Babel 2014: Von gemachten und geschenkten Namen

Gestern war die Geschichte vom Turmbau zu Babel mein Predigttext. Ein Satz hat mich besonders zum Nachdenken gebracht. Die Menschen bauen diesen Turm, um sich einen Namen zu machen. Was immer wieder als grenzenlose Hybris getadelt wurde, ist auch die Folge von Angst und Sorge (nebenbei: aktuell beschreibt dieser Artikel in der SZ die identitätsstiftende Wirkung jungsteinzeitlicher Großbauten wie Stonehenge).

In der Selbstvermarktungslogik unserer Wettbewerbsgesellschaft ist das ja ein Riesenthema, dann ist von „Marken“ und „Alleinstellungsmerkmalen“ die Rede, und das hat längst schon die einzelnen erfasst, die sich auf dem Markt „positionieren“ müssen. Selbst christliche Funktionäre haben diese Sprache und Kultur längst verinnerlicht. Hinter dem Pragmatismus, der damit meist verbunden ist, schlummern aber dieselben Ängste – dass man im Ringen um die Aufmerksamkeit anderer zurückfällt, der Marktwert sinkt, dass man nicht mehr gefragt sein könnte, dass andere einen abschreiben, dass man also, um im babylonischen Bild zu bleiben, kauf dem schrankenlosen Marktplatz verloren geht. Und es entstehen dieselben imperialen Phantasien von Erfolg, Einfluss und Geltung.

Die biblische Tradition weist in eine andere Richtung: Wir müssen uns keinen Namen machen. Stattdessen bekommen wir ihn geschenkt, etwa wenn Jesus uns ermächtigt, in seinem Namen als Kinder Gottes zu beten. In diesem Namen finden Menschen das Heil (vgl. Apostelgeschichte 4,12; Römer 10,13) – eine neue Identität, die von dem Druck befreit, uns auf Kosten anderer zu beweisen, und von der Angst, uns zu verlieren.

Der Name Christi ist nicht zu trennen von seinem Weg: Er beginnt schwach, verletzlich und in der galiliäischen Provinz. Er wendet sich den Abgeschriebenen seiner Umgebung zu und provoziert das Personal von Thron und Tempel. Er lässt sich alles nehmen und bekommt vom Himmel alles im Überfluss zurück. Auf diesem geschenkten Weg lässt sich leben.

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Weisheit der Woche: gelebte Wahrheit

Wenn wir zu der Einsicht gelangen, dass wir eine Wahrheit sind, eine Wahrheit, die gelebt werden muss, eine Wahrheit, deren Leugnung nicht nur uns selbst schadet, sondern auch anderen, dann sind wir viel eher geneigt, frei und offen zu reden. Die Unterdrückung dieser Wahrheit ist eine Verletzung der Seele, und die Seele wird auf diesen Irrglauben im Laufe der Zeit reagieren, meistens früher als später.

… Diese komplexe Wahrheit zu verleugnen, die wir verkörpern, fügt nicht nur der Persönlichkeit eine Wunde zu – es verwundet die Welt durch unsere Weigerung, an ihr teilzunehmen, durch das Zögern, unseren einzigartigen Beitrag zum Ganzen zu leisten.

James Hollis, Finding Meaning in the Second Half of Life: How to Finally, Really Grow Up

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Das Ende der „Veranstaltungsevangelisation“?

Gestern fragte eine Teilnehmerin an einem Gespräch über Jugendevangelisation, ob das Ende der „Veranstaltungsevangelisation“ gekommen sei. Die Frage wird hin und wieder gestellt, und ich kann das Unbehagen hinsichtlich vieler Formen von Veranstaltungsevangelisation gut verstehen.

Auf der anderen Seite ist das Evangelium seinem Selbstverständnis nach öffentliche Wahrheit. Wenn man die Unterscheidung sozialer Räume in intim, persönlich, sozial und öffentlich zugrunde legt, dann lässt sich das christliche Zeugnis nicht auf die ersten drei reduzieren. Oft steckt hinter der Frage nach dem Sinn von „Veranstaltungsevangelisation“ auch die Frage nach dem Rückzug aus dem öffentlichen Raum.

