Das Fleisch ward Wort (oder: die Tragik der Reformation)

(Achtung – erhöhter Schwierigkeitsgrad…)

Iain McGilchrist unterzieht in The Master and His Emissary die Kirchen der Reformation einer radikalen Kritik. In großen Teilen seiner Argumentation stützt er sich auf eine Arbeit von Joseph Koerner, The Reformation of the Image. Körner analysiert die Veränderungen, die durch die Reformation in der sakralen Kunst ausgelöst wurden. McGilchrist interessiert das, weil man daraus Rückschlüsse ziehen kann, ob rechte und linke Hemisphäre des Gehirns in einer gesunden Balance arbeiten oder ob die Linke Gehirnhälfte sich ungut verselbständigt. Ich gebe das im Folgenden erst einmal wieder, wir können dann in Ruhe diskutieren, wie plausibel die Darstellung uns erscheint:

Luthers ursprüngliches Anliegen war es, sagt McGilchrist, wieder zu einem authentischen Glauben zurückzukehren, der nicht auf formalen Autoritäten, sondern lebendiger Erfahrung beruht. Insofern war er ein typischer Mensch der Renaissance. Das innere und das äußere Leben, Sichtbares und Unsichtbares, gehörten für ihn zusammen. Aber seine Nachfolger, zumal Zwingli und Calvin, werteten die materiellen Dinge (mithin das Konkrete und Persönliche) gegenüber dem Geistigen (d.h. dem Allgemeinen) massiv ab – ein klares Indiz für eine „Überfunktion“ der linken Hemisphäre. Im Äußeren verkörpern sich keine geistigen Dinge mehr, es ist ein rein formaler Signifikant, ein abstrakter Hinweis auf eine Sache, die sich woanders befindet (wie ein Straßenschild, das nichts über die Stadt aussagt, auf die es verweist).

Die Reformation ist insofern modern, als sie der erste große Aufbruch zur Gewissheit ist. Schleiermacher hatte schon darauf hingewiesen, dass Reformation wie Aufklärung alles Geheimnisvolle und Wunderbare ächten und die Phantasie von Trugbildern reinigen wollten. Bilder und Metaphern, in denen die rechte Hemisphäre unseres Gehirns kommuniziert, wurden wegen fehlender Eindeutigkeit als störend abgetan. In der Polemik gegen Bilder wurde dann den anderen unterstellt, dass sie die Abbildungen als Götzen verehrten, obwohl doch allen klar war, dass Gott nicht identisch mit einer Ikone oder Statue ist, sondern bestenfalls im Raum zwischen dem Symbol und dem Betrachter gegenwärtig war. Man ließ nur die schroff binäre Alternative gelten, dass eine Statue entweder bloß ein Stück Holz war oder ein Götze.

Luthers Nachfahren hielten sich an das geschriebene Wort (hier kam Gutenbergs technische Revolution, die Schriften in jedes Haus lieferte, verstärkend ins Spiel), das Explizite verdrängte das Implizite und metaphorische. Schön zeigt sich das Dilemma im Abendmahlsstreit. Dort brechen die Reformierten mit der (ihrer Ansicht nach: magischen) Auffassung, dass Gott in den Symbolen Brot und Wein (und, das gehörte ja dazu zugleich im umfassenden Kontext der Messe von glaubender Gemeinde und überlieferter Liturgie) gegenwärtig sein kann, und deuten die den Sinnen zugänglichen Elemente als bloße Zeichen einer von ihnen weit entfernten und prinzipiell unabhängigen Wirklichkeit. Sakramente vermitteln nun Information, sie haben nur eine Bedeutung, aber keine Substanz mehr, denn sie stehen für einen Inhalt, der jenseits aller Form ist und daher potenziell jede Form annehmen kann. In der Tat ist die Ansicht, man könne zwischen Form und Inhalt trennen, eine der fatalsten Folgen der Reformation.

