(Evangelische Morgenfeier vom 30. März 2025 – hier geht’s zur Hörfassung)
Das meiste haben wir schon hinter uns.
Genau drei Wochen sind es ab heute noch bis Ostern. Der größere Teil der Passions- und Fastenzeit ist geschafft. In diesem Jahr überschneidet sie sich mit dem Fastenmonat Ramadan. Der geht morgen zu Ende. Wir Christen feiern heute erst mal eine Art „Bergfest“.
Fast vorbei das Fasten. Fast vorbei das freiwillige Verzichten in allen möglichen Formen. Es geht dabei nicht um heldenhafte Anstrengung. Niemand, den ich kenne, fastet zwischen Aschermittwoch und Ostern in dem Sinne, dass sie oder er auf jede Nahrung verzichtet. So etwas geht vielleicht mal für ein paar Tage, wenn man den normalen Alltag noch bewältigen muss.
Aber viele verzichten auf einen bestimmten Genuss: Schokolade, Fleisch, Rauchen, Soziale Medien, Netflix – solche Dinge. Meine Frau fastet diesmal Alkohol, und weil es alleine weniger als halb so schön ist, ein Feierabendbier zu trinken, mache ich mit. Am Sonntag, also heute, unterbrechen wir das Fasten. So sieht es schon die alte christliche Regel vor. Da gönnen wir uns dann ein Glas Wein. Und was soll ich sagen – letzten Sonntag haben wir beide zusammen beim ersten Schluck festgestellt: Der Wein schmeckt intensiver, gerade weil er nicht alltäglich ist. Auch Genießen kann sich offenbar abnützen.
Verliebt ins Leiden?
Fasten wäre also missverstanden, wenn wir so eine Art religiösen Hungerstreik draus machen würden. Es geht gerade nicht darum, möglichst elend daherzukommen, damit Gott etwa Mitleid mit mir bekommt oder beeindruckt ist von meiner Härte gegen mich selbst und mich entsprechend belohnt. Nein, der Lohn des Fastens, wenn es einen gibt, der liegt im Fasten selber: Ich stelle fest, es geht auch ohne. Und nicht einmal schlecht. Und auf einmal ist da auch mehr Platz für einen anderen Hunger, den Hunger nach Gott und das Mitfühlen mit anderen Menschen.
Mitfühlen ist wichtig. Und dran. Statt Fastenzeit sagen wir Evangelischen zu diesen sieben Wochen vor Ostern: Passionszeit. Die Leidensgeschichte Gottes mit seiner Welt rückt ins Zentrum. Der Leidensweg von Jesus. Wir lesen die Geschichten von Jesus, der klammheimliche, aber auch wütende Ablehnung erlebt – wie viele Menschen vor und nach ihm. Ein aufgebrachter Mob wünscht ihm den Tod an des Hals, er wird verhaftet, misshandelt, er erlebt einen unfairen Prozess und wird brutal hingerichtet. Fast alle seine Leuten verlassen ihn.
Die Geschichten vom leidenden Christus sind und bleiben eine Zumutung. Ebenso wie die Geschichten, die mich über die Nachrichten erreichen: Krieg, Ausbeutung, Hass, Gewalt. Und natürlich auch die Schicksalsschläge in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis. Manchmal habe ich das Gefühl, gleich erdrückt mich das alles. Es schnürt mir die Luft ab und raubt mir die Kraft.
Dann will ich mich daran erinnern lassen: Gott steht nicht abseits und sieht ungerührt zu, wie Menschen leiden und trauern. Gott ist denen nahe, die ein zerbrochenes Herz haben – so heißt es in der Bibel. Der Schmerz aller Lebewesen geht ihm zu Herzen, auch mein ganz persönlicher. In Jesus stellt er sich unmissverständlich auf die Seite der Opfer. Ich glaube, wenn das nicht wäre, wäre die Welt wirklich zum Verzweifeln.
In diesem Jahr spüre ich aber auch noch ein anderes Bedürfnis. Ich will mich nicht überwältigen lassen von all dem, was entsetzlich ist. Das ist ein bisschen wie das eine Glas Wein am Sonntagabend: Es sorgt dafür, dass das Fasten keine griesgrämige Geschichte wird. Ich brauche zwischendurch schöne und fröhliche Momente. Nichts Großes und Aufwändiges. Aber genug, um alle eigene und mitempfundene Traurigkeit, Sorge und Ohnmachtsgefühle für eine Weile etwas aufzuhellen und zu lindern. In der Hoffnung, dass ich dann wieder in der Lage bin, dem Bedrückenden nicht auszuweichen und es nicht zu verdrängen. Und ganz offensichtlich bin ich mit diesem Wunsch nicht allein. Lange vor mir haben andere das auch schon gespürt. Und deshalb haben sie diesen Bergfest-Sonntag „Laetare“ genannt. Das ist Lateinisch – auf Deutsch heißt es: „Freut euch“.