Denn der öffentliche Raum hat seine Tücken. Man kann die Wirkung einer Botschaft viel weniger abschätzen und noch schlechter kontrollieren. Die Frage nach dem „wie“ bleibt also die entscheidende Frage: Wie melden sich Christen öffentlich zu Wort? Was sind passende Gelegenheiten, Anlässe, Themen und Aussagen, wie stimmig ist das Ganze im Blick auf das Bild, das Christen und Kirchen abgeben, welche Absichten und Haltungen stecken dahinter, wie offen oder wie monologisch ist das angelegt – da gibt es viel zu klären. Um dieser Klärung willen kann man auch auf zeitweise (oder auch endgültig) auf bestimmte Formen verzichten.

Beim „wie“ kann man also vieles richtig machen und vermutlich noch mehr falsch. Nicht verzichten kann man jedoch darauf, am öffentlichen Diskurs der pluralistischen Gesellschaft engagiert und bescheiden teilzunehmen. Leslie Newbigin hat es treffend ausgedrückt:

Der Test für die Ernsthaftigkeit meiner Überzeugung wird sein, dass ich bereit bin, sie zu veröffentlichen, sie anderen mitzuteilen, ihr Urteil und wenn nötig ihre Korrektur anzunehmen. Wenn ich mir diese Übung erspare, wenn ich meinen Glauben als Privatangelegenheit behandle, ist es kein Glaube an die Wahrheit.

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Bibelverständnis zwischen Dogmatismus und Relativismus

Steve Chalke spricht über tragfähige Zugänge zur Bibel und fragt, welches Vorverständnis es Menschen erschwert (oder auch unmöglich macht), sich mit dem Buch der Bücher anzufreunden.

Vieles scheitert heute erfahrungsgemäß entweder an der Vorstellung, sämtliche Aussagen der Bibel seien unantastbar und daher gefälligst gedanken- und kritiklos zu schlucken (menschlicher Verstand dient hier lediglich zur Abwehr aller Kritik), oder am Empfinden, dass vieles heute so fremd, zum Teil verstörend und schwer verständlich ist, dass man sich kaum noch die Mühe macht, selbst zu lesen und Bibeltexte nur noch in harmlosen Häppchen aus zweiter Hand konsumiert.

Ich werde das demnächst noch ein bisschen ausführlicher erläutern. Als Appetizer hier schon einmal sein Video zum Thema:

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Kleine Regenbogen-Presseschau

Der Streit um die Petition gegen den neuen Bildungsplan in Baden-Württemberg hat erfreulicherweise dazu geführt, dass neben manchen eher unbefriedigenden Äußerungen auch eine ganze Reihe kluger Dinge gedacht und geschrieben wurden. Bei allem verständlichen Überdruss, den die Polemik dem einen oder der anderen bereitet haben mag, haben sich doch auch viele um überfällige Klärungen bemüht. Mit Erfolg:

Stefan Niggemeier befasst sich in der eher konservativen FAZ mit dem Thema Toleranz und der Frage, warum diese sich nicht gegen eine „Akzeptanz“ ausspielen lässt. Er zitiert Goethe mit den treffenden Worten: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Genau so empfand ich manche Stimmen in dieser Diskussion auch: Eine Toleranz, die den anderen mitleidig an den gesellschaftlichen Katzentisch verbannt, ist nur die Fortführung der Diskriminierung mit anderen Mitteln.

Auf seinem Blog hatte Niggemeier ein paar Tage zuvor dem bei Maischberger entstandenen Eindruck widersprochen, dass in der Diskussion um Homosexualität auf beiden Seiten gleichermaßen diskriminiert werde. Es ist für ihn nicht dasselbe, ob Menschen dafür angegangen werden, was sie tun (andere diskriminieren) oder dafür, was sie sind (ihre Sexualität).

Der katholische Traditionalist Matthias Matussek, jüngst vom Spiegel zur Springer-Presse gewechselt, sieht sich nach der Maischberger-Sendung (an der er gar nicht teilgenommen hatte) als Opfer einer gesinnungsterroristischen Homophobie-Kampagne. Sein Kollege Lucas Wiegelmann von der Welt antwortet ihm in bemerkenswert umpolemischer Klarheit.