Damit, sagt McGilchrist, nimmt die Reformation „die hermetische Selbstreflexivität des Postmodernismus“ vorweg. Bilder verweisen nur noch auf sich selbst, sie sind nicht mehr transparent auf eine tiefere Wirklichkeit, etwas anderes: aus dem Protest gegen leere Strukturen ist selbst eine Struktur geworden, die keinen Inhalt mehr braucht. Entsprechend kommen Bilderrahmen mit dicken Textunterschriften in Mode, um das Gezeigte zu objektivieren. Das Geschriebene Wort erhält dinglichen Status, und damit es seine Wirkung nicht verfehlt, wird es endlos wiederholt. Weil das einen mechanischen Charakter annimmt, wird das Wort schließlich selbst zu einer Art Talisman mit magischer Qualität, kurz: zum Götzen. Das Motiv hier ist die Kontrolle:

Die Machthungrigen sind immer darauf aus, intuitives Verständnis durch explizites zu ersetzen. […] daher haben die Calvinisten eine Ausradierung der Vergangenheit unternommen, die die Vernichtung all dessen einschließt, was die Erinnerung daran nährt, wie die Dinge einst waren – eine Art Rote Revolution, ‚die nichts in den Kirchen lässt, an was man sich noch erinnern könnte.‘

Im Blick auf das Sakrament bedeutet dieser Eindeutigkeitswahn der protestantischen Orthodoxie, dass eine Art leibfeindlicher Manichäismus entsteht. Das Element verkörpert nicht mehr den Leib Christi es weist nur auf ihn hin, denn das Fleisch ist unnütz, nur der Geist zählt. Jener ist vergänglich, das Wort hingegen zeitlos und damit gottähnlich. Daher ist die einzig wahre Kirche auch die unsichtbare Kirche, die an keinem konkreten Ort mehr zu finden ist. Im Prinzip ist nun alles heilig, praktisch aber ist nichts mehr wirklich heilig, denn die Worte entfernen sich so weit von aller erfahrbaren Wirklichkeit, dass sie nichts mehr auslösen.

Die rechte Hemisphäre kann sowohl das Ganze sehen (und nicht nur ein Aggregat von Einzelteilen), sie sieht aber auch das konkrete und Einzigartige, während die linke nur das Allgemeine und Generelle erkennt. In der Schöpfungsgeschichte scheidet Gott die Dinge, sie werden individuell und besonders. Der Hang zum (All-)Gemeinen hingegen macht aus einem lebendigen, veränderlichen und beweglichen Gegenüber ein totes, starres Objekt.

Und so befördert, sagt McGilchrist unter Verweis auf Max Weber, der Protestantismus nicht nur den Kapitalismus, besonders durch seine starke Betonung der Handlungsfähigkeit Einzelner, sondern auch die Bürokratie der Obrigkeit, etwa bei den Lutheranern in Deutschland. Wo vor allem die Handlungsfähigkeit des Einzelnen im Blick ist, da geht es um Selbstschutz, Selbstbehauptung und Selbsterweiterung und somit auch Entfremdung, Isolation und Einsamkeit, bei Protestanten und Kapitalisten. Daher ist der Kapitalismus auch traditionsfeindlich, denn Traditionen verkörpern die Weisheit früherer Generationen, die sich zwar organisch wandeln, aber abstrakten Neuentwürfen erst einmal im Wege stehen.

Nachdem die Reformatoren sich der Macht von Kirchenfürsten und deren Monopolisierung des Heiligen entzogen hatten, trugen sie diese Macht dem Staat an und verliehen den staatlichen Institutionen eine quasireligiöse Aura. Die obrigkeitliche Kontrollmentalität verrät beispielsweise der Kirchenbau: die erhöhte Position der Kanzeln, gelegentlich (als Erlanger kennt man das bestens von den sogenannten „Markrafenaltären“) sogar in den Altar integriert, um von dort die moralischen Ordnungen an die Untertanen im Kirchengestühl zu vermitteln. Und in den reformierten Kirchen herrschte eine große Vorliebe für streng symmetrische Bankreihen – diese starre Ordnung ist vermittelt ein völlig anderes Grundgefühl als das Stehen in einer unordentlichen, nie völlig still stehenden Menge, das in den Kirchenräumen vor der Reformation normal war.

