. 

Das ist das Schicksal aller Gewaltherrscher. Ihre Macht ist endlich, auch wenn sie so tun, als ob sie Götter wären. Ihre Zeit ist begrenzt. Die Saat ihres Zusammenbruchs und Untergangs ist schon ausgestreut. Die bitteren Früchte werden früher oder später reifen. Und sie werden sich daran verschlucken. Es mag länger dauern oder kürzer, aber irgendwann ist Schluss.

Kurz nach Kriegsausbruch sagte der ukrainische Botschafter bei den Vereinten Nationen im UN-Sicherheitsrat zu seinem russischen Kollegen: „Es gibt kein Fegefeuer für Kriegsverbrecher. Sie kommen direkt in die Hölle.“ Als ich die Meldung damals las, dachte ich zuerst: Der nimmt den Mund ganz schön voll. Doch als dann die Berichte aus Butscha die Runde machten, fand ich den Gedanken zunehmend tröstlich, dass da jemand ist, der alles Leid sieht, der Grausamkeiten nicht verharmlost, der alles ans Licht bringt und alle Täter zur Rechenschaft zieht. Wer sich also vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag nicht verantworten muss, ist noch lange nicht aus dem Schneider. „Kein Fegefeuer“, das bedeutet, kein Nachverhandeln ist mehr möglich, kein Deal mit dem Staatsanwalt, keine mildernden Umstände.

Wir Protestanten tun uns mit dem Gedanken an ein göttliches Weltgericht ein bisschen schwer. In unserer Genen steckt der Widerspruch gegen jede Form von Kirche, die Menschen einen unbarmherzigen, furchteinflößenden Gott vor Augen malt. Und ihnen wegen Nichtigkeiten mit Höllenqualen droht, um sie gefügig zu machen. 

Am Ende kam ein Gott heraus, der in seiner Harmlosigkeit wunderbar in unsere bürgerliche Kirche passt: Eine Art milder, fürsorglicher Onkel. So lange es halbwegs anständig zugeht, lässt er die Dinge laufen. Wenn es Streit gibt und laut wird, mahnt er alle Beteiligten zur Ruhe. In die Politik mischt er sich selten ein, weil es da ständig Streit gibt. Und weil es da um Geld geht – für das er sich auch nicht recht interessiert, so lange die Reichen gelegentlich spenden für Kinder in Afrika. Wenn aber wirklich böse und schreckliche Dinge geschehen, steht dieser liebe Gott genauso erschüttert und überfordert da wie wir.

Je länger ich dagegen in Daniels Traum lese, desto mehr habe ich den Eindruck: Gott ist wie eine Menschenrechtsanwältin, die mit geballter Faust in der Tasche ihren Schützlingen zuhört. Die sich kaum Schlaf gönnt und zu viel Kaffee trinkt, weil sie unermüdlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentiert, Täter und Auftraggeber identifiziert, Vertuschungen entlarvt. 

Macht und Menschlichkeit

In der nächtlichen Vision sah ich einen, der mit den Wolken des Himmels kam.
Er sah aus wie ein Menschensohn.
Er kam bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt.
Ihm wurden Macht, Ehre und Königsherrschaft gegeben.
Die Menschen aller Völker, aller Nationen und aller Sprachen dienen ihm.
Seine Macht ist eine ewige Macht, sein Königreich wird nicht zugrunde gehen. 
(Daniel 7,13-14)

Einer, der aussieht wie ein Mensch, bekommt die Macht übertragen. Menschliche statt unmenschliche, monströse Machtverhältnisse – daran sind die Völker und Reiche der Welt zu oft gescheitert. Nun kümmert sich Gott selbst darum und präsentiert seinen Kandidaten für das Amt des Friedenskönigs.

