Herz über Kopf

Neulich beim Autofahren lief im Radio „Herz über Kopf“. Es geht um eine Beziehung, in der anscheinend nichts mehr funktioniert, aber in der beide Partner sich nicht von einander losreißen können: „Der Zug ist abgefahr’n, die Zeit verschenkt. Fühlt sich so richtig an, doch ist so falsch“.

So weit, so melodramatisch. Steht Verstand gegen Gefühl, verliert eben der Verstand. Oder?

Dasselbe Motiv spielt gerade eine große Rolle in der Politik. Da melden sich selbsterklärte „Stimmen der Vernunft“ zu Wort und halten den anderen, allen voran der Bundeskanzlerin, ihre Gefühlsduselei in der Flüchtlingsfrage vor, mit der sie schweren Schaden anrichtet, und der Hinweis auf das Gewissen wird dann, je nach Bedarf und Couleur, als moralischer Imperialismus, Gutmenschentum, verkappter Egoismus, und Verrat am Volk gewertet. Kopf über Herz, so möchten sich diese Kritiker verstanden wissen.

Beidesmal stimmt die Entgegensetzung aber nicht.

Jemand, der aus Angst, Gewohnheit oder Phantasielosigkeit an einer intimen Beziehung festhält, die ihm nicht gut tut, handelt durchaus rational, wenn auch in einem reduzierten und für Außenstehende befremdlichen Sinn. Und zugleich hört er meist auch nicht genug auf das Herz, das durchaus in der Lage ist, zu erkennen, wann eine Beziehung toxisch geworden ist. Er denkt und fühlt aber nicht weiter als bis zur nächsten kurzfristigen Wiederkehr des Vertrauten – Kater eingeschlossen. Bei einer endgültigen Trennung wäre man ja selbst verantwortlich für das eigene Unglück. Es stimmt also weder im Herzen noch im Kopf.

 

Wer sich für Solidarität mit Flüchtlingen einsetzt, wer das Asylrecht und die Menschenrechte für nicht verhandelbar hält, wer sich hier kategorisch in der Pflicht und unbedingt gefordert sieht, zu helfen und sich einzusetzen (praktisch wie politisch), handelt keineswegs unvernünftig. Er folgt nur nicht der berechnenden, kühl kalkulierenden und konkurrierenden Vernunft derer, die sich das Elend dieser Welt (das sie aktiv und passiv mit verschuldet haben) so weit wie möglich vom Leib halten wollen, etwa mit so realitätsverzerrenden Parolen wie: „Wir können schließlich nicht die ganze Welt retten.“

Vielmehr folgt er oder sie der empathischen Vernunft, die sich mit dem Leid anderer identifiziert, die die eigene Verantwortung und Zuständigkeit nicht nach Gusto, und mit dieser emphatischen Vernunft verbindet sich ein Rechtsverständnis, für das Grund- und Menschenrechte nicht unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Eine Vernunft, die weit genug blickt, um zu erkennen, dass jeder Verzicht auf Mitmenschlichkeit auch bei uns selbst langfristig irreparablen Schaden anrichtet.

Die berechnende Vernunft derer, die nach Zäunen, Truppen und Kontrollen rufen, die die Risiken (freilich geht es nicht ohne Risiko) grell und die Hoffnung blass zeichnet, ist aber auch in einer anderen Hinsicht der Haltung ähnlich, die in „Herz über Kopf“ anklingt: Sie hält an dem ungesunden Verhältnis fest, in dem wir Deutschen und Europäer uns gegenüber dem Rest der Welt befinden – unsere seit Generationen bestehende, dauerhafte Mitverantwortung für Armut und politisch-religiösen Extremismus in Afrika, Syrien, dem Irak oder Afghanistan – als wäre es etwas unverrückbar Schicksalhaftes, und die hätschelt die eigenen Verlustängste, indem sie die Weigerung zu Teilen, zu Verzicht und zur Anpassung des eigenen Lebensstils an veränderte globale und lokale Verhältnisse als eine besonders erhabene Form von Verantwortung verkleidet.

Der eine hat Angst, sich aus einer ungesunden Symbiose zu lösen, weil er dann irgendwie nicht mehr er selbst wäre. Auch sein Kopf versagt vor der Aufgabe, einen neuen Lebensentwurf zu erschaffen. Die anderen schüren die Panik, dass wir nicht mehr wir selbst sein könnten, wenn wir „alles Elend dieser Welt“ über unsere Grenzen „schwappen“ lassen und erwecken den irrigen Eindruck, es gäbe einen Weg zurück zum Business as Usual. Auch hier ist ein neuer Lebensentwurf unausweichlich. In der Charta der Menschenrechte steht nichts von einem Anspruch darauf, von Veränderungen verschont zu bleiben. Und in der Bibel schon gleich gar nicht.

Der Zug zurück in heile (weil vergangene) Welten „ist abgefahrn“. Je eher wir das begreifen und uns der Herausforderung an unsere denkendes Herz (um es mit Etty Hillesum zu sagen) stellen, desto eher schwindet die Angst und mit ihr die Macht derer, die sie für eigene Zwecke ausbeuten.

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