Der eigene „demokratische“ Anspruch wird durch die Sitzordnung schon wieder konterkariert, denn schnell wurde die Vergabe der besten Sitzplätze (und damit die Demonstration des eigenen sozialen Status) zum einträglichen Geschäft. (N.B.: Die Wikipedia verrät zum Thema Kirchenstühle und soziale Ordnung zum Beispiel dies: „In den streng protestantischen Gebieten Württembergs war es teilweise bis zur Wende zum 20. Jahrhundert üblich, Frauen, die uneheliche Kinder erwarteten, in der Kirche auf einem separaten Platz, dem sogenannten Hurenstuhl, auszustellen.“)

Freilich, sagt McGilchrist, war der Protestantismus immer sehr vielschichtig. Gemeinsam ist den verschiedenen Richtungen jedoch

  • die ausgeprägte Präferenz für Klarheit und Gewissheit statt Offenheit und Ambivalenz
  • die Präferenz für das Einzelne, Bestimmte, Statische und Systematische (statt für das Fließende, Vielfältige, Bewegliche und Kontingente)
  • die Bevorzugung des Wortes gegenüber dem Bild, des strikten Wortsinns gegenüber der Metapher
  • die Neigung zur Abstraktion und Abwertung des Natürlichen (bzw. besonders bei den Puritanern des sinnlich-Ästhetischen)
  • der stete Verweis auf verschriftlichte Sprache und ständige Querverweise zwischen Schriften, statt dass implizit zwischen den Worten noch etwas anderes, Unaussprechliches wahrgenommen und als gegenwärtig erfahren wird (Abraham Heschel würde vielleicht sagen: Der Sinn dafür, dass die Welt eine große Anspielung auf das Geheimnis Gottes ist, ging verloren).
  • das grundsätzliche Misstrauen gegen die Weisheit von Traditionen und der rationalistische Angriff auf alles „Heilige“ (Räume, Zeiten, Menschen, Rituale etc.)

Das Tor zur Aufklärung war damit also längst weit aufgestoßen, die Saat der Selbstsäkularisierung ausgestreut, und McGilchrists bitteres Fazit zu diesem Abschnitt lautet:

In essence the cardinal tenet of Christianity – the Word is made Flesh – becomes reversed, and the Flesh is made Word.

Ein paar Anmerkungen meinerseits:

Wenn McGilchrist, Weber und Körner Recht haben, dann wäre auch sofort nachvollziehbar, warum sich schon bald auch unter Protestanten wieder mystische Strömungen bildeten, etwa Johann Arndt (1555-1621), der sich, wie später auch Spener (sicher kein Zufall!) auf Luthers eigentliche reformatorische Intentionen berief.

Äußerst spannend finde ich, dass für McGilchrist gerade neopuritanische Bewegungen in ihrer Fixierung auf das Absolute, auf Gewissheit und Eindeutigkeit, das Explizite und Buchstäbliche und dem tiefen Misstrauen gegen alles Natürliche enge geistige Verwandte des verhassten Postmodernismus sind, der in bestimmten Spielarten zur völligen Virtualisierung neigt und der Auflösung der Beziehung von Signifikant und Signifikat.

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16 Antworten auf „Das Fleisch ward Wort (oder: die Tragik der Reformation)“

  1. Sehr spannend. In gewisser Weise ist das ein echtes Dilemma: Der Protestantismus hat den Weg für die Aufklärung geebnet, die nun wiederum in Form der Säkularisierung den Protestantismus erodiert, obwohl dieser nach wie vor von ihr lebt. Ohne Säkularisierung kein Protestantismus, ohne Protestantismus keine Aufklärung. Eine klassische Hassliebe.

    Kein Wunder, wenn Teile des Protestantismus die Ideen der Aufklärung nach wie vor bekämpfen und damit so manches Mal reaktionärer erscheinen als ihre katholischen Kollegen.

    Wenn der Fehler tatsächlich war, dass die zweite Generation von Reformatoren zu viel Schwung hatte und auf der anderen Seite wieder vom Pferd gefallen ist, dann bedeutet das: Gesund wäre ein Mittelweg zwischen Katholizismus und Protestantismus. Zwischen Erleben und Wissen, zwischen rechter und linker Hemisphäre, zwischen Kunst und Lehre. Das wussten wir zwar irgendwie schon vorher, aber McGilchrist erklärt es gut.

    Kurze Frage: Von wem ist das erste Zitat („Die Machthungrigen…“)?

    1. Das ist auch von McGilchrist. Im Protestantismus gibt es zwei Strömungen: Die anti-aufklärerische (aber seltsamerweise nicht weniger rationalistische, es gibt ja kaum etwas „logischeres“ als den Fundamentalismus) und eine, die sich als Erbin der Aufklärung versteht („liberal“ passt leider nicht ganz als Etikett).

