Nichts sagen ist auch eine Botschaft

Urlaubszeit in Bayern. Wer denkt da schon an die Land- und Bundestagswahlen im September? Na, die CSU zum Beispiel: Sie plakatiert großflächig einen lächelnden Seehofer vor weißblauem Himmel. Einzige Botschaft des überdimensionalen Werbeträgers: „Unser Ministerpräsident“. Beim mir im Stadtteil wünscht der Innenminister, der hier seinen Wahlkreis hat, von einem deutlich kleineren Plakat aus allen einen schönen Sommer.

So verhält sich ein Souverän – der Serenissimus grüßt huldvoll die Untertanen aus luftiger Distanz. Lächeln und Grüßen reicht anscheinend aus CSU-Perspektive, um im glücklichsten aller Bundesländer wiedergewählt zu werden. Wozu sich, während alle chillen, mühsam über Sachthemen in Diskussionen verstricken, in denen man gar schlecht aussehen könnte oder auf kritische Fragen antworten müsste über Mollath, die BayernLB, Ökostrom, Prism, Verwandtenaffären, Verbraucherschutz, Bildung, Europa, Rüstungsgeschäfte mit Despoten, populistische Kehrtwenden und was sich sonst noch so auftürmt im Augenblick? Das interessiert doch nur Verlierer!

Wozu also so tun, als nehme man die Bürger ernst als Gesprächspartner im politischen Diskurs? Am Ende kämen sie auf die absurde Idee, sie seien selbst der Souverän im Land! Am Ende meinen sie noch, sie könnten auch andere Parteien wählen! Am Ende könnte gar jemand glauben, ein Wechsel diene der Demokratie…? Denn Wahlfreiheit bezieht sich, wie ein aktueller Tweet von MdB Stefan Müller verrät, in christsozialer Interpretation inzwischen darauf, an einem eventuellen „Veggie-Day“ Fleisch zu futtern und stolz darauf zu sein. Robin Hoods Erben im Zeitalter drohender Ökodiktatur – liebes Volk, Deine Regierenden sind zugleich die wahren Rebellen!

Deshalb huldigen sie so gern dem Merkelismus und pflegen das mia san mia: Seehofer hat heute plakativ gefordert, Bayern München müsse auch unter Pep Guardiola drei Titel holen. Klar: Für Bayern ist nur das Beste gut genug.

Wer sich weismachen lässt, das Triple (oder die Freilassung von Gustl Mollath) sei irgendwie ja auch ein Erfolg der CSU, der mag ihren Kandidaten im September wieder seine Stimme geben. Alle anderen können sich im Urlaub, im Biergarten oder beim Zeitunglesen die Frage nach dem Besten für diese freistaatliche Demokratie noch einmal sehr gründlich durch den Kopf gehen lassen.

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Bloß nix ändern, es ändert sich eh nix…?

Ich bin wohl nicht der einzige, der den Eindruck hat, so lange die Wirtschaftsdaten halbwegs „stimmen“, interessieren sich nicht besonders viele Menschen für die aktuelle Politik. Vor allem, wenn es um komplizierte Themen geht wie Grundrechte, Europakrise oder Klimaschutz und Energiewende, wo einer Ursache zumindest keine unmittelbar spürbare Wirkung mehr zugeordnet werden kann – und das ist in einer komplexen Welt ja der Normalfall.

Solche Zusammenhänge aufzudecken erfordert also einiges an Denkleistung und Diskussion. Es gäbe also durchaus viel zu besprechen und zu entscheiden. Aber wir sind, so sagt Marc Beise von der SZ, selbstzufrieden und träge. Und die Regierungskoalition fördert das durch die Verweigerung so gut wie jeder inhaltlichen Diskussion, weil sie überzeugt ist, dass sie davon – vom Nichtreden und Nichtdenken – profitiert. Angela Merkel scheint ein Dauerabo der Kanzlerschaft zu besitzen wie Ihr Ziehvater Helmut Kohl, weil auch sie den Eindruck erweckt, eigentlich nichts ändern zu wollen.

