Der „biblische Befund“

Immer wieder begegnet mir in theologischen Diskussionen der Ausdruck „biblischer Befund“ und je länger, je mehr wächst mein Unbehagen. Freilich könnte damit nur gemeint sein: Wir schauen mal, was für Aussagen sich zu diesem oder jenem Thema in der Bibel finden, und dann sucht man nach bestimmten Begriffen oder Themen und diskutiert sie fröhlich.

Doch der Ausdruck „Befund“ klingt so technisch, als ob der Zahnarzt dem Patienten zur Kontrolle in den Mund schaut oder der Hausarzt ein Blutbild auswertet. Mit einem Befund lassen sich bestimmte Feststellungen treffen. Und das ist durchaus auch meistens die Absicht derer, die biblische Befunde erheben: Feststellungen zu treffen, die den Status von Fakten haben. Denn Fakten lassen sich nicht bestreiten.

Nun haben wir es in der Bibel nicht mit Zähnen und Bakterien zu tun, sondern mit Texten, die eine lange Geschichte hatten, in deren Verlauf sie irgendwann aufgeschrieben, aufeinander bezogen, gesammelt, später immer wieder gelesen und ausgelegt wurden. Sie lassen sich nicht in derselben Klarheit und Eindeutigkeit „lesen“ wie ärztliche „Befunde“ (und selbst die führen ja keineswegs immer zu klaren und eindeutigen Handlungsanweisungen).

Meine Befürchtung ist, dass jemand, der vom „biblischen Befund“ redet, die Bibel und unser Verhältnis zu ihr nicht als lebendigen Prozess versteht, sondern sie als eine Sammlung je für sich existierender, atomisierter und zeitloser Wahrheiten betrachtet, die sich im Baukastensystemen per Stichwortsuche kombinieren lassen und auf deren Fundament man dann dergestalt unverrückbar Position bezieht, dass man allen anderen objektiv bescheinigt, die reine biblische Lehre verlassen zu haben. Solche Konkordanzkrämereien behandeln die Schrift wie eine Rechtssammlung, ihre Vertreter lesen Bibelverse wie Paragraphen und werfen ständig mit „Belegstellen“ um sich.

Die Frage nach dem „Befund“ lenkt die Aufmerksamkeit unweigerlich auf den Buchstaben der Schrift. Der ist keineswegs unbedeutend, aber wer nichts als den Buchstaben gelten lässt, verpasst am Ende den Geist und den Sinn zwischen den einzelnen Buchstaben und Wörtern. In den muss man sich aber oft genug geduldig vertiefen oder schrittweise hineinnehmen lassen. Und jede neue Erkenntnis wirft umgehend neue Fragen auf.

Wir haben ja in unseren politischen Diskussionen durchaus ein Gespür dafür, dass Gerechtigkeit und Gesetzeskonformität nicht immer dasselbe sind (auch wenn wir das womöglich an recht unterschiedlichen Stellen empört einklagen). Mit dem „biblischen Befund“ ist es noch ein wenig komplizierter, weil dieses ebenso sperrige wie faszinierende Buch so vielfältig ist.

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6 Antworten auf „Der „biblische Befund““

  1. Lieber Peter, worauf zielt dein Artikel? Was möchtest du erreichen, wenn du so wetterst gegen den „biblischen Befund“? Wie um alles in der Welt kommst du dazu, unser Verhältnis zur Bibel als einen lebendigen Prozess zu bezeichnen? Ist unsere Deutung der Schrift also nur noch ein subjektives Erleben ohne, dass wir zurückgreifen auf zeitlose, unverrückbare Wahrheiten? Wenn dem so ist, können wir die Schrift gleich beiseite lassen, denn wenn wir in ihr nicht mehr absolute Wahrheiten finden, hat sie in jegliche Autorität verloren. Gott beansprucht nicht, dass wir seine Wahrheiten, zwischen den Zeilen suchen, sondern er hat sie klar formuliert, und der Geist und der Sinn treten uns entgegen in den einzelnen Buchstaben und Worten.

