Streiten über Schuld und Strafe

Theologie zu treiben kommt mir in manchen Situationen vor wie dieses Spiel, bei dem man aus einer Reihe vorgegebener Worte einen beliebigen Satz bilden muss. Das Resultat ist oft unterhaltsam, aber selten sinnvoll, weil das Augenmerk auf der Vollständigkeit liegt, nicht auf der Stringenz. Ergo betont man dann auch kurzerhand, Stringenz werde überbewertet, wenn jemand deren Fehlen andeutet.

So ähnlich ging es mir in den letzten Tagen mit manchen Reaktionen auf meinen Post zu den Genozid-Passagen im Ersten Testament. Alle Sätze, die Gott in Beziehung zu Krieg und Gewalt setzen, scheinen manchen Auslegern gleich gültig zu sein, für die Verknüpfung zwischen den einzelnen Aussagen ist nur der Modus „Ergänzung“ zugelassen und nicht der des Widerspruchs. Grundsätzlich ist das ein äußerst sympathischer Ansatz, nicht gleich in Ausschlüssen zu denken, und ich würde mir wünschen, dass seine Advokaten dies auch jenseits der Bibelauslegung häufiger so hielten. Aber wenn man nur über dieses eine Werkzeug verfügt, hat man ein Problem.

Vielleicht wird an dem folgenden Beispiel deutlich, dass die sowohl-als-auch-Methode nicht funktioniert. In Ezechiel 18 diskutiert Gott mit dem Volk über Schuld und Strafe, Leben und Tod. Die Exilsgeneration klagt, ihr Elend sei unverschuldet und damit ungerecht, weil nun die Kinder die Suppe der Väter auslöffeln müssen:

Das Wort des Herrn erging an mich: Wie kommt ihr dazu, im Land Israel das Sprichwort zu gebrauchen: Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf? So wahr ich lebe — Spruch Gottes, des Herrn -, keiner von euch in Israel soll mehr dieses Sprichwort gebrauchen. Alle Menschenleben sind mein Eigentum, das Leben des Vaters ebenso wie das Leben des Sohnes, sie gehören mir. Nur wer sündigt, soll sterben.

… Wenn der Schuldige sich von allen Sünden, die er getan hat, abwendet, auf alle meine Gesetze achtet und nach Recht und Gerechtigkeit handelt, dann wird er bestimmt am Leben bleiben und nicht sterben. Keines der Vergehen, deren er sich schuldig gemacht hat, wird ihm angerechnet. Wegen seiner Gerechtigkeit wird er am Leben bleiben.

… Wenn jedoch ein Gerechter sein rechtschaffenes Leben aufgibt, wenn er Unrecht tut und all die Gräueltaten begeht, die auch der Böse verübt, sollte er dann etwa am Leben bleiben? Keine seiner gerechten Taten wird ihm angerechnet. Wegen seiner Treulosigkeit und wegen der Sünde, die er begangen hat, ihretwegen muss er sterben.

Die Klage ertönt auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Vorstellung, Gott würde die Sünden der Väter an ihren Nachkommen heimsuchen, ja schon in den Zehn Geboten verankert ist, oder dass (wieder im Buch Josua…) Gott das ganze Volk für den relativ überschaubaren „Diebstahl“ des Achan hart bestraft. Umgekehrt konnte freilich auch der Segen eines Gerechten (im Falle Abrahams wenigstens in der Theorie, bei Mose auch praktisch) ganze menschliche Gemeinschaften vor dem verdienten Gericht retten.

Gott verweigert keineswegs die Diskussion, aber er stellt ausdrücklich um von Kollektiv- auf Individualschuld. Jeder wird für seine Taten belohnt oder bestraft, und zwar in diesem Leben. Von einem Jenseits ist nicht die Rede. Der Gerechte lebt also lang und glücklich, dem Ungerechten droht der Tod. So weit, so klar.

Was hier formuliert wird, ist exakt die Position, gegen die sich Hiob so vehement wehrt, dass sich nämlich Leid und Schuld strikt proportional zu einander verhalten. Seine Freunde dagegen werden nicht müde, genau diesen Zusammenhang zu „beweisen“, etwa indem sie das Vorhandensein unbewusster Schuld (ziemlich dreist…) postulieren. Am Ende behält Hiob Recht: Leid trifft Menschen völlig willkürlich – Gerechte und Ungerechte. Der Unterschied liegt in der Reaktion – der eine klammert sich an Gott, der andere verflucht ihn. Dass die Rahmenerzählung mit den merkwürdig nachklappenden Alles-wieder-gut das komplett konterkariert, ist ein weiteres Zeichen dafür, wie uneinheitlich dieses Problem gelöst wurde und wie offen die Widersprüche stehen bleiben dürfen. Jesajas Gottesknecht leidet unverschuldet und wird dafür auch noch verachtet. Und die Psalmisten beklagen immer wieder das Glück der Gottlosen, das Elend der Frommen und das Schweigen Gottes.

