Kürzlich hatte ich wieder einmal das Missvergnügen, mehrere Stunden auf deutschen Autobahnen unterwegs zu sein. Ein paar Tage nachdem der Bundestag den Antrag auf ein generelles Tempolimit mit breiter Mehrheit abgelehnt hatte, obwohl Umfragen zufolge eine klare Mehrheit von 57% der Bürger dafür ist. Die 498 Abgeordneten, die gegen die Mehrheit ihrer Wähler*innen stimmten, gehören einer geschlossenen Autofront an, die von der SPD über Union und FDP bis hin zur AFD reicht. Ein Tempolimit würde zwar drei Millionen Tonnen CO2 einsparen. Aber was zählen schon Vernunft und Wählerstimmen, wenn man darüber die Großspender vergrault?
Der Umwelt und der Sicherheit wegen war ich also mit etwa 130 Sachen unterwegs. Es war Samstag Abend, Geschäftsreisende und Wochenendpendler waren schon zuhause. Die LKWs wurden weniger, aber die Zahl derer, die mit 180 und mehr dahinbrettern, nahm spürbar zu. Der „ganz normale Wahnsinn“ eigentlich, nur dass er nicht von allen als Wahnsinn erkannt wird, weil wir – das gehört beim Wahn ja dazu – etwas für „normal“ halten, was es so in keinem anderen Land weit und breit gibt.
Der Deutsche rast, weil er kann
Termindruck dürfte kaum ein Grund für die Eile sein. Mein Eindruck war, der Deutsche rast schlicht und einfach, weil er kann. Und wenn diese Freiheit, durch das Vorhandensein anderer Fahrzeuge in Frage gestellt wird, drängelt er (es ist fast immer ein er) sich den Weg eben frei, indem er andere nötigt und gefährdet. Irgendwann hörte ich auf, die Szenen zu zählen, in denen (mehrheitlich dunkle) Audis, BMW und Mercedes dem Pöbel in seinen Kleinwagen ein ums andere Mal Lektionen erteilten, die allesamt lauteten: »Egal, wie langsam rechts der Verkehr läuft, die Überholspur befährst du nur unter Lebensgefahr«. Die bewusst martialisch gestylten Kühlergrills der SUVs und Oberklasse-Kombis schreien dir diese Botschaft schon auf hundert Meter Abstand förmlich in den Rückspiegel.
Ich musste an Marshall McLuhan denken, der schrieb: „The car is … an extension of man that turns the rider into a Superman“. Die plumpeste Couch Potato kann sich auf der Autobahn irgendwie „sportlich“ fühlen, genügend PS vorausgesetzt. Das alleine wäre vielleicht nur unfreiwillig komisch. Aber McLuhan, der das Auto auch als „Mechanical Bride“ bezeichnet, sah noch mehr und andere Auswirkungen der überbordenden Automobilität. Das Auto hat alle Räume, die Menschen verbinden oder trennen, neu arrangiert. Das hat Folgen:
… nobody seemed to notice that emotionally the violence of millions of cars in our streets was imcomparably more hysterical than anything that could ever be printed. […] Are people really expected to internalize – live with – all this power and explosive violence without processing and siphoning it off into some form of fantasy for compensation and balance?
Eine automobile Welt ist eine aggressive, gewaltsame Welt. Und diese erlebte und verübte Gewalt bleibt nicht ohne Folgen für die Menschen. Dann schreibt er weiter:
Strangely, in so progressive an age, when change has become the only constant in our lives, we never ask „Is the car here to stay?“ The answer, of course, is „No.“ […]
At the heart of the car industry, there are men who know that the car is passing, as certainly as the cuspidor was doomed when the lady typist arrived on the business scene. What arrangements have they made to ease the automobile industry off the center of the stage?
Marshall McLuhan, Understanding Media, erschienen im Jahr 1964 (!)
Angst und „Krieg“: Können wir nicht mehr aussteigen?
55 Jahre später, womöglich etwas langsamer, als McLuhan dachte, erfüllen sich seine Ankündigungen. In einer Welt rasender Veränderung darf sich nur das Rasen nicht verändern. Es weist alle Qualitäten eines Fetisch auf, der etwas längst verloren Gegangenes irgendwie noch gegenwärtig erscheinen lässt. So wird ein Schuh aus der Tempolimitverhinderung: Denn wenn unsere Landsleute auf internationale Normalgeschwindigkeit eingebremst würden, dann könnte all die unverrichtete Trauer über das, was wir schon längst verloren haben, mit einem Schlag über uns hereinbrechen. Droht also eine echte Identitätskrise, wenn das Rasen ein Ende hat?