Dass das auch spirituell eine mehr als bedenkliche Situation ist, hat Walter Brueggemann im Blick auf das langfristig ruinöse, aber mittelfristig leider erfolgreiche Regierungskonzept des Salomo festgestellt. Es ist ganz offenbar ein Vorläufer der modernen Wohlstandsgesellschaft und ihrer satten Apathie, in der Neoliberalismus zur Notwehr geworden ist:

Das königliche Bewusstsein mit seinem Programm machbarer Sättigung hat unsere Vorstellung von Menschsein umdefiniert, und zwar für uns alle. Es hat ein subjektives Bewusstsein geschaffen, das sich nur um die eigene Befriedigung dreht. Es hat die Legitimität der Tradition geleugnet, die es uns abverlangt, uns zu erinnern, der Autorität, die von uns eine Antwort erwartet, und der Gemeinschaft, die uns zur Anteilnahme ruft. Es hat die Gegenwart so inthronisiert, dass die verheißene Zukunft […] undenkbar ist.

Damals war es die Aufgabe der Propheten, all die störenden Empfindungen ins öffentliche Bewusstsein zurückzubringen, die dort nicht erwünscht waren. Nicht nur einen Politikwechsel herbeizuführen, sondern einen drastischen Bewusstseinswandel, durch die „Praxis öffentlicher Belästigung„, wie Jürgen Habermas das nennt. Und wie die alten Propheten findet auch der frische Worte für Krisen, die andere (so funktioniert „Merkels clever-böses Spiel der Dethematisierung“ eben) nur gelangweilt oder resigniert zur Kenntnis nehmen.

Der Mann ist 84. Wer hat das Format und tritt in seine Fußstapfen?

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Weltbildende Rede

Licht aus Licht. Schöpfung aus Chaos. Leben aus Tod. Freude aus Trauer. Hoffnung aus Verzweiflung. Friede aus Hass.

All deine Gaben, all deine Liebe, all deine Macht. Alles aus deinem Wort, frisch von deinem Wort, alles Gaben deiner Rede. Wir danken für deine welt-bildende Rede.

Danke auch für unser Reden zurück zu dir, die Rede der Mütter und Väter, die es wagten, in Glauben und Unglauben zu reden, in Vertrauen und Misstrauen, in dankbarem Gedenken und in höchstem Schmerz. Wir genießen diese Rede so, wie wir deiner vertrauen.

Höre heute auf das Seufzen und Sehnen deiner Welt, höre auf unsere Lieder der Freude wie auch auf unser Geplagtsein vom Tod und mitten hinein in unser Gestammel sprich dein klares Wort des Lebens

im Namen deines Wortes, das Fleisch geworden ist.

Amen.

Walter Brueggemann nach Psalm 19 (hier gefunden)

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Unreine Gedanken

Neulich habe ich John D. Caputos Selbstvorstellung gelesen und bin dabei auf eine interessante Formulierung gestoßen:

John D. Caputo is a hybrid philosopher/theologian intent on producing impure thoughts, thoughts which circulate between philosophy and theology, short-circuits which deny fixed and rigorous boundaries between philosophy and theology.

Als Grenzgänger zwischen zwei Disziplinen, in diesem Fall Theologie und postmoderner Philosophie, vermischt er die Perspektiven und produziert „unreine“ Gedanken, die in beiden Lagern Anstoß erregen. Vermutlich ist das Beharren auf „Reinheit“ unter manchen Theologen deutlich stärker ausgeprägt als in der Philosophenszene.

Freilich sind es immer die Ränder, die Schnittstellen, und die offenen Türen von denen her frischer Wind in die stickigen Stuben weht.

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Mehr Dekonstruktion, bitte!

Diese Woche lieferte wieder einmal großartigen Anschauungsunterricht: Silvio Berlusconi wurde in letzter Instanz verurteilt und versucht nun, die Folgen des Schuldspruchs dadurch zu begrenzen, dass er sich – wieder mal – als Opfer der bösen roten Justiz auspielt. Sein Medienimperium und die politischen Kräfte, die auf sein Wohlwollen angewiesen sind, spielen das Schmierentheater mit. Alle anderen hoffen, dass seine Strategie nicht aufgeht, aber sicher sein kann man sich da nicht.