      1. Ja, es gibt zwei Strömungen. Und es gibt Karl Barth. 😉

        Aber im Ernst. Ich finde die Barth nahen „Zwischen-den-Zeiten/Stühlen“-Stehenden (wie Barth selber, oder aber Bonhoeffer, Moltmann etc.) vermeiden dieses Rechts-Links-Schema. Wenn man z.B. Barth oder Bonhoeffer liest, fällt auf wie entschieden Gott wirklich Gott sein „darf“ (mehr, als bei den anti-aufklärerischen!), auf der anderen Seite aber jede absolute Manifestation Gottes, nie selber zum Gott gemacht wird, weder die Bibel noch ein von der Aufklärung ausgesiebtes „reines Evangelium“.

        Barth fragte die einen ganz provokant, wie den die Bibel das Wort Gottes sein kann, wenn doch Christus das Wort Gottes ist? (Im zweiten Schritt, bekommt sie ihre – aber anders – Autorität zurück, da sie ja die Taten dieses Wort Gottes bezeugt.)
        Legendär auch seine Reaktion gegenüber „den anderen“: „Christus ist das Kerygma und nicht das Kerygma ist Christus.“ Die Alternativen sind eben nicht nur ein fundamentalistischer Biblizismus noch eine wie auch immer geartete Relativierung des Wortes Gottes.

  2. Vielleicht sollte man Herrn McGilchrist einfach mal empfehlen, Calvins Institutio auch wirklich zu lesen (und nicht nur selbst konstruierte Strohmänner zu verbrennen), bspw. Institutio IV 17,31, wo Calvin die Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl betont, oder den Abschnitt IV 17,32, in dem Calvin über die Gegenwart Christi folgende bemerkenswerte Aussage trifft: „dies Geheimnis ist zu erhaben, um mit meinem Verstand erfaßt oder mit Worten ausgedrückt zu werden, und, um es offenbar zu machen: ich *erfahre* es mehr, als daß ich es *begreife*!“ (Calvins Betonungen)
    So überraschend das für einige klingen mag: Von Erfahrungsfeindlichkeit kann im Calvinismus keine Rede sein.

    1. Die „Väter“ der Reformation sind eine Sache, die Nachfahren eine andere. Im Zeitalter der Orthodoxie (vor allem in ihrer gewaltigen Aufblähung des Locus de sacra scriptura) hat sich auf allen Seiten (lutherisch wie calvinistisch) das, was McGilchrist beschreibt, durchgesetzt.

      1. Die lutherische Orthodoxie in Deutschland war in der Tat ein geistlich totes Tier, d’accord. Aber McGilchrist und Du, ihr macht ja – zumindest wenn man dem Post folgt, der immerhin „Die Tragik der Reformation (!)“ überschrieben ist – die Reformatoren selbst, namentlich Calvin, für die monierte Fehlentwicklung verantwortlich. Das aber, und das gibst Du ja dankenswerterweise in Deinem Kommentar zu, funktioniert nicht. Die tote, erfahrungsfeindliche Orthodoxie gehört den Epigonen.

        1. Die altprotestantische Orthodoxie ist ebenso reformiert wie lutherisch… Und ich denke, Zwingli und Calvin haben da durchaus einen Beitrag dazu geleistet, ebenso wie Melanchthon & Co. Etwa Calvins großes Anliegen, die Transzendenz Gottes über allem zu wahren, sein Hand zum Systematisieren (der ging Luther komplett ab…) geht durchaus in die Richtung, die seine Epigonen, wie alle Epigonen, einfach weiter verfolgt haben.

          1. Die reformierte Theologie war im 18. Jh. facettenreicher als die lutherische, wenn man über Deutschland hinausschaut, und dass Luther kein systematischer Theologe gewesen sei (nur weil er kein systematisches Handbuch geschrieben hat?, außer dem Katechismus selbstverständlich), ist ein anscheinend unausrottbares Missverständnis. Sei’s drum.

            1. Wieso sollte das ein Missverständnis sein? Mag ja sein, dass ich nicht die ganze globale Vielfalt reformierter Theologie übersehe, aber mit Luther kenne ich mich schon ein bisschen aus…? Der Katechismus hat nicht einmal annähernd das Abstraktionsniveau dogmatischer Lehrbücher. Und auch nicht den Umfang und Anspruch.