Und was könnte der Freude besser auf die Sprünge helfen als fröhliche Musik? Die Musiker:innen um Amy Grant haben mit einer alten Melodie ein bisschen gespielt. Es wird schwer, die Füße stillzuhalten. Riverdance meets Johann Sebastian Bach: „Jesu bleibet meine Freude“.
Das Bankett auf der Baustelle
Das Buch Nehemia in der Bibel erzählt von der Rückkehr der Juden in das zerstörte Jerusalem vor zweieinhalbtausend Jahren. Vielleicht geht es heute in Gaza, in Aleppo oder Odessa ganz ähnlich zu. Die Leute machen sich mit dem wenigen, was sie haben, an den Wiederaufbau. Manchmal geht es nur schleppend voran, aber dann endlich steht die Stadtmauer wieder. Und bevor in ihrem Schutz die Wohnhäuser drankommen, feiern sie – ein Bergfest. Der Priester Esra sagt zu den Israeliten:
„Nun geht, haltet ein festliches Mahl und trinkt süßen Wein! Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben; denn heute ist ein heiliger Tag zur Ehre des Herrn. Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ (Nehemia 8,10)
Anschließend wird eine ganze Woche gefeiert. Bis die Strapazen der vorangegangenen Wochen nicht mehr allen in den Knochen stecken und die Köpfe so weit frei sind, dass alle Bewohner Jerusalems wieder über das hinausschauen, was alles noch fehlt und was jetzt sofort und unbedingt getan werden muss. Nach dieser Woche geht es wieder weiter. Es ist noch einmal ein Kraftakt, der auf Esra & Co zukommt. Sie werden die Ärmel hochkrempeln, Balken und Steine schleppen und abends kaputt ins Bett fallen. Tag für Tag, Woche für Woche.
Ich frage mich, wie das damals wohl ankam. Vielleicht waren einige dabei, die – so wie ich ab und zu auch – die Arbeit nicht unterbrechen wollen. Lieber durchziehen. Zähne zusammenbeißen und weiter. Auch wenn’s auf Kosten der guten Stimmung oder der Gesundheit geht. Bestimmt haben einige gesagt: Feiern können wir, wenn wir fertig sind, wenn alles gut ist. Wenn unsere Familien wieder alle ein Dach über dem Kopf haben, wenn die Gärten wieder angelegt sind, wenn es auf dem Markt wieder etwas zu kaufen gibt. Wir wollen keine kostbare Zeit verlieren.
Esra ist der Meinung: Das können wir uns nicht leisten. Nicht feiern können wir uns nicht leisten. Natürlich ist noch nicht alles gut und fertig. Aber wenn wir uns nicht mehr an dem freuen, was schon jetzt gut und schön ist, dann geht uns irgendwann die Puste aus. Auch wenn bloß der erste Bauabschnitt fertig ist und das Ergebnis nicht besonders beeindruckend. Aber das ist ja auch gar nicht der Grund für das festliche Essen, Musik und Gesang. Nicht die Freude am Erfolg ist die Kraftquelle, aus der ich schöpfen kann. Die Freude am Herrn ist eure Stärke!
Vergesst die nicht vor lauter Durchhalten und Schuften.
