Die Verklärung des Gestrigen

Kaum etwas kann peinlicher sein als die Revolution von vorvorgestern. Aktuell ist im Bereich einiger Burschenschaften abzulesen, wie aus einer einst revolutionären Bewegung ein reaktionärer, exklusiver Haufen geworden ist, der an überholten Idealen (hier: Volk und Rasse) festhält, die nun wirklich keinen positiven Beitrag zum gesellschaftlichen Leben mehr darstellen.

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In Frankreich erschoss sich diese Woche ein bekannter Rechter am Altar von Notre Dame, während 1.500 Besucher die Kathedrale besichtigten. Vor einer Weile hatte er neue Formen des Protestes gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften angekündigt. Sein Land hat sich anscheinend so verändert, dass er es nicht mehr miterleben will, nun soll wohl sein Tod genug Aufruhr schüren, dass andere die Rolle rückwärts schaffen. Sogar Marine Le Pen von der FN fand es inzwischen opportun, sich zu distanzieren.

Zugegeben, das sind sehr extreme Beispiele, aber diese Radikalisierungen finden derzeit eben mehrheitlich im konservativen Spektrum statt. Oft genug funktioniert die Logik des Konservativismus nach dem Motto: „Prüft das Gute, aber behaltet alles.“ Erst einmal muss alles Vertraute und Bewährte gesichert werden, Neues hingegen darf das Bestehende nicht zu sehr erschüttern – und ein Umbruch wird nur unter großen Schmerzen erduldet. Zwischenzeitliches Chaos birgt keine Chance zum Guten, es ist also tunlichst zu vermeiden.

Wie man dagegen mit Traditionen richtig umgeht und das Erbe der Väter richtig ehrt – ganz ohne Kulturkampfgehabe – zeigt Martin Buber. Über die Leistungen der Menschen vor uns schreibt er, und meint damit auch und gerade Glaubensgemeinschaften mit ihrer Neigung, das Gestrige zu verklären:

Wir sollen es [ihr Werk] verehren, wir sollen davon lernen, aber wir sollen es nicht nachmachen. Was Großes und Heiliges getan worden ist, ist für uns beispielhaft, aber es ist kein Modell, das wir nachzuzeichnen hätten. Wie Geringes wir auch zustande zu bringen vermögen, wenn wir es an dem Maße der Taten der Väter messen, es hat seinen Wert darin, dass wir es aus eigner Art und eigner Kraft zustande bringen.

… Dieses Einzige und Einmalige ist es, was jedem vor allem auszubilden uns ins Werk zu setzen aufgetragen ist, nicht aber, noch einmal zu tun, was ein anderer, und sei es der größte, schon verwirklicht hat.

Das Befreiende an diesen Gedanken ist, dass es den einzelnen, aber auch eine ganze Gemeinschaft, dazu befreit, sich weder im Positiven noch im Negativen durch Vergleich oder Kontrast zum Früheren zu definieren. Weder muss ich den anderen alles nachmachen, noch muss ich um jeden Preis alles anders machen. Ich kann vielmehr fragen, was das eine ist, das ich gerade hier und jetzt beitragen kann. Und eben darin bleibe ich dem Geist treu, der die Mütter und Väter schon inspiriert hat, das Ihre zu tun.

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3 Antworten auf „Die Verklärung des Gestrigen“

  1. Zwei Dinge sind mir sehr wichtig:

    Erstens: Diese Verbindung dieser irren und extremen Taten mit dem „Konservativen im allgemeinen“ ist unstatthaft. Das ist das Gleiche, als würde ich von der RAF auf alle „Progressiven im allgemeinen“ schließen. Das geht gar nicht.

    Zweitens: Wenn jemand etwas so macht, wie es andere schon früher gemacht haben, heißt noch lange nicht, dass er konservativ ist. Pauschalkritik ist nie gut. Ich würde mich viel lieber mit konkreten Themen beschäftigen.

    1. D’accord. Vielleicht so:
      Der, der etwas tut, weil es schon immer so gemacht wurde,
      und der, der etwas nicht tut, weil es schon immer so gemacht wurde,
      machen sich gleich abhängig von der Tradition.

      Es gibt Dinge, die waren und sind immer richtig, es gibt Dinge, die waren und sind immer falsch, und es gibt Dinge, die mal richtig waren und heute falsch sind und umgekehrt.

      Da haben wir aber wahrscheinlich einen Konsens.
      Und konkrete Fragen werden schon noch wieder drankommen. 😉

  2. Zitat: „Das Befreiende an diesen Gedanken ist, dass es den einzelnen, aber auch eine ganze Gemeinschaft, dazu befreit, sich weder im Positiven noch im Negativen durch Vergleich oder Kontrast zum Früheren zu definieren. Weder muss ich den anderen alles nachmachen, noch muss ich um jeden Preis alles anders machen. Ich kann vielmehr fragen, was das eine ist, das ich gerade hier und jetzt beitragen kann.“

    Das ist ein guter Gedanke, dass es befreiend ist für eine Gemeinschaft sich nicht zu vergleichen und sich nicht durch Kontrast o. Vgl. zum Früheren zu definieren. So kam es doch zur „Vielfalt“ im christlichen Spektrum. Ist eine Anleitung zum Thema: „Vergebung praktisch“ und Vermeidung von Spaltung oder Ausgrenzung bei negativem „Erbe“. Die christliche Gemeinschaft besteht aus Menschen und es menschelt da immer ganz schön und das muss es auch dürfen, sonst würde das System starr nach einer Zeit. Wenn in einer Gruppe der Ausspruch kommt: „Nein, der darf nicht kommen, weil der total religiös ist.“ (oder was weiß ich), dann muss man darauf eingehen, „den Weg“ suchen und jeder Einzelne und in der Folge das Gesamt (Gemeinschaft) muss sich dazu positionieren, denn eine Auffassung von der Sache/dem Sachverhalt hat sowieso jeder, unabhängig davon, ob das Gedachte ausgesprochen wird. Diese Gespräche bieten dann die Möglichkeit, Verletzungen zu erkennen und sich diesen bewusst zu werden und Grenzen aufgrund von heilenden Gesprächen und Gebeten im geschützten Raum „bewusst“ wieder weiter zu stecken, Türen zu öffnen, wenn nicht gar ganz abzubauen. In der Folge kann und muss die Gemeinschaft insgesamt aber auf jeden Fall gemeinsam für sich definieren, wo die Grenzen der Gemeinschaft liegen. Das ist ein zarter Prozess, der mitunter bei eng gesteckten Grenzen bleibt, bis das Thema wieder aufkocht, denn Jesus hat Grenzen in den Köpfen der Menschen und in Institutionen geöffnet und das macht er heute auch noch so wie bei den Vätern auch schon. Das ist die Hoffnung. Ich hatte hier vor einiger Zeit mal was Wichtiges dazu mitgenommen. Das hat mir geholfen mit solchen Prozessen besser zurecht zu kommen. … und am Ende hat immer der Eine alles in seiner guten Hand. Das beruhigt.

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