Der Soziologe Zygmunt Bauman ist kürzlich gestorben. Es gibt wenige Autoren, die meinen Blick auf die Welt in den letzten zehn Jahren so nachhaltig beeinflusst haben wie der Mann aus Posen, der zwei Diktaturen erlebte. Es war vor allem seine differenzierte Sicht der gesellschaftlichen Veränderungen, die er „flüchtige Moderne“ nannte. Das war ein großer Fortschritt gegenüber viele diffusen und gelegentlich auch reichlich konfusen Konzepten von „Postmoderne“. Wir alle leben in der Flüchtigen Moderne, ob wir nun dem Postmodernismus zuneigen oder nicht (selbst dessen erbittertste Feinde, fand Bauman, die Fundamentalisten religiöser und atheistischer Färbung, sind allesamt typische Exemplare dieser zweiten Moderne).
Als kleine Verbeugung vor dem großen Mann habe ich im letzten Kapitel von Terry Eagletons „Culture and the Death of God“ geblättert, von dem ich den Eindruck habe, dass hier ganz ähnliche Gedanken (nun aus der Sicht des Literaturwissenschaftlers) auftauchen. Es wirkt wie ein Echo auf Baumans Thesen. Vielleicht finden es ja auch andere tröstlich, dass seine Ideen und Entdeckungen weiterleben.
Eagleton hat nachgezeichnet, wie im Laufe der Säkularisierung verschiedene Dinge als Platzhalter für „Gott“ ins Spiel gebracht wurden: Die Vernunft, die Kultur, die Geschichte, die Nation, die Ästhetik, die Menschheit (bis hin zu Nietzsches Übermenschen) – all das hatte eine transzendente Dimension. Gott war zumindest in seiner Abwesenheit präsent, und die Lücke, die er bei denen hinterließ, die nicht mehr an ihn glaubten oder nicht mehr von ihm sprechen wollten, blieb durch diese Platzhalter sichtbar:
Während der Modernismus den Tod Gottes als Trauma erfährt, als einen Affront, gleichermaßen eine Quelle der Angst wie ein Grund zum Feiern, erfährt der Postmodernismus ihn gar nicht mehr. Es gibt in der Mitte des Universums kein gottförmiges Loch, […] es gibt überhaupt keine Lücke mehr in diesem Universum. […] Das postmoderne Subjekt tut sich schwer, in sich selbst genug Tiefe und Kontinuität zu finden, um ein geeigneter Kandidat für tragische Selbstaufgabe zu werden. Man kann nichts aufgeben, was man nie besessen hat. Wenn es keinen Gott mehr gibt, dann zum Teil deshalb, weil es keinen geheimen, inneren Ort mehr gibt, wo er sich einstellen könnte. (S. 186)
Wenn aber weder die Einheit des Subjektes noch die Einheit der Welt einen sicheren Ausgangspunkt des Denkens bildet, dann ist auch für den einen Gott kein konzeptioneller Raum mehr vorhanden. Der Mensch hört auf, sich als intentional und schöpferisch zu betrachten. auch das hat mit einem Wandel der Gesellschaft zu tun, und zwar einem, der auch Bauman intensiv beschäftigt hat:
Konsumenten sind passive, diffuse, vorläufige Subjekte – so wird der Allmächtige traditionellerweise nicht dargestellt. Solange Menschen als Produzenten, Arbeiter, Hersteller, Gestalter ihrer selbst angesehen werden, kann Gott nie völlig erlöschen. Hinter jeder produktiven Tätigkeit lauert ein Bild der Schöpfung, und ein schöpferischer Akt im besonderen – die Kunst – konkurriert mit dem Allmächtigen selbst. Aber nicht einmal er kann den Advent des Menschen als des ewigen Konsumenten überleben. (S. 190)
Das neue absolute Prinzip ist die Kultur. Alles ist Kultur, alles ist kulturell erzeugt und überformt, jedes Nachdenken darüber ist wiederum ein kulturelles Geschehen; Kultur ist unhintergehbar, aber sie ist nicht mehr transzendent, sondern nur noch transzendental – die Bedingung der Möglichkeit all dieser Phänomene. Das wirkt sich auch auf postmoderne Religiosität und Spiritualität aus:
Spiritualität ist das Bedienen von Bedürfnissen, die einem die Stylistin oder der Aktienhändler einem nicht erfüllen kann. Doch im Grunde ist diese ganze Zweite-Hand-Jenseitigkeit nur eine Form des Atheismus. Ein Weg, sich erhaben zu fühlen ohne die krasse Unannehmlichkeit Gottes. (S. 191f.)