Jacques Derridas Begriff der Dekonstruktion hat zusammen mit seinem berühmten Satz, dass es nichts außerhalb des Textes gebe, unter anderem auch den in seine „objektiven“ Gewissheiten verliebten modernistischen Flügel der Christenheit dadurch erschreckt, dass er darauf hinweist, dass wir gar nicht anders können, als Erfahrungen, Ereignisse und Gegenstände immer schon zu interpretieren, meist so unbewusst, weshalb wir unsere Interpretation dann auch oft für selbstverständlich und objektiv halten. Dass Berlusconi tatsächlich glaubt, was er sagt, lässt sich nicht völlig ausschließen. Gerade bei Machtmenschen ist das häufig anzutreffen, dass sie keine anderen Interpretationen der Wirklichkeit als die eigene gelten lassen, ja für möglich halten.

Statt in den oft befürchteten grenzenlosen Relativismus zu führen, hat richtig verstandene Dekonstruktion etwas Befreiendes, schreibt James K.A. Smith in Who’s Afraid of Postmodernism?: Taking Derrida, Lyotard, and Foucault to Church:

Wenn die Dekonstruktion anerkennt, dass alles Interpretation ist, eröffnet das einen Raum, wo man Fragen stellen kann – einen Raum, in dem die herkömmlichen und vorherrschenden Interpretationen hinterfragt werden, die oft den Anspruch erheben, gar keine Interpretationen zu sein. Dekonstruktion also solche interessiert sich für Interpretationen, die marginalisiert und ausgegrenzt wurden, und sie aktiviert Stimmen, die verstummt waren. Das ist der konstruktive, ja prophetische Aspekt von Derridas Dekonstruktion. (S. 51)

Dass das Evangelium „nur“ eine Interpretation der Ereignisse um Jesus von Nazareth ist, neben der es schon immer auch andere gab, wussten Christen schon immer. Es ist die Kehrseite der Aussage, dass alles Glauben und Verstehen Gnade ist. Dass es eine unauflösliche Vielfalt an Interpretationen gibt, bedeutet auch nicht, dass alle gleich wahr wären – auch das wird Derrida ja gelegentlich unterstellt – oder dass die Frage nach der Wahrheit sinnlos wäre. Wo man aber die eigene Interpretation für die „objektive Wirklichkeit“ hält, wird es selbst in einer pluralistischen Gesellschaft ganz schnell übergriffig.

Renold Blank hat den Sachverhalt griffig dargestellt (vgl. die Grafik unten): Je nach Prätext (der konkreten, situativ bedingen Absicht einer Aussage) und Kontext (dem Zusammenhang, aus dem heraus ein Text zu verstehen ist) können sich ganz unterschiedliche Interpretationen ergeben. Bei Berlusconi etwa ist der Prätext die Sicherung von Macht und Einfluss, der Kontext ist Korruption sowie das tiefe Misstrauen und die Skepsis seiner Landsleute gegenüber der politischen Klasse und dem Staat.

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Der Cavaliere mit dem gefärbten Haar möchte seiner frisierten Wirklichkeit nun durch Proteste auf den Straßen Geltung verschaffen. Dass sich hier ausgerechnet ein Milliardär eine Art Robin-Hood-Image verpasst und dem angeblich gierigen Staat im Namen der Freiheit trotzt, indem er Steuern hinterzieht und Richter besticht, zeigt schon, wie sehr der jeweilige Kontext die Interpretation des Textes (hier: des Gerichtsurteils) bestimmt. So wie der römische Kaiser (und heute der US-Präsident) sich zum Friedensbringer stilisieren ließ, während er zugleich einen gewaltigen Militärapparat befehligte.

Auch Blank weist auf den prophetischen Aspekt authentischer Offenbarung hin. Dabei geht prophetische Kritik immer zuerst nach innen und erst dann nach außen; das Evangelium dekonstruiert also auch die kirchlichen Verhältnisse (und die damit verbundenen Absolutheitsansprüche einzelner Theologien und Richtungen), um in die Gesellschaft hineinzuwirken. Solche Stimmen täten momentan nicht nur in Italien gut.