            2. @Alexander: Mir geht es hier ja gar nicht um Konfessionskriege. Ich denke, an McGilchrists Thesen ist durchaus etwas dran. Das Thema der Gewissheit steht ja tatsächlich ganz oben auf der reformatorischen Agenda; zugleich sehen wir eine Verschiebung weg von Tradition hin zum Individuellen, vom Bildhaft-Symbolischen hin zum weniger „sinnlichen“, fixierten Text. Wenn man Liturgie und sakrale Kunst betrachtet, dann war dies m.E. unter den Reformierten noch etwas ausgeprägter als unter den Lutheranern. Und ich vermute mal in der Kirchenmusik ist es ähnlich.
              Luther war ja ein Meister paradoxer Verschränkungen. Gibt es in der reformierten Theologie etwas vergleichbares? Das wäre ja schon deshalb interessant, weil man daran anknüpfen könnte.

        2. Nur eine Anmerkung, in Klammern sozusagen: Die Orthodoxie-Forschung fördert da inzwischen zum Thema Spiritualität und Erfahrungsbezug einiges mehr zu Tage, als die „Klischees“ zulassen. Aber klar, die Form der Dogmatiken sprecht auch ein bisschen für sich.
          Ansonsten muss ich ehrlich sagen, scheint mir das Ganze mit etwas sehr breitem Pinsel gemalt zu sein; und vielleicht eher als Diagnosetool für unsere eigenen Schlagseiten interessant, denn als historische Analyse?

          1. @Alex: Freilich ist das perspektivisch begrenzt, hier durch die Frage, wie es kam, dass die Neuansätze der Renaissance mit einer deutlichen Belebung der rechtshemisphärischen Sicht auf die Welt von wesentlichen Repräsentanten der Aufklärung zugunsten eines reduktiven Rationalismus über Bord geworfen wurden, der das Allgemeine über das Konkrete und das tote Objekt über das lebendige Subjekt stellt. Und da steht Luther etwas näher an der Renaissance und die Orthodoxie deutlich näher an der Aufklärung. Das übergreifende Interesse gilt freilich der Frage, woher unsere Probleme heute kommen und wie sie sich evtl. lösen lassen.

  3. Wow, das ist echt Stoff zum Arbeiten. McGilchrist hat tatsächlich einen wunden Punkt in der anthropologischen Vermittelbarkeit bei den Erben der Reformation gefunden. Und der zugespitzte Titel ist genial. Danke für die Anregung!
    Aber wenn ich es richtig überblicke, ist das Verhältnis von rechter und linker Hemisphäre und beider zum Evangelium noch viel schwieriger.
    Luther, der sowohl mystische Erfahrungen als auch vernünftige Systematisierung wohl kannte, aber nicht besonders hoch wertete, scheint mir weder linke noch rechte Hemisphäre besonders zu bedienen.
    Und Paulus scheint mir da noch radikaler zu sein, kennt die Krafterweise des Geistes, kennt gute Argumentationsketten, aber betont doch, dass das Wort vom Kreuz weder die Suche nach Weisheit („rechte“ Hemisphäre?) noch die nach Zeichen („linke“ Hemisphäre?) befriedigt.
    Insofern ist eine einseitige Betonung einer der beiden Hemisphären sicher problematisch, aber die Erwartung, bei ihrer Ausgewogenheit Gott näher zu kommen, ebenso.

    1. @Andreas: Bei Luther deutet vieles eher in Richtung Balance, und das ist ja auch ganz gut, würde McGilchrist gleich dazu sagen. Paulus einzuordnen halte ich für etwas schwieriger, denn das „Zeichen“, von dem er in 1Kor. 2 redet, ist ja keine Abstraktion, sondern konkretes, sichtbares Ereignis. Zudem unterscheidet McGilchrist Vernunft („reason“, rechte Hemisphäre) und Verstand („rationality“, linke Hemisphäre). Im deutschen sind die Begriffe leider gar nicht so gut zu unterscheiden.
      Aber es geht ihm ja weniger um Individuen, sondern um kulturelle Tendenzen.

      1. Ja, da könnte was dran sein. Vielleicht bin ich mit meinem Paulus- und Lutherverständnis auch eher mit Markus bei Karl Barth und denke, das Evangelium liegt mit beiden Hemisphären quer.

  4. Ist es nicht der menschliche Hang zum Systematisieren und damit zum Kontrollieren, der solche Fehlentwicklungen fast zwangsläufig immer wieder hervorbringt?

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