Aber nicht nur bei Hiob, auch für Jesus verbietet sich der Rückschluss von individuellem Leid auf persönliche Schuld – vom Kollektiven und Generationsübergreifenden ganz zu schweigen. Freilich kennen wir diese Zusammenhänge auch, manches Elend ist durchaus hausgemacht, manches ist uns als Hypothek mitgegeben. Und wir alle hätten es wohl begrüßt, wenn Hitler (oder jeder andere unumstrittene Erzschurke) in dem Moment tot umgefallen wäre, als die Nazis den ersten Juden (oder jedes andere unumstritten unschuldige Opfer) töteten.

Für seine Gegner war das Leiden Jesu der Beweis, dass er ein Gottloser war. Dazu kommt: Er selbst hat den Tod unter den Gottlosen, durch die Hände der Gottlosen und als Gottloser (bzw. vom Gesetz verfluchter, wie Paulus später schreiben wird) gewählt. Banalen und brutalen Sünden setzt Gott exzessive Vergebung entgegen, und allen, die leiden, gilt die Verheißung, dass ihre Tränen in der kommenden Welt in Freude verwandelt werden. Was aus der Diskussion zwischen Ezechiel und seinen Leidensgenossen bleibt, ist diese Asymmetrie von Schuld und Barmherzigkeit, Leid und Heilung. Das Gericht ist aufgeschoben bis zum Ende der Geschichte und vieles deutet darauf hin, dass es gnädiger ausfallen könnte, als mancher (Selbst-)Gerechte sich das momentan wünscht, weil Gott schlicht kein Interesse am Tod des Sünders hat und den Tod lieber selbst erleidet – und damit auch überwindet. Alles Herumrechnen ist nun überflüssig.

Als neulich mein Freund Udo starb und Tage später Ezechiel 18 in der sonntäglichen Perikopenreihe erschien, war mir sofort klar, dass ich diesen Text nicht so predigen kann, als gelte heute alles eins zu eins so, wie es da steht. Ich kann es nur als geschichtlichen Zwischenstand predigen, als eine Stimme in der großen Runde der Bibel, vielleicht auch als Ende problematischer Vorstellungen von Kollektivbestrafung. Doch statt nun eine wasserdichte Universaltheorie zum Problem von Leiden und Unrecht hier zu präsentieren, kann ich alle nur einladen, wie die Juden damals heute selbst eine offene Diskussion mit Gott anzufangen, in der wir ihm seine Verheißungen vorhalten und die Missstände dieser Welt beklagen, aber auch dafür danken, dass uns und vielen anderen Vergebung und ein Neubeginn geschenkt wird. Vor allem müssen wir nicht in falsch verstandener Ehrfurcht alles schlucken, was uns an Erklärungen (selbst „biblische“) so vorgesetzt wird.

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Eine Antwort auf „Streiten über Schuld und Strafe“

  1. „Grundsätzlich ist das ein äußerst sympathischer Ansatz, nicht gleich in Ausschlüssen zu denken, und ich würde mir wünschen, dass seine Advokaten dies auch jenseits der Bibelauslegung häufiger so hielten.“ 🙂 Wunderbarer Satz, vielen Dank!
    „ein weiteres Zeichen dafür, wie uneinheitlich dieses Problem gelöst wurde und wie offen die Widersprüche stehen bleiben dürfen.“ – Das scheint mir ein interessanter Ansatz zu sein, den wir heute noch mehr fördern müssten. Genau das, was den biblischen Redaktoren gelungen ist, Widersprüche stehen zu lassen, gelingt Christen meist nicht.
    Und zwar m.E. weder denen, die die Widersprüche solange uminterpretieren, bis sich alles hübsch ergänzt,
    noch denen, die bestimmte Sätze als eine später überwundene Zwischenstufe ansehen.
    Beides ist aus dem gleichen verständlichen Wunsch geboren, diese Widersprüche nicht aushalten zu müssen.
    Freilich, wenn sie nebeneinander stehen bleiben, lässt sich kaum ein theologisches System daraus bilden und werden ethische Entscheidungen sehr schwierig. Und Predigen wird dann noch schwerer, als es sowieso schon ist. Aber vielleicht entspricht es dann mehr der Bibel – und dem Leben.

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