An den Engel der Gemeinde von Zabo

Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, beginnt mit sieben „Sendschreiben“ an Gemeinden in Kleinasien. In diesen Briefen spricht der Seher Johannes (beziehungsweise Gottes Geist durch ihn) ganz individuell zum „Engel der Gemeinde“. 

Der Engel ist weder eine Pfarrperson noch der Kirchenvorstand. Er repräsentiert die Gemeinde vor Gott. In seiner „Persönlichkeit“ drückt sich der geistliche Zustand der Gemeinde aus. Man kann auch sagen: der Engel verkörpert ihre Spiritualität, ihre Innenseite, die Gott zugewandt ist.

Das Lob und die Mahnungen an die Engel der Gemeinden von damals ist nicht nicht ein zu eins auf heutige Verhältnisse anwendbar. Ich bin – leider! / zum Glück? – kein großer Prophet, aber wir sind ja alle berufen, kleine Prophet:innen zu sein. Also ist hier mein Brief an den Engel der Gemeinde von Zabo aus dem Gottesdienst, in dem ich gestern verabschiedet wurde. Vielleicht hat ja auch Gottes Geist ein paar Sätze oder Gedanken hineingeschmuggelt…

Lieber Engel der Gemeinde von Zabo,

als Gemeindeengel beherbergst du ja ein bisschen was von allen Gefühlen. Aber dieser Abschied heute macht uns beide betrübt. Auch wenn der Kopf sagt, dass er nötig ist – dass er aus guten Gründen erfolgt – macht es das ja nicht weniger traurig, dass eine Zeit zu Ende geht, in der vieles gut war und so einiges gut wurde.

Wer traurig ist, braucht Trost. Trost nimmt die Trauer nicht weg, aber er hüllt sie ein und macht sie erträglicher. Er hilft gegen das Leiden am Leiden. Viele können mit ihrer Trauer nicht umgehen. Und wandeln sie sie in Ärger um, weil sie keinen Trost finden – ihn freilich auch nicht suchen. Es gibt gerade sehr viele sehr ärgerliche Menschen. Und manchmal erliegen auch Du und ich dieser Versuchung, unsere aufgestaute Traurigkeit als Wut herauszulassen. Wenn ich wütend bin, fühle ich mich weniger ohnmächtig. Ich habe freilich auch weniger Hemmungen, ordentlich auszuteilen und die „offene Feldschlacht“ auszurufen.

Lieber Engel, bring deine Trauer vor Gott. Immer und immer wieder. Nicht nur die über unseren Abschied, die ist bald überstanden. Sondern auch die über alles andere, was gerade aufhört: Die siebzig fetten Jahre Nachkriegswelt, in der wir groß geworden sind, die mit jedem Jahr ein bisschen sicherer und bequemer zu werden schien. In der Liebeskummer die größte vorstellbare Lebenskrise war und wo man glauben konnte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Menschenrechte und Wohlstand überall angekommen sind. Der große Philosoph Friedrich Merz wird ja nicht müde, daran zu erinnern, dass die Welt nicht morgen untergeht. Was er freilich verschweigt: Diese Welt ist am Ende, sie löst sich gerade vor unseren Augen auf. Denn auch 12.000 Jahre Holozän mit stabilen klimatischen Verhältnissen auf der Erde sind Geschichte. Die Welt nach den Kippunkten wird anders aussehen.

Alle spüren den Schmerz über den Verlust der vertrauten, heimatlichen Umgebung – die „Solastalgie“ –, aber längst nicht alle wissen so damit umzugehen, dass sie nicht kälter, härter, bitterer und bösartiger werden darüber. Es ist ein latente Trauer, und jede neue oder akute Verlusterfahrung bringt sie wieder zum Schwingen und wird von ihr verstärkt.