Das evangelikale Medienmagazin Pro überrascht mit einem gelungenen Interview mit Volker Beck und die taz bemüht sich um eine differenzierte Wahrnehmung evangelikaler Christen.

Florian Maier, Jugendreferent beim EJW in Württemberg, nimmt die Auseinandersetzung zum Anlass, seine Homosexualität öffentlich zu machen und wird vomn seinem Arbeitgeber dabei wohlwollend begleitet. In seinem ausführlichen „Fazit“ eine Woche später geht er einigen theologischen Fragen nach und verlinkt einen längeren und gründlichen Beitrag von Jörg Barthel von der Theologischen Hochschule der methodistischen Kirche in Reutlingen.

Und auf Zeit Online beleuchtet der Psychologe Ulrich Klocke den Begriff und das Phänomen „Homophobie“ nüchtern und differenziert.

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Adam und der Tod

Dass der platonische Gedanke der Unsterblichkeit der Seele und die christliche Vorstellung einer leiblichen Auferstehung zwei verschiedene und letztlich unvereinbare Konzepte sind, spricht sich allmählich herum.

In der theologischen Tradition begegnet vielfach die Ansicht, dass der Mensch im „Urstand“ (da, wo dieser quasi-historisch gedacht wird) unsterblich gewesen sei. Grund dafür ist, dass im Römerbrief der Tod als Folge der Sünde bezeichnet wird (nicht aber – das ich wichtig – als Strafe Gottes).

Interessanterweise hat dieser Rückschluss kaum Anhalt an der biblischen Urgeschichte. Der erste Schöpfungsbericht erwähnt den Tod (und damit auch eine eventuelle Unsterblichkeit) mit keiner Silbe und im zweiten Schöpfungsbericht, zu dem auch die Geschichte vom Fall gehört, heißt es am Ende:

Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt! (Gen 3,22)

So, wie es da steht, heißt das wahrscheinlich, dass Gott den Menschen sterblich erschaffen hatte und ihm nun die Unsterblichkeit verwehrt durch den Ausschluss aus dem Garten Eden, wo der Baum des Lebens steht. Und so erscheint in der gesamten hebräischen Bibel der Mensch als ein endliches, sterbliches Wesen. Und da, wo sich die Hoffnung auf eine Auferweckung abzuzeichnen beginnt, da ist sie etwas anderes als die Rückgewinnung einer ursprünglich nicht nur als Möglichkeit, sondern als Wirklichkeit vorhandenen Unsterblichkeit. Gottes Tat in der Neuschöpfung ist also nicht nur restaurativ, sondern sie geht deutlich über die erste Schöpfung hinaus.

Auch interessant: Die Geschichte vom Fall wird im gesamten AT nicht wieder aufgegriffen (erst im deuterokanonischen Buch Sirach) und im Judentum scheint, wie Walter Klaiber in Schöpfung. Urgeschichte und Gegenwart schreibt, die Diskussion darüber, ob Adam die Menschheit ins Verderben gestürzt hat, erst nach der Katastrophe des Jahres 70 n.Chr. in Gang gekommen zu sein.

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Ferien vom Über-Ich

Die Kritik verdächtigt alles und klagt alles an und sitzt über alles zu Gericht. Sie ist damit Schritt innerhalb einer Tradition: denn erst – in der Religion – saß Gott über die Menschen zu Gericht; dann – in der Theodizee – die Menschen über Gott; dann – in der Kritik – die Menschen über sich selber. Das Gericht der Kritik ist also Selbstgericht, und das ist anstrengend: darum wählt die Kritik den Ausweg, dabei nicht der Angeklagte zu sein, sondern der Ankläger; sie entlastet sich, indem sie richtet, um nicht gerichtet zu werden; die Kritik: das sind Ferien vom Über-Ich dadurch, dass sie selbst jenes Über-Ich wird, das die Anderen nur haben, und das selbst kein Über-Ich hat. Dem an sich und für sie verurteilten Zustande ist sie dann für sich schon entkommen: der verurteilte Zustand sind somit die anderen.

aus Odo Marquard, Imkompetenzkompensationskompetenz, in: ders., Zukunft braucht Herkunft

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Des Kaisers neue Kompetenzen?