Smith schreibt über eine „dekonstruktive“ Kirche:

… sie hat einen Sinn fürs Traditionelle, nichtsdestoweniger zeichnet sie sich durch eine Vielfalt aus und ein globales Interesse, das den Status Quo über den Haufen wirft. Die dekonstruktive Kirche hält an der Tradition fest, aber nicht am Traditionalismus des Status Quo. Sie ist eine Gemeinschaft der Interpretation, die unterdrückte Lesarten schätzt – großteils auch deshalb, weil das Evangelium selbst eine Interpretation des Menschseins ist, die von der säkularen Moderne ins Abseits gedrängt wurde. (S. 57f.)

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Pausenbild (1)

Die Vegetation ist schon ziemlich verbrannt und die Luft flimmert in der Mittagshitze. Denken fällt schwer, Schreiben noch mehr. Besser haben es da schon die Bootsbesitzer, vor allem bei dem Alpenpanorama im Hintergrund. Also gibt es heute ein Bild statt Text.

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Achsenzucken, oder: Wer bin ich, und wenn ja, wie oft?

Menschliche Identität wird in den verschiedenen Lebensaltern ganz unterschiedlich empfunden, schreibt James Hollis in The Middle Passage. Es ist vielleicht ganz hilfreich, sich das hin und wieder ins Gedächtnis zu rufen:

Als Kind erlebt sich das Ego als abhängig von der Welt seiner Eltern. Nicht nur physisch, sondern vor allem auch psychisch. Das Kind identifiziert sich mit seiner Familie. Viele Kulturen haben Mythen und Rituale, die den Abschied aus der Kindesalter und die Verbindung in die weitere Welt begleiten.

Ohne solche Riten erleben viele die Pubertät als verwirrend und destabilisierend. Hollis nennt die Zeit zwischen 12 und 40 Jahren das „erste Erwachsenenalter“. Der heranwachsende Mensch versucht, die „Großen“ nachzuahmen. Die Abhängigkeit des Kindes tritt zurück, beziehungsweise wird sie auf die kollektiv geprägten Rollen des Erwachsenen projiziert: Karriere, Partnerschaft und Elternrolle (und natürlich der „gute Christ“ mit dem „richtigen“ Glauben) verheißen Halt und Sicherheit und dämmen die gelegentlich auftretende Angst ein. Und doch ist dies erst eine recht oberflächliche, schablonenhafte und damit auch vorläufige Identität.

Erst im Übergang zum zweiten Erwachsenenalter brechen die Projektionen zusammen. Die Rollen, die man sich ausgesucht hat, führen keineswegs automatisch zum erfüllten Leben. Enttäuschung und Ernüchterung sind die Folge, der Sinn des eigenen Tuns und Daseins verflüchtigt sich, die Antworten anderer Menschen passen nicht mehr zu den eigenen Fragen. Manche flüchten sich dann in Elternkomplexe und unter den Schirm einer fremden Autorität und die Entwicklung der Persönlichkeit kommt zum Stillstand. Andere stellen sich der neuen Verantwortung, die aus dem Sterben des Egos und erwächst, und fangen an, bewusster und klarer zu leben. Für die entscheidenden Fragen im Leben taugen geborgte Antworten nichts. Die gute Nachricht, schreibt Hollis, die aus dem Tod des ersten Erwachsenenalters folgt, ist dass man sein Leben zurückbekommt.

Die vierte Identität schließlich hat mit dem Bewusstsein der Sterblichkeit zu tun.

Hollis ordnet jeder diese Lebensphasen eine Achse zu: Für die Kindheit ist es die Eltern/Kind-Beziehung. Das erste Erwachsenenalter dreht sich um die Achse zwischen Ego und der äußeren Welt, in der es sich behauptet und einrichtet. Immer, wenn die Achse sich ändert, gerät die bisherige Identität notwendigerweise ins Wanken: Im zweiten Erwachsenenalter bekommt das gedemütigte Ego es mit dem geheimnisvollen Selbst zu tun, das einer größeren Bestimmung folgt als einfach nur zu „funktionieren“, und das der Verstand nie ganz zu fassen bekommt. Die vierte Achse ist die zwischen dem Selbst und Gott: Was ist meine ganz eigene Rolle als vergänglicher Mensch im kosmischen Drama?

Bei aller Konfusion, die diese Übergänge mit sich bringen, ist es doch auch tröstlich, dass wir alle vor der gleichen Aufgabe stehen.

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Wer kommt zu wem?