Zu Gast bei Feinden
Das Fest im Rohbau erinnert mich an ein Gespräch vor einigen Jahren. In der Zeit hatte es uns familiär ziemlich gebeutelt und dann kommen auch in der Arbeit Enttäuschungen und Konflikte dazu. Alles ist mit allem ungut verknotet. Ich wache mitten in der Nacht auf und fange an, Probleme zu wälzen. Also habe ich mir ein paar Tage Auszeit genommen. Aber auch das scheint erst mal nicht zu helfen. Die Stimmen von Streit und Kritik, Sorge und Zweifel stecken mir immer noch im Kopf. Ich kann sie nicht abschütteln oder stumm schalten. Im Gegenteil – wenn weder Arbeit noch Zerstreuung mich ablenken, werden sie erst richtig laut. Und dann dieses Gespräch. Mein geistlicher Begleiter fragt, wie es mir geht. Ich sage: „Ich fühle mich gerade wie im 23. Psalm – der Herr ist mein Hirte –, wo es heißt: Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“ Mein Gegenüber lächelt und sagt: „Dann lade sie doch ein!“
Ich bin erst einmal sprachlos. Aber dann … – klar: Einladen. Kommt, setzt euch. Das hier ist ein sicherer Ort mit genug Platz für uns alle. Ich muss die Feinde, das Ungelöste nicht erst verjagen, um Gottes Nähe zu spüren. Die Sturköpfe und Nervensägen, die mich so viel Kraft gekostet haben, tauchen immer noch in meinen Gedanken auf. Aber jetzt fange ich nicht mehr an, in Gedanken mit ihnen zu diskutieren – mich zu rechtfertigen, ihnen Vorwürfe zu machen oder zu verhandeln. Stattdessen denke ich: „Oh, du bist auch da. Nimm Platz. Hier ist es schön. Sei ein bisschen still mit mir. Vielleicht möchtest du dich auch an Gott freuen.“ Und dann fühlt es sich an, als würden diese Schatten schrumpfen und alles Bedrohliche verlieren. Nach und nach verstehe ich, was ich jetzt tun kann. Ich finde den Weg aus der Krise. Raus aus der dunklen Nacht der Seele.
Von dieser „Dark Night of the Soul“ singt die Folkpoetin Eliza Gilkyson. Ich finde, wie sie das tut, klingt alles andere als bedrückend oder düster. Sie verharmlost nichts, sie spielt nichts herunter. Sie nimmt ernst, was ist – dass die Welt Kopf steht.
„Lass dein Licht brennen,“ singt sie, „und gelobe, dass du weiterkämpfst in der dunklen Nacht der Seele. Hör’ nicht auf zu tanzen und zu singen. Lass die Glocken der Freiheit erklingen, bis die Mauern einstürzen.“
Ich weiß nicht, ob Eliza ein religiöser Mensch ist. Auf jeden Fall hat sie hat den Titel ihres Songs aus der christlichen Mystik geborgt. Und ich erkenne eine ganze Reihe von biblischen Motiven in ihrem Text: Jesus, der in der Bergpredigt sagt: Lasst euer Licht leuchten. Oder die mächtigen Mauern von Jericho, die Gott urplötzlich zerbröseln lässt.
Nur noch Angst, Wut und Triumph?
Eliza Gilkyson hat „Dark Night of the Soul“ erst im Februar veröffentlicht. Zwischen den Zeilen höre ich die kritische Situation in den USA heraus – die Demontage von Rechtsstaat und Demokratie, deren Schockwellen auch uns erschüttern und mächtig auf die Stimmung drücken. Ein Kommentator zitierte kürzlich aus George Orwells düsterem Klassiker „1984“ den Chefindoktrinator, der sagt, dass es keine anderen Gefühle als Angst, Wut und Triumph mehr geben soll. Wenn ich auf die letzten paar Wochen zurückblicke, dann scheint diese Strategie zu wirken. Angst, Wut und Triumph sind unglaublich ansteckend. Und wo sie herrschen, da wird das Leben zur Hölle.
Ich will in diesen Zeiten nicht aufhören zu singen, zu tanzen und zu feiern. Mich erinnern: Die Freude am Herrn ist eure Stärke!
Denn sonst hätten die Feinde, die „Hater“, von denen Gilkyson auch singt, schon gewonnen. Ich möchte noch viel besser darin werden, das Gute und Schöne zu hegen und zu pflegen, wo immer es mir begegnet. In mir selbst und um mich herum. Damit es an möglichst vielen Stellen die Zerstörungen überdauert, die wir gerade erleben. Ich brauche keine Fröhlichkeit, die davon lebt, dass sie das Schwere ausblenden muss. Ich brauche eine Fröhlichkeit, die alles im Licht einer noch viel größeren Liebe und Güte sieht.
Freude finden – Freude schenken
Gut unterwegs in schweren Zeiten, das trifft auch Madeleine Delbrêl zu. Für alle, die sie nicht kennen: Madeleine lebte im frühen 20. Jahrhundert in Frankreich. In jungen Jahren gewann sie mit einem Gedichtband einen Literaturpreis. Man merkt das ihren Gebeten und Tagebucheinträgen immer noch an. Sie ist als Atheistin aufgewachsen, findet aber in einer großen Lebenskrise zu einem lebendigen Glauben. Im Jahr 1933 zieht sie mit zwei Gefährtinnen nach Ivry, einem Arbeitervorort von Paris, und übernimmt dort eine Sozialstation. Bei den „Leuten von der Straße“, wie sie es nennt.