Neben der unsterblichen Transrapidrede ist Edmund Stoiber ja auch durch das beliebte Schlagwort „Kompetenz“, im Stoiber-Sprech wurde daraus sogar zwischenzeitlich „Kompetenzkompetenz“. Stoiber warf die Frage auf, wer die wohl hat.

Kürzlich sprach ich mit zwei Lehrerinnen über die Ausrichtung des Lehrplanes an Kompetenzen. Erst mal leuchtet der Gedanke ja ein, dass nicht nur Wissen („totes Faktenwissen“ heißt es dann) vermittelt werden soll, sondern Schüler und Studenten tatsächlich etwas können sollten. Freilich ist es wichtiger, lesen zu können, als den Inhalt dieses oder jenes Buches aufsagen zu können. Aber ganz so einfach ist das wohl nicht, wenn man weiter denkt.

Im Laufe des Gespräches erinnerte ich mich an mein erstes Semester Theologie und einen Professor, der damals schon kritisierte, dass Bildung, die darauf abzielt, jedem ein möglichst eigenständiges Urteil zu ermöglichen, immer mehr zur Ausbildung verkommt, die Menschen dazu bringt, zu funktionieren. Ausbildung aber ist verzweckte Bildung, in der messbare Effizienz- und Nützlichkeitserwägungen andere Bildungsziele wie die freie (also ergebnisoffene) Entfaltung der Persönlichkeit oder zweckfreie Neugier, die für Aristoteles noch der Ursprung der Philosophie war, zu verdrängen drohen.

Also habe ich mich nach kritischen Gesprächspartnern umgesehen. Der Literaturwissenschaftler Jürgen Gunda schreibt etwa ganz treffend über einen Kompetenzbegriff, der das Wissen hinter das „Können“ zurückstellt:

Auf der Seite des Wissens haben wir Komplementärbegriffe wie Neugier, Erkenntnis, Interesse oder Reflexion. Auf der des Könnens aber steht die gezielte Etablierung von Wiederholungsroutinen und Kontrollmechanismen. Gewährleistet werden soll die spontane und situationsgerechte Abrufbereitschaft erworbener Kenntnisse für Entscheidungsprozesse und Handlungen.

Freilich ließe sich auch all das Vernachlässigte in Kompetenz-Sprech umformulieren, oder, netter formuliert, in einen umfassenderen Begriff von Kompetenz integrieren. Fraglich ist, ob das im aktuellen Diskurs über Kompetenz in der (Aus)Bildung gewünscht wird, oder ob dort ein reduktionistischer, ökonomisierter Kompetenzbegriff dominiert. Gunia verweist darauf, dass die im Management geforderte Kompetenz meist im Kontext von globaler Konkurrenz und dem sich verschärfenden Kampf ums Überleben erscheint und daher in der Literatur vielfach explizit militärische Paradigmen bemüht werden. Die oft wiederholte Forderung »Aus Wissen muss Können werden!« geht nämlich auf den preußischen General Clausewitz zurück:

Das Subjekt als Feldherr seiner selbst transformiert fortwährend Wissen in Können und Lernen in Üben. Dadurch versetzt es sich in die Lage, zeitnah Entscheidungen treffen und Handlungen folgen zu lassen. Seine Immunisierung gegen Kontingenz ist nicht nur defensiv, sondern offensiv, nicht nur Panzer, sondern auch Waffe. In seinen Entscheidungen und Handlungen geht Verteidigung über in Angriff. Der Gegner ist dabei nicht nur das Unabwägbare selbst. Gegner sind auch die anderen Immunisierten, gegen die man sich durch eine optimalere Panzerung einen Vorteil im Wettbewerb sichern möchte.