Gestern saß ich mit ein paar Theologen zusammen und wir sprachen unter anderem über Vorstellungen und Formulierungen, die in Gebeten und Liedern uns am Beginn so mancher Gottesdienste begegnet sind. DSCF1041.jpg

Da war zum Beispiel die Aufforderung oder Gewohnheit, Gott „willkommen zu heißen“. Wir waren uns schnell einig, dass Gott vermutlich schon deutlich länger „da ist“ als wir. All diese räumlichen Vorstellungen eines Herbeikommens hinken erheblich. Zudem liegt es dem christlichen Verständnis von Gottesdienst deutlich näher, zu sagen, dass wir die Gäste sind und Gott der Gastgeber, statt ihn umgekehrt irgendwohin „einladen“ zu wollen. Das klingt doch schnell etwas großspurig.

Es gibt freilich in der Schrift und der Tradition eine Bitte um das Kommen des Geistes, das (Wieder-)Kommen Christi und das Kommen des Reiches Gottes. Die bezieht sich aber weniger auf das Gelingen eines Gottesdienstes als vielmehr auf den Zustand unserer Welt, die Menschen in so vieler Hinsicht als gottverlassen erfahren. Im Gottesdienst hätte so etwas bei den Fürbitten einen guten Platz.

Auch etwas kontraproduktiv sind die beliebten Tempel-Analogien mit der Vorstellung, dass Gott an einem bestimmten Ort wohnt, vor allem deshalb, weil er dann anderenorts vermutlich schwerer zu erreichen wäre. Denn obwohl z.B. die Psalmen Gottes Gegenwart nicht exklusiv auf den Tempel beschränken, hat dieses Bild häufig eine solche Wirkung. Der eigentlich sakrale „Raum“ ist jedoch die versammelte Gemeinde, in der Gott in einer anderen Weise und Qualität gegenwärtig ist (oder besser: wirkt) als wenn sich jeder selbst genügen würde – das gilt selbst dann, wenn man miteinander „nur“ schweigt. Da wo die Tempelanalogie im Neuen Testament verwendet wird, in Epheser 4, ist wieder nicht vom Gottesdienst im engeren Sinn die Rede, sondern vom Leben der Gemeinde.

Leider etwas technisch und hölzern klingen Formulierungen, die Gottes grundsätzliche Anwesenheit voraussetzen, deren wir uns nun unsererseits bewusst werden. Tatsächlich geht es ja um ein inneres Ankommen und Gegenwärtigsein, um Aufmerksamkeit und eine Ausrichtung des Herzens.

Hilfreicher ist da vielleicht der etwas altmodisch klingende Begriff von Gottes „Angesicht“. Der setzt eine „räumliche“ Anwesenheit schon voraus, nun geht es um das gegenseitige Wahrnehmen und Erkennen, um die bewusste Zuwendung. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine Kinder ab und zu, wenn sie auf meinem Schoß saßen und mit mir reden wollten, mit ihren kleinen Händen erst mein Gesicht zu sich hindrehten um Blickkontakt zu bekommen, bevor sie losredeten. Sie wollten sich meiner ungeteilten Aufmerksamkeit versichern. Und tatsächlich wissen wir heute, dass sich das Selbstwertgefühl und das Ich-Bewusstsein eines Babys durch den Blick in das Gesicht seiner engsten Bezugsperson entwickelt.

Am Beginn eines Gottesdienstes geschieht etwas Ähnliches. Wenn wir „Gottes Angesicht suchen“ (Ps 27,8), dann wollen wir ihm begegnen, seine Zuwendung erfahren, erkannt (und durchschaut) werden, uns seiner ungeteilten Aufmerksamkeit bewusst werden. Umgekehrt müssen auch wir unsere ungeteilte Aufmerksamkeit auf Gott richten – in uns selbst, in den anderen. Wenn in der Bibel vom „Leuchten“ des göttlichen Angesichts die Rede ist, dann ist damit diese liebevolle, gütige und freundliche Zuwendung gemeint, die uns Frieden und Geborgenheit schenkt in einer chaotischen Welt, der wir aus eigener Kraft nicht Herr werden.