Kurz darauf organisiert Madeleine Delbrêl ein antifaschistisches Bündnis zwischen Christen und Kommunisten. Während der Besatzung durch die Nazis koordiniert sie Sozialdienste rundum Paris. Die Gegend ist arm, dann die Bomben, viele müssen evakuiert werden oder vor einer Verhaftung in Sicherheit gebracht werden. Es geht ihr nicht einfach nur um Wohltätigkeit, sie will verändern. Und noch was: Sie will ein fröhliches Leben für alle Menschen.
Schon mit 22 Jahren schreibt sie an eine Freundin:
Andererseits bin ich davon überzeugt, dass es in unserer Zeit Menschen braucht, die sich der Freude widmen. Wenn kaum jemals eine Epoche vielleicht rauschhafter vergnügt war als die unsere, so frage ich mich doch, ob es nicht auch jemals eine gab, der die echte Freude so sehr fehlte. Diejenigen, die diesen Mangel am tiefsten spüren oder die am meisten darum gekämpft haben, haben die Aufgabe, sie den anderen zu schenken.
Madeleine kämpft und geht ihren ganz eigenen Weg. Sie trägt (zeitlebens) bunte Kleider, trinkt gerne Rotwein und raucht Gauloises. Fröhlich leben. Wie schafft sie das?
Beim Blättern in ihren Schriften komme ich dem Geheimnis ihrer Freude auf die Spur. Madeleine will Gott durch sich wirken lassen. Und so arbeiten, Gutes tun, helfen, was verändern.
Keine großen spektakulären Dinge, sondern viele kleine, banale und alltägliche Sachen – was das jeweilige Gegenüber eben gerade so braucht. Unter so vielen armen Leuten sind die Frauen aus der kleinen Lebensgemeinschaft in Ivry damit auch mehr als gut beschäftigt. Aber die viele Arbeit war nicht das eine und Gott das andere. Sondern das eine mitten im anderen, Gott mitten in den vielen Handgriffen und Berührungen, die Nächstenliebe mit sich bringt. Die Freude am Herrn ist eure Stärke!
Wenn wir wirklich Freude an dir hätten, o Herr, Könnten wir dem Bedürfnis zu tanzen, nicht widerstehen, das sich über die Welt hin ausbreitet… Denn ich glaube, du hast von den Leuten genug, Die ständig davon reden, dir zu dienen – mit der Miene von Feldwebeln, Dich zu kennen – mit dem Gehabe von Professoren, Zu dir zu gelangen nach den Regeln des Sports Und dich zu lieben, wie man sich in einem alten Haushalt liebt. Eines Tages, als du ein wenig Lust auf etwas anderes hattest, Hast du den heiligen Franz erfunden Und aus ihm einen Gaukler gemacht. An uns ist es, uns von dir erfinden zu lassen, Um fröhliche Leute zu sein, die ihr Leben mit dir tanzen.
Allmählich fange ich an zu begreifen: Für Madeleine Delbrêl entspringt die Freude an Gott aus der Freude Gottes über uns. Darin besteht dieser Tanz. Gott freut sich über mich und ich freue mich –überwältigt von der Entdeckung, dass ich ihm ein Lächeln aufs Gesicht zaubern kann. Und das taucht alles, auch das Widrige und Gewöhnliche, in einen festlichen Glanz.
Lehre uns, jeden Tag die Umstände unseres Menschseins anzuziehen. Wie ein Ballkleid, das uns alles an ihm lieben lässt um deinetwillen, wie unentbehrlichen Schmuck. Gib, dass wir unser Dasein leben […] Wie ein Fest ohne Ende, bei dem man dir immer wieder begegnet, Wie einen Ball, Wie einen Tanz In den Armen deiner Gnade, Zu der Musik allumfassender Liebe, Herr, komm und lade uns ein.
Das ist mein Lätare-Fest: Klar, dass mich so einiges bedrückt – aber zugleich ist da eine Quelle der Freude, die nie aufhört zu sprudeln. Schon bald feiern wir Ostern, den Anfang vom Ende des Todes und der dunklen Nacht der Seele. Auch wenn es gerade ganz schön verrückt klingt: Die Welt ist schon über den Berg.
(Foto: Senjutu Kundu auf unsplash.com | Zitate aus: Madeleine Delbrêl, „Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße“, hg. von Annette Schleinzer, München/Zürich/Wien 2014, S. 46, 118 und 120.)