Zwei Gespräche aus der vergangenen Woche haben mich beschäftigt. In beiden ging es darum, wie und unter welchen Prämissen wir die Bibel lesen. Die ersten Christen waren eine Minderheit, die immer wieder bedroht und verfolgt wurde. In Europa wurde die Kirche mächtig, regierte gut 1.000 Jahre mit und hat heute immer noch beträchtlichen Einfluss (trotz aller Klagen über Mitgliederschwund, „Werteverfall“ oder dass wir „kein christliches Land mehr“ sind).
Folglich wurde die Bibel eher staatstragend aufgefasst und ausgelegt. Diese Wirkungsgeschichte hat sich tief in die westliche Mentalität eingeprägt, auch bei Menschen, die sich gar nicht als Christen verstehen. Folglich ist aus Jesus ein apolitischer Messias geworden, der keine alternative Gesellschaft bringt, sondern dessen Reich etwas komplett jenseitiges ist, und dessen Einlassbedingungen der rechte Glaube und ein moralisches Leben sind. Und das Kreuz stellt staatliche Ordnungen samt der Gewalt, die zu ihrem Erhalt angeblich „nötig“ ist, keineswegs in Frage, sondern es legitimiert sie noch: Auf Feldzeichen, Flaggen und Orden, um nur mal die sichtbaren Formen zu nennen, oder auf Kruzifixen im Klassenzimmer. Für Paulus hingegen war noch völlig klar, dass die Mächtigen der Welt für den Tod Jesu verantwortlich waren und dass Gott ihr Urteil gegen sie selbst wendet. In der alten Kirche durften Christen daher nicht in der Armee sein, weil das die Handlangertruppe war, die Jesus getötet hatte und immer noch Menschen tötete, um das System zu erhalten.
Eine junge Frau merkte bei anderer Gelegenheit an, es gebe in der Bibel doch viele Aufforderungen, sich den jeweils Regierenden unterzuordnen. Freilich wird vom Handeln der „Großen“ berichtet, oft aber ohne jede positive Wertung. Ich würde das daher auch nicht als Zustimmung betrachten. Mir fielen aber aus dem AT auf Anhieb deutlich mehr Passagen ein, in denen die Mächtigen kritisiert und getadelt werden. Und im Neuen Testament steht jede Form von „Autorität“ in der Kirche (und überhaupt) ohnehin unter dem Vorbehalt aus Markus 10,45, dass sie herrschaftsfrei zu sein hat, dass Titel wie „Vater“ und „Rabbi“ tabu sind (Matthäus 23) und dass äußere Unterschiede keine Rangordnung begründen (Galater 3,28). Stellt man das in Rechnung, dann relativiert sich das Wenige, was etwa Paulus noch über „Unterordnung“ schreibt, schon recht signifikant.
Wenn das so ist, meinte meine Gesprächspartnerin am Ende unseres Gesprächs, dann wirft das ja einige Fragen auf im Blick auf heutige Gemeindearbeit.
Womit sie zweifellos Recht hat.