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Die Kirche ist nicht die Antwort

Paul Zulehner spricht ja gern von der Jesusbewegung, weil der Begriff „Kirche“ in vieler Hinsicht abschreckend wirkt auf unsere Zeitgenossen. Marcus Mumford von Mumford & Sons hat das wohl ganz ähnlich empfunden, als er sich neulich in einem Interview mit dem Rolling Stone Magazine als „Jesus-Nachfolger“ bezeichnete, aber den Ausdruck „Christ“ ablehnte.

Was aber ist die Aufgabe dieser Jesusbewegung a.k.a. „Kirche“? Wie und mit welchen Mitteln kann sie die Welt verändern, gerade dann, wenn sie auf die Machtmittel, den rigiden Dogmatismus und die autoritären Strukturen verzichtet, auf die jene problematischen Gestalten von Kirche und Christentum, für die wir uns heute nur entschuldigen können, allzu gern zurückgriffen? Kann sie das überhaupt?

John Caputo hat das für mein Empfinden ganz treffend formuliert. Er greift Charles Sheldons Frage „What would Jesus do?“ auf (bei Martin Niemöller hieß das dann ein halbes Jahrhundert später: „Was würde Jesus dazu sagen?“ – der Akzent auf dem Tun statt dem Reden gefällt mir allerdings besser). Freilich ist es schnell geschehen, dass wir vorschnelle Antworten geben und dass der Jesus, von dem wir da reden, uns erstaunlich ähnlich sieht – und nicht wir ihm. Caputo schreibt:

Die Aufgabe der Kirche ist es, sich selbst dieser Frage zu stellen, statt sie als Prügel zu benutzen, um andere zu strafen. Die Kirche, das Archiv Jesu, ist in einer ganz realen Weise diese Frage. Sie hat keine andere Pflicht und kein anderes Privileg als die Erinnerung an Jesus zu tragen und sich selbst diese Frage zu stellen. Die Kirche ist nicht die Antwort. Die Kirche ist die Frage, diese Frage, die Versammlung von Menschen, die von der Erinnerung an Jesus zusammengerufen wurden und die diese Frage stellen, die zusammengerufen und in Frage gestellt wurden von dieser Frage, die unter Anklage stehen, unter dem Ruf, die befragt werden und angesichts dieser Frage die Aussage nicht verweigern können, und die allmählich begreifen, dass es kein einfachen, vorgefertigten und abgepackten Antworten darauf gibt.

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Der göttliche Wanderer

Anselm Grün beschreibt in seinem Buch Erlösung. Ihre Bedeutung in unserem Leben unterschiedliche Ansätze im Neuen Testament, das Versöhnungsgeschehen zwischen Gott und Menschen zu schildern. Lukas zum Bespiel beschreibt Jesus als den göttlichen Wanderer, der bei seinem Volk einkehrt:

Lukas verbindet die Erfahrung des Heils auch mit der Vergebung der Sünden. Aber er spricht nicht vom Tod Jesu als der Bedingung für die Vergebung unserer Sünden. […] Im Lukasevangelium sind es nicht in erster Linie die Geburt Jesu oder sein Tod, die uns erlösen. Der ganze Weg Jesu ist ein Heilsweg. Jesus ruft ein Heilsjahr aus. Alles, was er im Jahre dieses Heiles tut, was er sagt und welche Wege er geht, das ist erlösend und heilend für uns Menschen. (S. 42f.)

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Von Leitbildern und ausschließender Differenz

Die Diskussionen um die Orientierungshilfe der EKD zur Familie als verlässlicher Gemeinschaft dauern an. Während die Befürworter des Papiers wie Landesbischof Bedford-Strohm mit Recht darauf hinweisen, dass die Ehe (die nicht der primäre Gegenstand der Reflexion war) durchaus als Leitbild fungiert, stoßen sich die Kritiker daran, dass für sie klare Grenzen unverantwortlich verwischt werden.

Die hier schon erwähnte Unterscheidung zwischen der einschließenden und der ausschließenden Differenz hilft, die beiden Seiten zu verstehen. Die Autoren regen an, zentrale traditionell christliche Werte wie Liebe und Treue, Verantwortung und Verlässlichkeit auch in anderen Formen von Familie und Partnerschaft zu übertragen. Hier wird eine Differenz nicht aufgehoben oder verschwiegen (da irrt und verzerrt die konservative Kritik!), aber es wird das Gemeinsame in den Vordergrund gerückt und gewürdigt.

