„Kirche“ als Bewusstseinsstörung

Christian Lehnert meditiert in seinen hinreißenden Korinthischen Brocken unter anderem über den Begriff der „Ekklesia“ bei Paulus. Er beginnt mit zwei Bildern: Dem Ort, wo das im Krieg zerstörte Haus seines Vaters stand, und dem Abdruck, den vermutlich ein Holzkreuz auf einer Stuckplatte im römischen Herculaneum hinterließ, als der Vesuv ausbrach im Jahr 79. „Ekklesia“ als Spur eines Ereignisses und Ort der Erwartung. Abdruck und Gegenwart des bis zu seiner Wiederkehr abwesenden Christus.

Großartig finde ich, wie Lehnert die Eigenart und Einzigartigkeit dieses Phänomens festhält ohne dabei je exklusiv zu werden, es geht um eine neue Art des In-der-Welt-Seins, die sich ganz dem Christus verdankt:

Das entstehende Christentum suchte seine Gestalt nicht in der Schaffung neuer Kulträume oder besonderer Sphären des Heiligen. Seine ersten Spuren sind weder Sakralarchitekturen noch Riten der Abgrenzung. Das frühe Christentum holte seine Kraft aus der Alltäglichkeit, aus den einfachen Gebräuchen des Essens und Trinkens, des Waschens, der Geselligkeit. Es schuf keine Sonderwelten, sondern setzte das einfache Leben in einen neuen Zusammenhang. In kleinen körperlichen Gesten sprach sich der neuen Glauben aus, im Weinkelch an den Lippen und im Brot auf der Zunge. Diese Elemente waren wie Sternchen aus der antiken Lebenswelt gebrochen und neu zusammengesetzt zu einem Mosaik.

Es hätte naheliegendere Begriffe gegeben für das junge Christentum, schreibt Lehnert, etwa der jüdische Begriff der synagoge, der schon religiös konnotiert war. Stattdessen wählt Paulus ein profanes Wort: die griechische Volksversammlung, die eben keine abgrenzbare, partikulare Interessengemeinschaft innerhalb einer Gesellschaft meint:

ekklesia ist nichts unter anderem, sie ist etwas anderes – eine plötzliche Veränderung, nichts, was man kennt. Wenn Paulus eine einzelne Gemeinde als ekklesia anspricht, schwingt immer auch mit, dass eigentlich eine Gesamtheit gemeint ist – die ganze ekklesia. Es gibt sie nur so. Wo auch immer sie geschieht, ist sie ganz, egal, wie viele es sind, die in Christus sind, denn es sind immer alle, und auch die Toten und die Kommenden gehören dazu. Es handelt sich um keine teilbare Quantität.

Mit unseren Begriffen lässt sich das kaum angemessen abbilden.:

Die deutschen Übersetzungsmöglichkeiten »Gemeinde« oder »Kirche« verstellen beide eher das Verständnis – das erste Wort, weil es partiell gedacht ist, bürgerliche Vereinskultur steht vor Augen, das andere, weil es institutionell verfestigt. Ekklesia aber ist die Beschreibung einer Unterbrechung, etwas wie eine Bewusstseinsstörung. Sie ähnelt dem Nachbild eines grellen Lichtes, wenn man geblendet die Augen schließt und Ringe zerfließen, gelb und orange, nunmehr ohne Entsprechung in der äußeren Wirklichkeit. Etwas geschah, und was bleibt?

In vielen Gesprächen über Ekklesiologie ist mir diese sprachliche Verlegenheit zwischen kumpelhafter Cliquenwirtschaft und desinteressiertem Hebelwerk begegnet, in die uns unsere deutschen Termini unablässig stürzen, und die Lehnert so treffend beschreibt. Die ekklesia ist kein Ort, keine greifbare Struktur, eher ein unwillkürlicher Zustand. Einige Seiten später drückt er es dann so aus:

Die ekklesia ist nicht faßlich, sie kennt sich selbst nicht, sie ist die Strömungsfolge eines Ereignisses, das ihr nichts zu eigen gibt, sondern sie selbst als Eigenes erst bildet. Wer in ihr mitgetrieben wird, kann das Gefälle nicht verstehen – er hat kein Ufer. Im Glauben gibt es kein Ufer. […]

Das Ereignis des Christus schafft sich eine Strömungsform in der Wirklichkeit. Der Christus wird in ihr gesungen, gebetet und gedacht. Er wird in ihr geatmet und er wird in ihr geopfert. Er wird in ihr beklagt und gepriesen. Er wird in ihr gelebt, und dieses Leben der ekklesia ist der Wahrheitsausweis des Christus. Vom Ufer aus sieht man den Strom, vielleicht Strudel, Wellenkämme oder festen Schaum, der sich an Hindernissen staut. In der Strömung wirst du erfaßt von einer Kraft, die dich haltlos forttreibt.

 

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Eine Antwort auf „„Kirche“ als Bewusstseinsstörung“

  1. Ich gebe mal meinen Kommentar zu diesem Beitrag bei facebook sinngemäß weiter:Hier macht mir der römische Katholik Mut, mir dem evangelischen Lutheraner und Ex-Freikirchler, trotz des desaströsen Zustandes von Kirche und Gemeinde in Deutschland. Mut an die ecclesia zu glauben, wie es das Apostolicum aussagt, trotz und mit den Defiziten der Nachfolger – auch den meinigen natürlich – Gott möge es verhindern, dass immer mehr in ihrem Glauben zerbrechen an der sichtbar verfassten Kirche und ihrer oft machtbesessenen Arroganz, eben auch der evangelischen Verwaltungskirche!

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