Neben dem „Können“ wirft die Bezugnahme der Kompetenzdefinitionen auf die „Situation“, in denen Kompetenz zur Geltung kommt, Fragen auf. Statt die Kontingenz und Komplexität der jeweiligen Situation zur Sprache zu bringen, zielen viele Konzepte von „Kompetenz“ darauf ab, beides zu eliminieren – sich von äußeren Ereignissen also nicht stören und ins Nachdenken oder gar Zweifeln bringen zu lassen, sondern sofort auf eine antrainierte Lösungsroutine zurückzugreifen:

Die ideologische Rede von der Kompetenz sieht in Situationen primär etwas, das von einem Subjekt zu bewältigen und zu kontrollieren ist. Situation verweist aber außerdem auf ein Verwickeltsein, ein Mitten-Drin, dem man zunächst nichts als ausgesetzt ist.

Als Alternative zu diesen Verengungen des Subjekt- und Bildungsbegriffs greift Gunia den Vorschlag auf, sich wieder mehr am aristotelischen Ideal der phronesis zu orientieren (vgl. Eph 1,8). Theologisch wäre der Begriff der Weisheit hier zu nennen, in dem sich Wissen und Erfahrung verbinden und mit dem sich verhindern ließe, dass „Theorie“ und „Praxis“ gegeneinander ausgespielt werden.

Weisheit ist in unserem heutigen wie im biblischen Sprachgebrauch aber eine Eigenschaft des Subjekts und keine bloße Fertigkeit (sehr weit hergeholter Nebengedanke: wäre Hans-Peter Friedrich Philosoph statt Politiker, würde er hier zu Stoibers heller Freude wohl von „Superkompetenz“ sprechen?). Sie entwickelt sich als Haltung, indem man sich als ganze Person den Fragen stellt, die Welt und Leben aufwerfen. Und in genau diese Richtung denkt auch Gunia, wenn er mit dem Soziologen Hartmut Rosa am Ende die Bedeutung von Natur, Ästhetik und Religion für das gelingende Weltverhältnis des Menschen nennt.

Die Sorge der beiden Lehrerinnen, es zukünftig vermehrt mit „Kompetenzgschmarri“ (so eine der beiden, Dialekt verleitet ja zur Ehrlichkeit) zu tun zu bekommen, ist nach diesem kurzen Blick auf die kritische Diskussion nicht ganz unbegründet. Aber vielleicht kommt ja auch alles viel besser, als man so denkt…

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Weisheit der Woche: Luxus

Ich weiß, dass unsere Philosophie, die schon immer reich war an seltsamen Maximen, entgegen der Erfahrung aller Jahrhunderte behauptet, der Luxus bewirke den Glanz der Staaten. Wird sie aber, nachdem sie schon die Notwendigkeit der Gesetze gegen den Luxus außer acht gelassen hat, auch noch bestreiten wollen, dass die guten Sitten ein wesentliches Element für den Bestand der Reiche sind, dass aber der Luxus den guten Sitten diametral entgegengesetzt ist?

Jean Jacques Rousseau

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Neuland betreten

„Immer vorwärts“ stand im Familienwappen meines Großvaters. Aber sollte man nicht irgendwann man angekommen sein? Im Blick auf die zweite Lebenshälfte beschreibt James Hollis die innere Wegstrecke, die es zurückzulegen gilt, mit den folgenden Worten:

Die Tagesordnung des Ego aus Befestigung, Bequemlichkeit, Ordnung, Kontrolle und Sicherheit gilt es nicht zu verurteilen, sondern vielmehr anzuerkennen, dass sie unser Menschsein einschränken könnte. Wir haben alle diese Phantasievorstellung, dass wir auf ein konfliktfreies Plateau oder ein sonnenbeschienenes Hochtal ohne Mühen gelangen, ohne dass uns ein vertieftes Bewusstsein abverlangt wird, ohne dass wir tiefer und weiter gezogen werden, als wir eigentlich gehen wollten. Interessanterweise gibt es diesen Ort – man nennt ihn „Tod“. Ohne dass wir uns aufmachen, ohne Risiko und Konflikt sind wir spirituell schon tot und warten nur noch darauf, dass der Körper auch noch wegfällt. Dann haben wir den eigentlichen Sinn unseres Daseins verfehlt.