Ebenso werden Überzeugungen und Glaubensansichten postmodern zu Accessoires, die man eher zu ästhetisch-dekorativen Zwecken benutzt, als dass man sich ihnen bleibend verpflichtet fühlen würde. Die Suche nach Glaube und Gewissheit wird dagegen prinzipiell wahlweise als Schwäche diffamiert oder als erster Schritt zu einem tyrannischen Dogmatismus. Eagleton kommentiert:
Überzeugung setzt eine Einheitlichkeit des Selbst voraus, die sich nur schwer verträgt mit dem flatterhaften, adaptiven Subjekt des fortgeschrittenen Kapitalismus. Außerdem ist zuviel Lehrmeinung schlecht für den Konsum. Sie ist außerdem aus der Mode, weil der Glaube die Gesellschaft nicht zusammenhält wie die Lutherische Kirche oder die Pfadfinderbewegung. Der Kapitalismus mit seinem Hang zum Pragmatischen, Utilitaristischen, vor allem in seiner postindustriellen Inkarnation, ist eine zutiefst glaubenslose Gesellschaftsordnung. Zu viel Überzeugung ist für dein Funktionieren weder notwendig noch wünschenswert.
… Die Glaubenslosigkeit des fortgeschrittenen Kapitalismus ist in seinen praktischen Routinen eingebaut. Sie ist nicht primär eine Frage der Frömmigkeit oder Skepsis seiner Bürger. Der Markt verhielte sich auch dann noch atheistisch, wenn jeder Marktteilnehmer ein wiedergeborener Evangelikaler wäre. (S. 195f.)
Mit dem Ende des kalten Krieges dachten viele, es sei nicht nur das ende der Geschichte gekommen, sondern auch das Ende aller großen, sinnstiftenden Erzählungen. Und hier beginnt die große Ironie des 21. Jahrhunderts:
Kaum war eine gründlich atheistische Kultur auf den Plan getreten, eine, die nicht mehr ängstlich diesem oder jenem Platzhalter für Gott anhing, setzte sich die Gottheit mit Nachdruck wieder auf die Tagesordnung. Die beiden Ereignisse sind keineswegs unzusammenhängend: Der Fundamentalismus hat seine Ursache in der Angst, weniger im Hass. Er ist die pathologische Denkweise all jener, die fühlen, dass in einer schönen neuen spätmodernen Welt gescheitert sind, und von denen einige schlussfolgern, dass sie auf ihre unterbewertete Existenz nur dadurch aufmerksam machen können, dass sie eine Bombe im Supermarkt explodieren lassen. (S. 197)
Der Allmächtige wurde anscheinend in seinem Sarg gar nicht sicher festgenagelt. Er hatte einfach nur die Adresse geändert, er emigrierte in den Bible Belt der USA, die Evangelikalen Gemeinden Lateinamerikas und die Slums der arabischen Welt. Und sein Fanclub wächst stetig an. (S. 199)
Eagleton macht sich ausgiebig lustig über die Versuche der politischen Linken (er nennt z.B. Agamben, Zizek, Badiou, Habermas und de Botton) das humanitäre und soziale Potenzial der Religion (zumal der christlichen) zu instrumentalisieren, ohne sich auf ihre inneren Überzeugungen jemals ernsthaft einzulassen und den eigenen Materialismus in Frage zu stellen.
Bauman hat sich, so weit ich sein Werk kenne, nie als religiöser Mensch geäußert. Anders Eagleton, der damit über Bauman hinausgeht und diesen Gedankengang schließt, indem er – zutreffend, wie ich finde – schreibt:
Dem christlichen Glauben geht es jedoch nicht um moralische Erbauung, politische Einheit oder ästhetischen Charme. Er setzt auch nicht bei irgendeiner ominös-verschwommenen ‚unendlichen Verantwortung‘ an. Er beginnt mit einem gekreuzigten Leib. (S. 206)
… Wenn religiöser Glaube von der Bürde befreit wäre, soziale Ordnungen mit Rechtfertigungen ihres Vorhandenseins zu möblieren, dann wäre er frei, seinen wahren Zweck wiederzuentdecken als Kritik all solcher Politik. So gesehen läge sein Heil in seiner Überflüssigkeit. Das Neue Testament sagt kaum etwas über staatsbürgerliche Verantwortung. Es ist überhaupt kein „zivilisiertes“ Dokument. Es zeigt keinerlei Begeisterung für gesellschaftlichen Konsens. […] Es untermauert nicht die Feld-Wald-und-Wiesen-Moral, sondern bringt die äußerst unbequeme Nachricht, dass unsere Lebensformen eine radikale Auflösung durchmachen müssen, wenn sie als gerechte und barmherzige Gemeinschaften wiedergeboren werden sollen. Das Zeichen dieser Auflösung ist die Solidarität mit den Armen und Ohnmächtigen. Hier könnte eine neue Konfiguration von Glaube, Kultur und Politik geboren werden.
Dazu in ein paar Tagen mehr.