Heute morgen habe ich mein erstes original koreanisches Frühgebet miterlebt – in der Myung Sun Presbyterian Church von Pastor Kim Sam-Whan. Früh ist sehr wörtlich gemeint – vor Sonnenaufgang. Unsere Gruppe traf rechtzeitig um 6.00 Uhr zum zweiten Gottesdienst dieses Wochen(!)tages ein. Im riesigen und brandneuen Auditorium (rechts im Bild, links die „alte“ Kirche) waren die 7.500 Plätze zu gut zwei Dritteln gefüllt. Wir wurden sehr freundlich begrüßt und herzlich aufgenommen.
Das Frühgebet ist das Markenzeichen dieser Gemeinde, die 1980 gegründet wurde und seither gewaltig angewachsen ist. Was mich dann aber doch erstaunte, war, dass heute zumindest kaum gebetet wurde und außer zwei Liedern und dem Segen der Gottesdienst eigentlich aus einer langen Predigt bestand.
Inhaltlich war die Predigt insofern sehr interessant, als zwei Dinge immer wieder auftauchten: Die ständige Mahnung zum Gebet und zur Teilnahme an den Gemeindeversammlungen – besonders den fünf täglichen Frühgebeten (das erste beginnt um 4.50 Uhr, nach zwei Intensivwochen, die im Moment anstehen, ist es dann aber nur ein Termin wochentags) – sowie zu Disziplin und Treue auf der einen Seite und auf der anderen Seite das Motiv des Aufstiegs, das sich an der Entwicklung der Gemeinde (wer täglich kommt, hat das vermutlich schon tausendmal gehört), ihres Gründungspastors, aber auch an der koreanischen Gesellschaft insgesamt festmacht.
Max Weber hätte kein besseres Beispiel finden können für die Korrelation von Calvinismus und wirtschaftlichem Erfolg. Der Aufstieg Koreas zu einer Wirtschaftsmacht, der Wohlstand seiner Bürger, die Erfolge der Familien bei der Ausbildung ihrer Kinder (90% absolvieren angeblich ein Hochschulstudium, wenn der manchmal etwas unsichere Übersetzer das richtig vermittelt hat) wird als Gottes Gnade gedeutet. Und nun, wo Disziplin das alles ermöglich hat, wird weiter Disziplin gepredigt, um es nicht zu verlieren.
Ob das aufgeht, ist eine andere Frage. Plötzlich war nicht nur mir sonnenklar, warum wir gestern gehört hatten, dass sich viele Christen nach Spiritualität sehnen und deshalb den Gemeinden den Rücken kehren – wir kennen in Deutschland ja analoge Prozesse, wo die Kinder der pflichtbewussten Kriegs und Nachkriegsgeneration sich von den Werten der Eltern lösten.
Ganz am Schluss gab es noch eine unerwarteter Zugabe: Irgendwer hatte einen Knopf gedrückt und über der Bühne des Halbrundes öffnete sich die Decke und gaben neben dem Blick auf den Himmel auch ein paar moderne „Fresken“ frei, die sicher nicht europäischer Standardgeschmack sind, aber auch von vielen Gemeindegliedern bestaunt wurden – das scheint also nicht jeden Tag des Fall zu sein hier. Über kurz oder lang müssen sich auch die Gemeinden in Korea fragen, wie das Evangelium neu kontextualisiert werden kann.
Ein dicker Schuss Sendungsbewusstsein steckt in diesem landestypischen Mix auch mit drin, und das eigene kleine Museum im Gebäudekomplex erzählt und Worten und Bildern von der Aufbauleistung des Pastors und dem Wachstum der Gemeinde zu fast schon einer eigenen kleinen Konfession. Über 60 Missionare arbeiten in aller Welt, zwei davon in Deutschland, und zahlreiche Hilfs- und Bildungsprojekte werden unterstützt.
Spiritualität
Spiritualität im weitesten Sinne ist die Fähigkeit, etwas
noch nicht Existentes vorzudenken, bzw. sich davon – ein möglichst umfassendes
– „Bild zu machen“. Religion ist die Negation davon. Sie raubt dem
unbewussten, noch nicht aus dem geistigen Tod auferstandenen Kulturmenschen den
Mut, das Unvermeidliche zu sehen, und nimmt ihm die Phantasie, das Wesentliche
zu erkennen.
Die Religion führt zu den beiden Risiken der Prophezeiung,
dem Mangel an Mut und dem Mangel an Phantasie, die Arthur C. Clarke in
„Profile der Zukunft“ wie folgt beschrieb:
„Mangelnder Mut scheint der verbreitetere Fall zu sein. Er tritt ein, wenn
der angebliche Prophet, sogar wenn ihm alle relevanten Fakten vorliegen, nicht
sehen will, dass sie unweigerlich nur eine einzige Schlussfolgerung
zulassen.“
„Die zweite Art des prophetischen Versagens ist weniger tadelnswert und
wesentlich interessanter. Sie tritt auf, wenn alle verfügbaren Fakten richtig
eingeschätzt und geordnet werden – wenn aber die wirklich wesentlichen Fakten
noch nicht entdeckt sind und die Möglichkeit ihrer Existenz ausgeschlossen
wird.“
Die Religion (Rückbindung auf künstliche Archetypen) war für alle Kulturvölker
solange erforderlich, wie das Wissen noch nicht zur Verfügung stand, um die
makroökonomische Grundordnung, deren Qualität den Grad der Zivilisiertheit
bestimmt, so einzustellen, dass es automatisch das Beste für alle bedeutet,
wenn jeder Einzelne nur das Beste für sich anstrebt (konstruktive Verbindung
von Individual- und Sozialprinzip):
http://www.deweles.de/intro.html
@Stefan Wehmeier: Ich würde weder das eine noch das andere so definieren und sehe daher keinen prinzipiellen Gegensatz. Religion hat immer einen institutionellen Aspekt, und der bringt die Gefahr von Erstarrungen und Veräußerlichenden mit sich. Spiritualität kann umgekehrt in überzogenen Individualismus führen und zur totalen Beliebigkeit, also zur Flucht vor der Realität in eine Traumwelt – wenn mein Bild von etwas nicht Existentem mit keiner Wirklichkeit um mich her mehr sinnvoll korrespondiert kann es diese auch nicht mehr befruchten.
Hallo Peter!
Ich will ja weder dir, noch dem koreanischem Pastor zu nahe treten, aber ihr beide seht irgend wie „unharmonisch“ aus. Durch deine lockere Kleidung, wirkt der Bruder aus Korea wie eine Wachsfigur aus (oder ein lebensgroßer Werbetaufsteller).
…Oh-man! Hereingefallen! Das ist sogar ein „Pappsoldat“ oder…?
Gruß
Olaf
Ja. Pappe 🙂
Hallo Peter,
Du siehst fast wie ein „Glueckler Pastor“, wie du im letzten Beitrag erwähnt hast.
Gruss
hongyan
🙂