Wehrgang.jpgInteressant daran ist, wie hier das psychische Muster der ersten Lebenshälfte charakterisiert wird, also die Entwicklung des „Ego“, das wirzunächst einmal für unser wahres Selbst halten, dass sich im Laufe der Zeit jedoch als Spiegel der Erwartungen unserer Umwelt erweist, denen wir uns meist unbewusst und reflexartig entweder unterwerfen oder verschließen.

Unübersehbar sind dabei die Parallelen zum Projekt der Aufklärung und der Moderne, die sich ja selbst auch als Emanzipations- und Reifeprozess begriffen hat, möglicherweise aber demselben Irrtum erliegt wie der Mensch der ersten Lebenshälfte:

Die Moderne wurde unter dem Zeichen der ‚Gewissheit‘ geboren, und unter diesem Zeichen errang sie ihre ihre spektakulärsten Siege. In ihrer anfänglich ‚festen‘ Phase wurde die Moderne als ein langer Marsch zur Ordnung durchlebt – jene Ordnung, die man als einen Bereich der Gewissheit und Kontrolle begriff, und vor allem der Gewissheit, dass die bis dahin irritierend launenhaften Ereignisse unter Kontrolle gebracht und gehalten werden könnten, mithin absehbar und empfänglich für Planungen.

Für Bauman ist dieser Plan, in einer chaotischen Welt durch Vernunft und Fortschritt dauerhaft Ordnung zu schaffen, ein illusionäres Ziel, ebenso wie Hollis das Streben des Ego nach absoluter Kontrolle für wahnhaft hält. Beiden liegt, um kurz auf Gedanken von Parker Palmer zurückzugreifen, ein objektivierendes Verständnis von Wahrheit und Welt zugrunde:

Indem der Objektivismus die Welt auf eine Ansammlung von Gegenständen reduziert, stellt er den Erkennenden in ein Feld stummer und lebloser Objekte, die passiv seinen Definitionen ihrer selbst unterliegen. In dieser Hinsicht erschafft der Objektivismus die subjektivste aller Welten, eine Welt von Dingen, die sich nicht wehren und ihre Selbstheit behaupten können.

Die Post-, Spät oder „flüchtige“ Moderne zeichnet sich durch den Verlust eben dieser Gewissheiten aus. Insofern kann man sie mit einem gewissen Recht als einen kollektiven Reifeprozess beschreiben, der nicht ohne Risiken ist. In der fest gefügten, ordentlichen und eindeutigen Welt des Modernismus (und ebenso im modern „formatierten“ Christentum) findet man leider recht wenig Unterstützung, wenn man sich mit den Fragen der zweiten Lebenshälfte beschäftigt. Richard Rohr hat das in „Reifes Leben“ einmal sehr treffend angemerkt.

Wenn sich in der zweiten Lebenshälfte das „wahre Selbst“ meldet, dann erleben das die meisten Menschen erst einmal als eine verstörende Dekonstruktion des Ego. Der Weg führt durch unbekanntes Neuland. Noch einmal Hollis:

Bleibt nun also die Frage, wie wir in einer Zeit des sterilen Materialismus, gescheiterter Institutionen und der Hausierer mit schäbiger spiritueller Ware in Esoterik-Buchläden eine tragfähige Spiritualität rekonstruieren. Jedes Bemühen um Wiederbelebung durch Rückschritt ist zum Scheitern verurteilt. Neuer Wein kommt nicht aus alten Weinflaschen. Und doch gibt es manche Pfade durch die Vergangenheit, die zu erkunden sich lohnt.

Nicht jeder lässt sich auf diese existenzielle Verunsicherung ein, und nicht jeder, der es wagt, findet weise Wegbegleiter und gute Gesprächspartner. Daher zum Schluss dieses Posts ein ganz persönlicher Dank an alle, die das für mich und andere waren und geblieben sind. Ich weiß nicht, wie meine Reise verlaufen wäre ohne Euer Beispiel, die Gespräche und den Gedankenaustausch,die klugen Fragen, Euren Zuspruch und Eure Ermutigung!

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Neues Übersetzungsprojekt

Nach dem ungemein spannenden Einstieg mit Von der Ausgrenzung zur Umarmung: Versöhnendes Handeln als Ausdruck christlicher Identität werde ich in den nächsten Monaten ein weiteres Buch von Miroslav Volf übersetzen, nämlich A Public Faith: How Followers of Christ Should Serve the Common Good. Es geht um die heiß diskutierte Frage, wie Christen in einer pluralistischen Gesellschaft leben können und sollen.