Mehr als 200 Jahre nach Daniels Monstern erscheint einem verfolgten Christen auf der Insel Patmos wieder einer, der aussieht, wie ein Menschensohn. Er kommt mit den Wolken, Haare und Gewand sind leuchtend weiß, sein Blick ist voll Feuer und seine Füße glühendes Erz. Der Hochbetagte und der Menschensohn aus Daniels Traum sind nun zu einer Gestalt verschmolzen. Und die sagt:

»Hab keine Angst. Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige.
Ich war tot, aber sieh doch: Ich lebe für immer und ewig.
Und ich habe die Schlüssel, um das Tor des Todes und des Totenreichs aufzuschließen.«
(Offenbarung 1,18)

Christi Himmelfahrt – das bedeutet nicht, dass sich Jesus auf einen anderen Planeten beamt. Gottes Himmel ist nicht Lichtjahre entfernt, sondern so nahe wie die Luft, die mich umgibt. Er sieht und hört mich – aber eben nicht nur mich, sondern alle Menschen, überall. Und nimmt Anteil an allem, was mich freut und was mich quält.

Himmelfahrt, das ist aber auch der wahre Albtraum aller Menschenschinder: Ein zu Tode Gefolterter holt die anderen Gewaltopfer aus den Gefängnissen und den Gräbern. Und die Täter müssen ohnmächtig zusehen. Alle ihre Verbrechen kommen ans Licht, alle ihre Lügen fliegen auf. Gott wird „die verderben, die die Erde verderben.“ (Offb. 11,18), weiß der Seher Johannes. Die Gewalt gegen die Mitgeschöpfe, die von ihnen ausgeht, fällt auf sie zurück. In Gottes Gericht spielt auch Ökologie eine große Rolle.

Himmelfahrt ist ein trotziger Feiertag. Für alle, die unter Gewalt und Vernachlässigung leiden, lautet die Botschaft: Auch wenn es im Augenblick nicht so aussieht – das Böse wird ein Ende haben, und die es tun (oder davon profitiert haben) werden sich verantworten müssen. Jeder einzelne. Wenn du klagst, dich fürchtest oder weinst – Gott hält dich definitiv nicht für hysterisch.

Und für mich und alle, die gerade das Glück haben, in relativer Sicherheit schlafen zu können, heißt es: Steck den Kopf nicht in den Sand. Geh der Traurigkeit und dem Schrecken nicht aus dem Weg. Mut und Hoffnung gedeihen auch mitten unter den Albträumen unserer Zeit. 

Das englische Wort Awesome bedeutet unter anderem „furchteinflößend“, „fantastisch“, „eindrucksvoll“, „überwältigend“. Für Rich Mullins (oft kopiert, nie erreicht) beschreibt das alles zusammen, wie wir uns Gott vorstellen können.

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Samstags bin ich Superman

Kürzlich hatte ich wieder einmal das Missvergnügen, mehrere Stunden auf deutschen Autobahnen unterwegs zu sein. Ein paar Tage nachdem der Bundestag den Antrag auf ein generelles Tempolimit mit breiter Mehrheit abgelehnt hatte, obwohl Umfragen zufolge eine klare Mehrheit von 57% der Bürger dafür ist. Die 498 Abgeordneten, die gegen die Mehrheit ihrer Wähler*innen stimmten, gehören einer geschlossenen Autofront an, die von der SPD über Union und FDP bis hin zur AFD reicht. Ein Tempolimit würde zwar drei Millionen Tonnen CO2 einsparen. Aber was zählen schon Vernunft und Wählerstimmen, wenn man darüber die Großspender vergrault?

Der Umwelt und der Sicherheit wegen war ich also mit etwa 130 Sachen unterwegs. Es war Samstag Abend, Geschäftsreisende und Wochenendpendler waren schon zuhause. Die LKWs wurden weniger, aber die Zahl derer, die mit 180 und mehr dahinbrettern, nahm spürbar zu. Der „ganz normale Wahnsinn“ eigentlich, nur dass er nicht von allen als Wahnsinn erkannt wird, weil wir – das gehört beim Wahn ja dazu – etwas für „normal“ halten, was es so in keinem anderen Land weit und breit gibt.