Und mit dieser Nachkriegswelt schwindet die verfasste Kirche. Die sich so gern mitten im Dorf sah, von allen geschätzt. Jetzt wird sie von fast allen bemitleidet, weil die Leute ihr davonlaufen, weil ihr das Geld ausgeht, weil der Nachwuchs fehlt. Jetzt erschrickt sie über das, was sie alles noch vertuschen und unter dem Deckel halten konnte, so lange die Kraft dazu da war. Bei dem (echten) Philosophen Jean-Pierre Wils habe ich gelernt: „Das … Leiden am Leiden setzt dort ein, wo etwas Unwiederbringliches verlorengegangen ist und wir gewahren, dass dies so ist.“ Eine Weile kann man sich noch drüber hinwegtäuschen, aber irgendwann ist Schluss. Und auch hier immer wieder: Wut, die nach Sündenböcken sucht, an denen sie sich abreagieren kann. Die da oben, die Abtrünnigen, die mit anderen Vorstellungen und Vorlieben, die Alten, die Jungen, der Papst. 

Lieber Engel, meide den Weg der Wut. Als ich vor gut sechs Jahre kam, da warst Du traurig, verletzt und manchmal auch wütend. Nicht ohne Grund! Ich konnte und kann das alles gut verstehen. Vieles ist verheilt, manches inzwischen fast vergessen. Nur da, wo der Zorn weiter schwelt, da zehrt er an den Kräften, da treibt er Menschen auseinander, rückt andere in ein schlechtes Licht, schürt Misstrauen und Feindschaft. Schon der gute alte Paulus riet den Ephesern: Lasst die Sonne nicht untergehen über eurem Zorn. Engel können, so weit ich weiß, keine Magengeschwüre bekommen. Aber die Wut im Bauch fühlt sich nur vermeintlich stark an. In Wahrheit macht sie dich schwach. Und hässlich.

Lieber Engel, die schlechte Nachricht ist: Du wirst viel Trost brauchen. Die gute lautet: Er ist auch reichlich vorhanden. Wo wirst du den Trost finden? Ich meine, du musst dir keine Sorgen machen. Es ist alles da, was du brauchst. Du kennst es schon. Du kannst es – das weiß ich. Drei Wege zum Trost möchte ich dir heute ganz besonders ans Herz legen: 

Es ist ja – erstens – ein offenes Geheimnis, dass Engel musikalisch sind. Bei Jesaja im Tempel singen sie „Heilig, heilig, heilig“ und bei den Hirten auf dem Feld „Ehre sei Gott in der Höhe“. Aber wie bei den Menschen auch: Die einen singen, weil es von ihnen erwartet wird, und die anderen, weil sie nicht anders können. Du bist so ein intrinsischer Sänger. Und das hat richtig auf mich abgefärbt: Mit einer Gitarre bin ich gekommen, mit vier gehe ich nun nach Johannis. Hier in den Gottesdiensten (und heute noch einmal) habe ich mit dir gesungen und manchmal auch für dich. Mag sein, dass andere noch lauter oder exakter singen als du, aber im Himmel werden deine Gospels, Choräle und Kinderlieder immer gern gehört. Weil es Gott freut, andere erbaut und dir selbst gut tut, singe fröhlich, singe traurig, singe schräg – aber höre nie auf zu singen und zu musizieren.  

Zweitens: Du magst es grün, lieber Engel. Sogar die Eisbären sind bekanntlich grün in Zabo. Es gab die Waldgottesdienste, sie wurden im Laufe der Jahre zur Wild Church. Das war nicht einfach ein englisches Wort für dieselbe Sache. Denn Gottes Schöpfung wurde dabei von der hübschen Kulisse zum Gegenüber, dem wir ganz bewusst lauschen. Die Konfirmand:innen haben im Oktober Bäume gepflanzt mit „unserem“ Förster Achim Ulrich und seinen Kollegen vom Walderlebniszentrum. In 150 Jahren sind einige von ihnen dann groß, spenden Schatten und verbessern die Luft. Das ist mehr als nur irgendein trendiges Projekt. Es tut der Seele gut, im Grünen zu sein. Der Kontakt zu den vielen Mitgeschöpfen, die da flattern, krabbeln, sich im Wind wiegen oder an den Boden schmiegen, ist heilsam und beruhigt. Es gibt den Lauschplatz, der hat 24/7 geöffnet. Jede:r kann Kummer mitbringen und dort bedenkenlos abladen. Manchmal wird man dabei von Spaziergängerinnen und Hundebesitzern ein bisschen beäugt, aber es wirkt tatsächlich. Lass Dich trösten von den Engeln des Waldes und schließe Freundschaft mit ihnen. Vielleicht führen sie dich zum Baum des Lebens. 