Für alle Interessierten, die gern Englisch lesen: In der Dezemberausgabe des Magazins Political Theology wurde das Buch jüngst besprochen und kommentiert. Es wird im Francke-Verlag erscheinen. Als Appetithappen werde ich immer mal wieder einen prägnanten Satz des geschätzten Autors hier posten.

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Demütigungen und die Folgen

Ich schreibe diese Sätze von Zygmunt Bauman einfach mal hin – ohne Kommentar, der konkrete Bezüge herstellt, das überlasse ich jedem selbst in der Erwartung, dass es nicht allzu schwer fallen dürfte:

Menschen fühlen sich gedemütigt, wenn ‚ihnen brutal gezeigt wird, durch Worte, Taten oder Ereignisse, dass sie nicht sein können, wofür sie sich halten… Demütigung ist die Erfahrung, zu Unrecht, grundlos und gegen den eigenen Willen niedergedrückt, niedergehalten, zurückgehalten oder hinausgedrängt zu werden.‘ Dieses Gefühl erzeugt Groll.

… Die Schmach der Demütigung erzeugt Selbstverachtung und Selbsthass, die uns gewöhnlich überwältigen, wenn uns klar wird, wie schwach, ja unfähig wird sind, an der Identität unserer Wahl festzuhalten, an unserem Platz in der Gemeinschaft, die wir schätzen und die uns etwas bedeutet, und an der Art zu leben, die wir uns wünschen und die wir möglichst lange behalten wollen.

… Die Kettenreaktion führt von Ungewissheit über Ohnmachtsgefühle, Scham und Demütigung zum Ekel, Widerwillen und Hass gegen sich selbst und endet daher in der Suche nach einem Schuldigen ‚da draußen, in der Welt‘; nach diesem jemand, der noch unbekannt ist und keinen Namen hat, unsichtbar oder verkleidet ist, der sich gegen meine (unsere) Würde und Wohlergehen verschworen hat, und mich den stechenden Schmerz der Demütigung spüren lässt. Diesen jemand müssen wir dringend entdecken und ihm die Maske herunterzureissen, denn wir brauchen ein Ziel für unsere aufgestaute Wut.

… damit diese Entladung jedoch Erfolg haben kann, muss die ganze Operation alle Spuren persönlicher Rache sorgfältig verschleiern. Die enge Verbindung zwischen der Widerlichkeit und Verhasstheit des gewählten Ziels und unserer Frustration, die nach einem Ventil sucht, muss geheim gehalten werden. Wie auch immer der Hass zustande kam, wir ziehen es vor, sein Vorhandensein uns selbst und anderen um uns her dadurch zu erklären, dass wir ja die guten und edlen Dinge verteidigen, die sie – jene bösartigen und verachtenswerten Leute – herabwürdigen und hintertreiben;

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Wer bin ich schon?

Der moderne Mensch hat eine ganz neue Form der Scham entwickelt, stellte der aus Breslau stammende Philosoph Günther Anders (1902-1992) im März 1942 in Kalifornien fest. Er nannte sie „prometheische Scham“ in Anspielung auf die griechische Sage von Prometheus, der den Göttern das Feuer klaute und es den Menschen gab, die seither feste zündeln. Der erste Technologietransfer der Weltgeschichte, wenn man so will.

Prometheus wird zum Urbild des modernen Menschen, der sich aus religiöser Bevormundung (der Furcht vor und der Abhängigkeit von den Göttern) befreit und die Elemente der Welt wie die Risiken des Lebens durch technischen und zivilisatorischen Fortschritt bändigt. Den Antrieb dazu nennt Anders prometheischen Trotz und Stolz:

Prometheischer Trotz besteht in der Weigerung, irgend etwas, sogar sich selbst, Anderen zu schulden; prometheischer Stolz darin, alles, sogar sich selbst, ausschließlich sich selbst zu verdanken.