Die Kritiker denken durchweg im Sinne einer ausschließenden Differenz: Die Aussage, dass Liebe und Treue auch in einem anderen Rahmen als der institutionellen Ehe von Mann und Frau gelebt werden können, kann da nur stören und irritieren. Fehlt der Trauschein, dann steht alles unter einem negativen Vorzeichen. In einer Pressemeldung der Evangelischen Allianz von letzter Woche heißt es: „Ehe ist die lebenslängliche Treue- und Liebesgemeinschaft zwischen einer Frau und einem Mann, die öffentlich-rechtlich geschlossen wird. Familie ist eine solche durch Kinder ergänzte Gemeinschaft.“ Und man darf durchaus davon ausgehen, dass damit auch der Ausdruck Familie exklusiv denen vorbehalten ist, die dieser Definition entsprechen: Ein heterosexuelles Paar mit seinen „biologischen“ Kindern.

Alles andere (Patchwork- und Regenbogenfamilien, aber natürlich auch Alleinerziehende) erscheint damit notgedrungen als minder-wertig, ja sogar als schädlich, wenn es weiter heißt: „Sie [die so definierten Familien] sind für die seelische Gesundheit und Ausgeglichenheit von Menschen und damit auch für die Gesundheit staatlich geordneter Gemeinschaft unverzichtbar.“ Eine conditio sine qua non gelingenden Lebens also, für das Individuum wie die Gesellschaft als ganze.

Entsprechend werden dann auch die unterschiedlichsten staatlichen Privilegien für die Familie gefordert. Vermutlich ist das ja als Anreiz zum Upgrade auf die Vollversion von Ehe 1.0 gedacht; das wäre dann die exklusivistische Interpretation des Leitbildgedankens, freilich ist dieser Schritt etwa für Homosexuelle durch die vorausgestellte Definition kategorisch ausgeschlossen.

Der inklusive Ansatz setzt nun gewiss weniger direkte Anreize zum Upgrade, wenn er mit dem Gedanken spielt, dass sich auch in Beziehungen, die nicht allen oben aufgezählten Kriterien genügen, vieles Gute und Segensreiche ereignet. Aber er kann sagen, was die anderen zumindest offiziell nicht sagen dürfen, ohne dass in den eigenen Reihen lautstarke Zweifel aufkommen, warum man sich eigentlich die ganze Mühe macht mit dem Heiraten und dem Es-Miteinander-Aushalten, wenn das nicht von außen (!!) honoriert wird. Und er vermittelt Paaren, die aus den verschiedensten Gründen nicht „richtig“ heiraten, dass Gott und die Kirche sie nicht nur irgendwie tolerieren, sondern sie auch auf ihrem anderen Weg positiv begleiten.

Im Begriff des „Leitbildes“ ist es im Grunde ja schon angelegt, ihn inklusiv zu verstehen, er ermöglicht unterschiedliche Grade von Annäherung statt alles in ein scharfkantiges Drinnen/Draußen zu pressen. Über die inhaltliche Beschreibung dieses Leitbildes scheint es mir nicht annähernd so große Differenzen zu geben wie um seine ein- oder ausschließende Funktion.

In den meisten Organisationen, die ein Leitbild haben und es auch wirklich ernst nehmen, wird man es als Gewinn betrachten, wenn sich möglichst viele in die Richtung bewegen, die es weist. Man freut sich auch über zaghafte Ansätze und vermeidet kontraproduktive Alles-oder-nichts-Parolen. Freilich wird man sich auch Mühe geben, dieses Leitbild möglichst originell und motivierend zu formulieren, und in dieser Frage könnten ja nun alle Seiten fröhlich wetteifern.

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Böser Pluralismus?

In der Geschichte vom Turmbau zu Babel zeigt sich, wie Gott auf totalitäre Tendenzen imperialer Massenkultur reagiert, indem er eine Vielzahl von Sprachen und Kulturen entstehen lässt. Menschen wollen sich zu übermenschlicher Größe aufschwingen und drohen darüber zu Unmenschen zu werden.