Der Deutsche rast, weil er kann

Termindruck dürfte kaum ein Grund für die Eile sein. Mein Eindruck war, der Deutsche rast schlicht und einfach, weil er kann. Und wenn diese Freiheit, durch das Vorhandensein anderer Fahrzeuge in Frage gestellt wird, drängelt er (es ist fast immer ein er) sich den Weg eben frei, indem er andere nötigt und gefährdet. Irgendwann hörte ich auf, die Szenen zu zählen, in denen (mehrheitlich dunkle) Audis, BMW und Mercedes dem Pöbel in seinen Kleinwagen ein ums andere Mal Lektionen erteilten, die allesamt lauteten: »Egal, wie langsam rechts der Verkehr läuft, die Überholspur befährst du nur unter Lebensgefahr«. Die bewusst martialisch gestylten Kühlergrills der SUVs und Oberklasse-Kombis schreien dir diese Botschaft schon auf hundert Meter Abstand förmlich in den Rückspiegel.

Photo by Blake Barlow on Unsplash

Ich musste an Marshall McLuhan denken, der schrieb: „The car is … an extension of man that turns the rider into a Superman“. Die plumpeste Couch Potato kann sich auf der Autobahn irgendwie „sportlich“ fühlen, genügend PS vorausgesetzt. Das alleine wäre vielleicht nur unfreiwillig komisch. Aber McLuhan, der das Auto auch als „Mechanical Bride“ bezeichnet, sah noch mehr und andere Auswirkungen der überbordenden Automobilität. Das Auto hat alle Räume, die Menschen verbinden oder trennen, neu arrangiert. Das hat Folgen:

… nobody seemed to notice that emotionally the violence of millions of cars in our streets was imcomparably more hysterical than anything that could ever be printed. […] Are people really expected to internalize – live with – all this power and explosive violence without processing and siphoning it off into some form of fantasy for compensation and balance?

Eine automobile Welt ist eine aggressive, gewaltsame Welt. Und diese erlebte und verübte Gewalt bleibt nicht ohne Folgen für die Menschen. Dann schreibt er weiter:

Strangely, in so progressive an age, when change has become the only constant in our lives, we never ask „Is the car here to stay?“ The answer, of course, is „No.“ […]

At the heart of the car industry, there are men who know that the car is passing, as certainly as the cuspidor was doomed when the lady typist arrived on the business scene. What arrangements have they made to ease the automobile industry off the center of the stage?

Marshall McLuhan, Understanding Media, erschienen im Jahr 1964 (!)

Angst und „Krieg“: Können wir nicht mehr aussteigen?

55 Jahre später, womöglich etwas langsamer, als McLuhan dachte, erfüllen sich seine Ankündigungen. In einer Welt rasender Veränderung darf sich nur das Rasen nicht verändern. Es weist alle Qualitäten eines Fetisch auf, der etwas längst verloren Gegangenes irgendwie noch gegenwärtig erscheinen lässt. So wird ein Schuh aus der Tempolimitverhinderung: Denn wenn unsere Landsleute auf internationale Normalgeschwindigkeit eingebremst würden, dann könnte all die unverrichtete Trauer über das, was wir schon längst verloren haben, mit einem Schlag über uns hereinbrechen. Droht also eine echte Identitätskrise, wenn das Rasen ein Ende hat?