Aber im Augenblick des Sieges verwandelt sich dieser in eine Niederlage:

Prometheus hat gewissermaßen zu triumphal gesiegt, so triumphal, daß er nun, konfrontiert mit seinem eigenen Werke, den Stolz, der ihm noch im vorigen Jahrhundert so selbstverständlich gewesen war, abzutun beginnt, um ihn durch das Gefühl eigener Minderwertigkeitund Jämmerlichkeit zu ersetzen. „Wer bin ich schon?’ fragt der Prometheus von heute, der Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks, „wer bin ich schon?“

Angesichts einer unübersehbaren Flut von Konsumgütern sind wir ständig damit konfrontiert, was wir alles nicht haben, und angesichts immer perfekterer und leistungsfähiger Geräte steht uns permanent vor Augen, was wir alles nicht so gut können. Schöpfer und Geschöpf tauschen die Rollen, nun wird das Geschöpf (die Maschine) zum Maß ihres Schöpfers (des Menschen). Die Überlegenheit seiner Fabrikate (und die ist im digitalen Zeitalter sicher nicht geringer geworden) erlebt der Mensch als beschämend. Die Scham aber verbirgt er vor sich und anderen.

Etwas Folgenschweres passiert: „Der Mensch desertiert ins Lager seiner Geräte“. Während wir Menschen uns, was die „Hardware“ angeht, in den letzten Jahrhunderten nicht grundlegend verändert haben und unsere Leistungsfähigkeit mit dem Alter wieder abnimmt, werden unsere Geräte immer noch mächtiger.

Die Reaktion des Menschen besteht im „human engineering“, sagt Anders, also in der ständigen Selbstoptimierung. Und die Entwicklung der letzten 70 Jahre hat ihm Recht gegeben. Sah anders noch den Gebrauch von Make-up als Schritt in diese Richtung, so sind heute den Manipulationen unseres körperlichen Erscheinungsbildes kaum noch Grenzen gesetzt und Schönheitsideale haben sich ins Aberwitzige gesteigert. Täglich werden wir bombardiert mit den geschönten Bildern und Geschichten über die (Erfolg-)Reichen und Schönen dieser Welt. Der Vergleich kann nur zu unseren Ungunsten ausfallen, die Frage „wer bin ich schon“ unter den Bedingungen unserer Gesellschaft nur in die Scham führen. Wir schämen uns unserer Leiblichkeit und Kreatürlichkeit, unseres Gewordenseins, weil die gemachten Dinge so viel vollkommener erscheinen, wie Anders nun mit theologischen Verweisen ausführt:

So wenig je von einer Religion die Tatsache, daß der Mensch kein Gott ist, sondern eben nur eine Kreatur, als Freibrief moralischer Indolenz anerkannt worden wäre, so wenig würde heute von der Industriereligion und von deren Anhängern die Tatsache, daß er kein Produkt ist, sondern eben — wiederum — nur eine Kreatur, als Ausrede für faules Beharren in seiner geschöpflichen Unzulänglichkeit akzeptiert werden. Den Versuch, seine Ding-Frömmigkeit zu beweisen, den Versuch einer „imitatio instrumentorum“, den Versuch einer Selbstreform muß er schon unternehmen; mindestens den Minimumversuch, sich so weit zu „bessern“, daß er die versuchte imitatio instrumentorum, die er nun einmal, auf Grund seiner „Erbsünde“: der Geburt, nolens volens treibt, auf das denkbar geringste Maß reduziere.

Heute im Gottesdienst haben wir aus Genesis 1 gelesen. Wahrscheinlich kann man das nicht oft genug tun: Während die babylonischen Götter den Menschen als Arbeitstier und „Roboter“ (das heißt ja so viel wie „Zwangsarbeiter“) schaffen, erklärt ihn der Gott Israels zu seinem Ebenbild. Als endliches und unvollkommenes Geschöpf zu leben, darin liegt die besondere Würde, die auch kein frommer Optimierungswahn vergessen darf. Auf die Frage „wer bin ich schon?“ kann in Wahrheit nur Gott antworten. Und er hat das getan, indem er einer von uns wurde und uns als Bruder Freiheit von prometheischem Stolz und Trotz anbietet.

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