Manche politischen Akteure scheinen das zu befürchten, wenn Sie den Befürworter*innen der Verkehrswende vorwerfen, einen „Krieg gegen das Auto“ zu führen. Wir kennen das vom „Krieg gegen die Kohle“: Politiker, die diese Phrase verwenden, spielen den Anwalt „der kleinen Leute“ und einfachen Menschen. Sie werden allerdings (in den USA gut zu sehen) von Milliardären wie den Koch-Brüdern dafür belohnt und unterstützt. Und so lesen sich McLuhans Sätze aus den Sechzigern wie Prophezeiungen, die gerade in Erfüllung gehen. Wie aber schützt man sich vor dem Grauen, das immer mehr ans Bewusstsein drängt? Zum Beispiel, indem man ein SUV kauft. Vor ein paar Wochen las ich in der taz:
Das SUV, das sind wir. Niemand kauft ein solches Monstrum wider besseres Wissen. Er kauft es, eben weil er über den Krieg auf den Straßen – und nicht nur dort – informiert ist, buchstäblich nicht unter die Räder kommen will.
… [es ist ein] dystopisches Fluchtfahrzeug. Wenn dereinst alles zusammenbricht, dann kann ich damit querfeldein den Abflug machen. Notfalls … auch über Leichen. Es ist in seiner aggressiven Defensivität das Fahrzeug der Stunde.
Arno Frank in der taz
… Spätestens hier wird klar, was das Ding eigentlich soll. Es ist nicht unmenschlich, sondern allzu menschlich. Wir wollen das, wir brauchen es. Es reinigt die von uns verpestete Außenluft, sobald sie zur Innenluft wird …
Es schützt uns vor einer allzu … gefährlichen Welt, wobei es die Welt noch gefährlicher macht, wovor es uns aber schützt. Denn wir sitzen hoch droben. Das zentralverriegelte SUV ist die Lösung für alle sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme unseres Jahrhunderts.
Und deswegen können wir nicht mehr aussteigen.
Keine zehn Jahre nach McLuhans vorausschauenden Worten spielte sich eine Episode ab, an die ich in diesen Tagen öfter denken musste: Autofreie Sonntage im Zuge der Ölkrise 1973. Menschen fingen an, über die Grenzen des Wachstums nachzudenken. Wir machten als Familie einen Spaziergang über die Umgehungsstraße unseres Dorfes, auf der sonst in unschöner Regelmäßigkeit Menschen tödlich verunglückten. Leider blieb es nur eine Episode. Und die Autos von damals erscheinen heute lächerlich klein und zerbrechlich.
Vom Gas gehen
Mit oder ohne Zwang: Vielleicht täten uns solche Pausen gut. Aussicht auf Erfolg besteht allerdings wohl nur da, wo sie nicht zum Anlass für rechtes Kriegsgeschrei genommen werde, sondern als Chance, mal nach unseren dauernden unterschwelligen Angstzuständen zu fragen, über das zu trauern, was schon längst verloren und vorbei ist: Die Zeiten nämlich, als wir nach Herzenslust konsumieren und emittieren konnten, ohne von den globalen Auswirkungen dieses Lebens eingeholt zu werden.
Am großen Klima-Freitag Ende September fand in Nürnberg eine „Critical Mass“ statt. Am Treffpunkt des Fahrradpulks stöckelte eine Dame mittleren Alters auf und ab und begann, einzelne Radfahrer persönlich zu beschimpfen. Sie benutzte eine nicht nur in rechten Kreisen beliebte Argumentationsfigur: Wer auch nur irgendein Kleidungsstück aus Kunstfaser trug, den stellte sie als Heuchler und Lügner hin, der kein Recht habe, Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen zu üben. Irgendetwas an dieser bunten, friedlichen Fahrradtruppe hatte sie offenbar maßlos provoziert.
Immer wieder mal wird ja den Aktivisten die Schuld an solchen Gegenreaktionen angehängt. Und freilich gibt es klügere und weniger kluge Formen des Protestes. Trotzdem – wer sich an diesen Zuweisungen beteiligt, verwechselt meines Erachtens Ursache und Auslöser: Keine(r) der Anwesenden hatte dieser Frau etwas getan. Die Selbstgerechtigkeit, die sie uns so erbittert vorwarf, war ihre höchst eigene Bewältigungsstrategie – für eine Welt, die sich bedrohlich verändert hat, wenn man mal die Autotür öffnet.