Manche politischen Akteure scheinen das zu befürchten, wenn Sie den Befürworter*innen der Verkehrswende vorwerfen, einen „Krieg gegen das Auto“ zu führen. Wir kennen das vom „Krieg gegen die Kohle“: Politiker, die diese Phrase verwenden, spielen den Anwalt „der kleinen Leute“ und einfachen Menschen. Sie werden allerdings (in den USA gut zu sehen) von Milliardären wie den Koch-Brüdern dafür belohnt und unterstützt. Und so lesen sich McLuhans Sätze aus den Sechzigern wie Prophezeiungen, die gerade in Erfüllung gehen. Wie aber schützt man sich vor dem Grauen, das immer mehr ans Bewusstsein drängt? Zum Beispiel, indem man ein SUV kauft. Vor ein paar Wochen las ich in der taz:

Das SUV, das sind wir. Niemand kauft ein solches Monstrum wider besseres Wissen. Er kauft es, eben weil er über den Krieg auf den Straßen – und nicht nur dort – informiert ist, buchstäblich nicht unter die Räder kommen will.

… [es ist ein] dystopisches Fluchtfahrzeug. Wenn dereinst alles zusammenbricht, dann kann ich damit querfeldein den Abflug machen. Notfalls … auch über Leichen. Es ist in seiner aggressiven Defensivität das Fahrzeug der Stunde.

… Spätestens hier wird klar, was das Ding eigentlich soll. Es ist nicht unmenschlich, sondern allzu menschlich. Wir wollen das, wir brauchen es. Es reinigt die von uns verpestete Außenluft, sobald sie zur Innenluft wird …
Es schützt uns vor einer allzu … gefährlichen Welt, wobei es die Welt noch gefährlicher macht, wovor es uns aber schützt. Denn wir sitzen hoch droben. Das zentralverriegelte SUV ist die Lösung für alle sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme unseres Jahrhunderts.
Und deswegen können wir nicht mehr aussteigen.

Arno Frank in der taz

Keine zehn Jahre nach McLuhans vorausschauenden Worten spielte sich eine Episode ab, an die ich in diesen Tagen öfter denken musste: Autofreie Sonntage im Zuge der Ölkrise 1973. Menschen fingen an, über die Grenzen des Wachstums nachzudenken. Wir machten als Familie einen Spaziergang über die Umgehungsstraße unseres Dorfes, auf der sonst in unschöner Regelmäßigkeit Menschen tödlich verunglückten. Leider blieb es nur eine Episode. Und die Autos von damals erscheinen heute lächerlich klein und zerbrechlich.

Vom Gas gehen

Mit oder ohne Zwang: Vielleicht täten uns solche Pausen gut. Aussicht auf Erfolg besteht allerdings wohl nur da, wo sie nicht zum Anlass für rechtes Kriegsgeschrei genommen werde, sondern als Chance, mal nach unseren dauernden unterschwelligen Angstzuständen zu fragen, über das zu trauern, was schon längst verloren und vorbei ist: Die Zeiten nämlich, als wir nach Herzenslust konsumieren und emittieren konnten, ohne von den globalen Auswirkungen dieses Lebens eingeholt zu werden.

Am großen Klima-Freitag Ende September fand in Nürnberg eine „Critical Mass“ statt. Am Treffpunkt des Fahrradpulks stöckelte eine Dame mittleren Alters auf und ab und begann, einzelne Radfahrer persönlich zu beschimpfen. Sie benutzte eine nicht nur in rechten Kreisen beliebte Argumentationsfigur: Wer auch nur irgendein Kleidungsstück aus Kunstfaser trug, den stellte sie als Heuchler und Lügner hin, der kein Recht habe, Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen zu üben. Irgendetwas an dieser bunten, friedlichen Fahrradtruppe hatte sie offenbar maßlos provoziert.

Immer wieder mal wird ja den Aktivisten die Schuld an solchen Gegenreaktionen angehängt. Und freilich gibt es klügere und weniger kluge Formen des Protestes. Trotzdem – wer sich an diesen Zuweisungen beteiligt, verwechselt meines Erachtens Ursache und Auslöser: Keine(r) der Anwesenden hatte dieser Frau etwas getan. Die Selbstgerechtigkeit, die sie uns so erbittert vorwarf, war ihre höchst eigene Bewältigungsstrategie – für eine Welt, die sich bedrohlich verändert hat, wenn man mal die Autotür öffnet.

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