    Meine Frage ist: Wenn du den Buchstaben der Schrift zugunsten des „Sinnes zwischen den einzelnen Buchstaben und Wörtern“ herabstufst, besteht dann nicht dann die Gefahr, dass du dich am Ende nur noch selbst reden hörst?

    1. @Danny: Ich mag es immer, wenn jemand, der mich gar nicht persönlich kennt, mich „Lieber Peter“ nennt, nur um mir dann die Leviten („wie um alles in der Welt“) zu lesen. Das relativiert die kumpelhafte Anrede dann umgehend, sie wirkt dann auf mich eher herablassend. Klar, mein Problem. 🙂
      Sich selber reden hören kann man immer, auch im Buchstaben der Schrift, Beispiele für solche geschlossenen Denkstrukturen gibt es zuhauf, und zwar erlebe ich das überdurchschnittlich oft bei Menschen mit einem solchen fundamentalistischen Bibelverständnis. Erhellend ist dabei die Angst vor der Subjektivität, zu der als einzige Alternative die totale Objektivierung der Schrift zu Verfügung steht. Und wer die ablehnt, löst eben alles auf.
      Tatsächlich leugnet aber gerade der Schritt der Objektivierung, dass jedes Lesen jedes Textes einen Akt der Interpretation enthält. Sie ist kein liberales Postulat, sondern schlicht unvermeidlich. Wer sich darüber keine Rechenschaft gibt, sondern seine Lesart als Gottes Stimme ausgibt uns sich im Besitz „absoluter Wahrheiten“ wähnt, der bringt sich selbst in eine bedenkliche Machtposition. Für andere ist das meist unangenehm. Ob Gott seine Freude daran hat, würde ich auch bezweifeln.

    2. hallo danny,
      zu deinem kommentar fällt mir 2. korinther 3,6 ein; das ist auch eine biblische wahrheit, oder?

  2. Wirklich beeindruckend (zirkel-)schlüssig!

    Prämisse 1:
    Der Sinn biblischer Texte erschließt sich weniger in, als vielmehr zwischen den Zeilen.

    Prämisse 2:
    Dort ist viel Platz für „geduldige Vertiefung und schrittweises Mithineinnehmen“ .

    Konklusion:
    Ein „objektiver Befund“ ist unmöglich (und unnötig), weil diese Prozesse kontextuell erlebt werden, und somit jedes Bibelverständnis kulturell und individuell gefärbt ist.

    1. Nicht mehr Zirkel als jeder hermeneutische Zirkel, aber wenigstens einer, der offen bleibt und sich nicht in der Geschlossenheit be-fundamentalistischer „Eindeutigkeit“ festfährt.
      Aber zur Klarstellung, und da sieht man auch gleich, wie subjektiv diese Interpretation meiner Aussagen schon wieder war: Ich habe nicht „zwischen den Zeilen“ geschrieben (so als ließe sich da einfach alles hineinlesen), sondern zwischen den Wörtern und Buchstaben. Ein Text ist ein Geflecht oder Gewebe, das Entscheidende dabei, ist wie die Bezüge zwischen den Worten/Sätzen und zum Kontext aussehen – das „Dazwischen“ also. Und man hat es da immer wieder mit Mehrdeutigkeiten zu tun.

  3. Hier noch ein Kommentar von Olaf Franke via Facebook:
    „Ich finde zwar den Begriff „biblischer Befund“ nicht so problematisch und verwende ihn im quantitativen Sinne oder einer Bestandsaufnahme, die aber noch der Gewichtung und Auslegung bedarf. Ähnlich wie beim Arzt. Ohne Therapie (die eine Interpretation des Befundes ist, ist der Befund an sich sinnlos.) Mein Schlagwort als Beitrag für diese Diskussion, wie man eine biblische Wahrheit erschließt: Text und Kontext gehören zusammen und bedingen einander. Beispiel: Es reicht nicht, alle biblischen Texte zu einem Begriff wie z.B. „Fleische“ zu addieren und daraus eine Theologie zu stricken, sondern die einzelnen Stellen (die Einzel“befunde“) müssen in ihrem jeweiligen Textzusammenhang erläutert und verstanden werden.“

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