Freundschaft – das bringt mich zum dritten Weg, Trost zu finden. Du kannst ihn dir nicht selber spenden. Ein Gegenüber muss da sein, das dich und deinen Kummer aushält und dir Trost schenkt. Auch das passt zur dir: Du bist ja ein ausgesprochen geselliger Engel. Ob beim Cappuccino oder beim Haggis, ob beim Seniorenkaffee im kleinen Saal oder beim Pfingstrock auf dem Reitenspießplatz, beim Krimi-Dinner in der Arche oder beim Gemeindefest mit veganen Würstchen (nebenbei – brauchen wir noch eine Schweigeminute für die von dieser Entscheidung Traumatisierten?), beim Mitarbeitenden-Dank oder heute abend: Sorge dafür, lieber Engel, dass deine Menschen essen, trinken und fröhlich sind. Dass sie von sich erzählen und Anteil nehmen am Leben der anderen. Auch, wenn das in einem Dorf wie Zabo immer hart an der Grenze zum Tratsch liegt (zwei Wochen nachdem ich meinen Abschied bekannt gegeben hatte, wurde schon erzählt, ich sei „entlassen worden“). Aber es geht auch anders, wie Paulus den Philippern zeigt:

Ich fasse zusammen, Ihr Lieben: Am besten füllt ihr eure Gedanken, indem ihr über all das nachsinnt, was wahr ist, großmütig, ehrenwert, authentisch, faszinierend, gütig – das Beste, nicht das Schlimmste; das Schöne, nicht das Hässliche; ein Anlass zum Loben und nicht zum Fluchen. … Und Gott, der dafür sorgt, dass alles zusammenwirkt, wird euch mit hineinnehmen in seine großartigsten Harmonien (Philipper 4,8-9).

Wie es aussehen kann, wenn so etwas gelingt, hat Tanja Blixen in „Babettes Fest“ beschrieben. Eine junge Revolutionärin aus Paris flüchtet Mitte des 19. Jahrhunderts in ein abgelegenes norwegisches Dort. Dort trifft die ehemalige Köchin des Café Anglais auf eine fromme, ergraute und etwas verknöcherte Gemeinde. Nach Jahren bei Brotsuppe und Stockfisch gewinnt Babette in der Lotterie und richtet für die ganze Gemeinde ein festliches, unfassbar opulentes Diner aus. Mit jedem Gang und jedem Glas Wein werden die Alten ein bisschen jünger und ausgelassener. Das Herz geht ihnen auf. Es gibt Liebesgeständnisse und verzeihende Worte. Der Himmel ist für einen Abend nach Berlevaag gekommen. Schon etwas beschwipst, aber ganz beseelt erhebt sich der General Löwenhjelm und sagt: „Gnade und Wahrheit sind einander begegnet, Rechtschaffenheit und Himmelssegen sollen vereint sein in einem Kuss.“

Gnade und Wahrheit sind durch Jesus Christus in die Welt gekommen. Und bei solchen Gelegenheiten sitzt er – noch unsichtbar – mit am Tisch. 

Du siehst, lieber Engel, gegen die Traurigkeit ist ein Kraut gewachsen. Du kannst sie kommen und da sein lassen, denn sie wird dich nicht überwältigen. Gott hat dir alles dazu gegeben, um tapfer und aufrecht durch schöne wie schwere Zeiten zu gehen. Also freue dich an diesen Schätzen, du musikalischer, naturverbundener und geselliger Engel! Auch wenn wir heute auch die eine oder andere Träne im Auge haben – Gott ist mir dir.

Shine von Take That – Aufmunterung für betrübte Engel
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