Ein letzter Gedanke zum Thema Reich Gottes (bzw. der Gottesherrschaft). Es ist kein Projekt und es lässt sich nicht ohne weiteres lokalisieren, objektivieren oder definieren. Das hat mit dem Beziehungs- und dem Ereignis- oder Widerfahrnischarakter zu tun, der Gottes Handeln ausmacht. Wenn es in die Gegenwart einbricht, dann als Vorwegnahme der Zukunft Gottes. Es weckt eine bleibende Sehnsucht nach dieser Zukunft, es schafft Erwartung und Hoffnung, es lässt Gottes Möglichkeiten erkennen. Kurz: Es setzt etwas in Bewegung auf diese Zukunft hin.
Mir sind dafür vier Beschreibungen eingefallen:
Von der Trennung zur Verbindung
Wo immer Gottes Reich anbricht, da schafft es Verbindungen. Jesus sammelt und beruft Menschen. Andere Bindungen werden dafür gelockert oder gar gelöst, aber unter dem Strich bleibt ein Zuwachs an Beziehung, kein Schwund. Das macht es so problematisch, wenn ganze Kirchen sich in die gesellschaftliche oder ökumenische Isolation begeben und wenn einzelne Menschen sich aus Angst oder Verachtung der „Welt“ gegenüber aus dieser zurückziehen. Gottes Reich schafft Offenheit für neue Verbindungen, freilich ohne dabei bei einer Beliebigkeit zu landen. Denn es geht um generative Beziehungen, nicht um autoritäre und parasitäre Verhältnisse. Oder anders gesagt: Es geht um Liebe und Fürsorge, nicht um Ausbeutung und Unterdrückung.
Von der Ohnmacht zum Mutanfall
Wo immer Gottes Reich sich ausbreitet, da werden Menschen von Ohnmacht befreit. Sie entdecken sich nicht nur als Empfänger von Gottes Wohltaten und denen anderer Menschen, sondern sie erleben, dass auch ihr eigener Beitrag zählt und wirkt. Oft gehören sie ja nicht zur überschaubaren Gruppe der mover and shaker. Alles ist möglich, wenn jemand glaubt sagt Jesus – nichts ist mehr alternativlos. Selbst in aussichtslosen äußeren Situationen wie einem Gefängnis oder einer Diktatur ist da noch das Gebet, das Kraft entfaltet. Und zwar nicht nur auf die betende Person selbst, sondern (zumindest nach biblischen Aussagen und Vorstellungen) darüber hinaus auf Gott und die Außenwelt. Sophie Scholl, die durch ihren Mut wahrlich viel bewegt hat, schrieb am 15. Juli 1942:
„O, ich bin ohnmächtig, nimm Dich meiner an und tue mir nach Deinem guten Willen, ich bitte Dich, ich bitte Dich. Dir in die Hand will ich meine Gedanken legen an meinen Freund, diesen kleinen Strahl der Sorge und der Wärme, diese winzige Kraft, verfüge Du mit mir nach Deinem besten, denn Du willst es, dass wir bitten und hast uns auch im Gebet für unseren Bruder verantwortlich gemacht. So denke ich an alle anderen. Amen.“
Von der Konkurrenz zur Kooperation
Die dritte Bewegung folgt aus den ersten beiden. Wenn neue Verbindungen und neue Optionen entstehen, dann hören all die Nullsummenspiele auf, bei denen der Gewinn des einen zum Verlust des anderen führt. Sie waren schon immer ein Irrtum. Aus dem Gegeneinander kann ein Miteinander werden: sozial, wirtschaftlich, kulturell und politisch. Bei den ersten Christen hat das funktioniert. Sie haben die destruktiven Gegensätze zwischen Ethnien, Geschlechtern und Klassen (vgl. Gal 3,28) in ein Miteinander verwandelt, in dem keiner ohne den anderen sein wollte und sollte. Und wenn die Schätze der Völker der Erde in der Offenbarung des Johannes ins neue Jerusalem gebracht werden, dann ja gerade nicht von einem Siegervolk, das alle anderen unterworfen hat.
Vom Mangel zur Fülle
Jesus hielt sich viel unter der armen Landbevölkerung auf. Immer wieder erzählen Geschichten von plötzlichen Erfahrungen der Fülle und des Überflusses. Bei der Hochzeit zu Kana, der Speisung der Fünftausend, der extravaganten Salbung. Immer wieder klingt in seiner Verkündigung des Reiches Gottes die Erwartung und das Vertrauen an, dass gieriges Hamstern nicht reicher und glücklicher und großzügiges Teilen nicht ärmer und elender macht. Aus einem winzigen Senfkorn wächst ein riesiger Baum. Dahinter steht die Vorstellung von Gottes unerschöpflicher Großzügigkeit. Sie macht es möglich, einander die Schulden zu erlassen. Anders gesagt: Sie ist die Grundlage menschlicher Freiheit.
Gewiss lassen sich noch weitere Bewegungen bestimmen, die Gottes Reich charakterisieren. Für mich sind das Sehhilfen in Momenten, wo es mir gerade schwer fällt, Gott am Werk zu sehen. Und Entscheidungshilfen, wenn ich mich frage, wo hinein ich meine begrenzte Kraft investieren soll. Und wenn wir beten „Dein Reich komme“, dann stelle ich mir solche Veränderungen und Bewegungen vor.