Gott antwortet auf diese Gefährdung der Menschlichkeit, indem er eine unauflösliche Vielfalt schafft. Dass diese Vielfalt gottgewollt ist und kein Produkt bloßer Verlegenheit, zeigt schon die Tatsache, dass der Erzählung vom Turmbau die „Völkertafel“ vorgeschaltet ist, die diese Vielfalt für die damals bekannte Welt beschreibt und erläutert und die unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Länder und Völker in einen Verwandtschaftszusammenhang stellt.

Die gern gebrauchte Differenzierung Pluralität (= gut) und Pluralismus (= schlecht, weil „-ismus“) geht hier also nicht so richtig auf, denn Gott scheint die Vielstimmigkeit und Fragmentierung offenbar nicht einfach nur hinzunehmen, er wollte es tatsächlich so. Gott ist so gesehen ein bewusster Pluralist und widersetzt sich allen Tendenzen zur Uniformierung, Assimilierung und Homogenisierung menschlicher Gesellschaften.

Wenn das stimmt, warum haben eigentlich so viele Leute Angst vor dem Pluralismus, der ja in unserer heutigen Situation als eine Reaktion auf die totalitären Systeme und Ideologien des 20. Jahrhunderts entstand, also wieder der Begrenzung menschlichen Gewaltpotenzials dient? Dass er gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt und unsere komplexe Welt noch unübersichtlicher macht, liegt ja auf der Hand. Dass er möglicherweise weit größere Schwierigkeiten abwendet, daran erinnert uns Genesis 11.

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Lebendige Nasen

In den letzten Tagen habe ich mich mit der biblischen Urgeschichte befasst und dazu einige Schöpfungsmythen aus der Umwelt des Judentums angeschaut. Diesen Absatz aus der ägyptischen Lehre für Merikare fand ich besonders originell formuliert:

Wohlversorgt sind die Menschen, das Kleinvieh Gottes,

Ihretwegen erschuf er Himmel und Erde

Er drängte die Gier des Wassers zurück

und schuf die Luft, damit ihre Nasen leben

(gefunden in: Walter Klaiber, Schöpfung. Urgeschichte und Gegenwart)

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Weisheit der Woche: Nicht bei sich selbst zu Hause

»Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müsste man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwierigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu seinem Eigentum sich befindet, solange er überhaupt noch etwas besitzt. Die Kunst bestünde darin, in Evidenz zu halten und auszudrücken, dass das Privateigentum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, dass die Fülle der Konsumgüter potentiell so groß geworden ist, dass kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern; dass man aber dennoch Eigentum haben muss, wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhältnisses zugute kommt.

Theodor Adorno

Künftig gilt: … Wer etwas kauft, soll es nicht festhalten wollen. Und wer die Dinge dieser Welt benutzt, soll gut auf sie verzichten können.

Paulus, 1.Kor 7, 29-31

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Der innere Kindergarten

Es ist nicht so, dass wir ein einzelnes Kind in uns hätten, vielleicht verletzt, verängstigt, das gebraucht werden will oder sich zurückzieht, um etwas zu kompensieren, sondern eine ganze Schar von Kindern, einen veritablen Kindergarten, zu dem der Klassenclown gehört, der Künstler, der Rebell und das spontane Kind, das mit der Welt im Einklang ist. So gut wie alle wurden vernachlässigt oder unterdrückt. Daher fördert es die Therapie oft, wenn man ein Gespür für ihre Anwesenheit entwickelt. Gewiss ist das eine Art, Jesu Feststellung aufzugreifen, dass man wieder ein Kind werden muss, um in das Reich Gottes zu kommen.

Sicher müssen wir uns auch mit unserem narzisstischen Kind auseinandersetzen, unserem eifersüchtigen Kind, unserem wütenden Kind, dessen, Ausbrüche oft peinlich und destruktiv sind. Aber noch wahrscheinlicher haben wir die Freiheit vergessen, die wunderbare Naivität, sogar die Freude, wenn man das Leben frisch lebt. Eine der zersetzendsten Erfahrungen der Lebensmitte ist das Gefühl der Vergeblichkeit und Freudlosigkeit, das mit der Routine einhergeht. Und freilich ist das freie Kind, das wir mit uns herumtragen, im Büro selten erwünscht, vielleicht nicht einmal in der Ehe.

James Hollis, The Middle Passage

 

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