Verlegenes Schweigen?

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Zur Zeit lese ich wieder einen Krimi aus der Merrily-Watkins-Serie von Phil Rickman. Die Heldin seiner Romane ist anglikanische Pfarrerin und „Deliverance Consultant“ der Diözese Hereford. In dieser Funktion bekommt sie es mit dem Grenzbereich von Aberglaube, Esoterik, Spukerscheinungen und existenziellen Erfahrungen des Bösen zu tun, echten Verbrechen ebenso wie einer Bosheit, die Menschen mehr von innen heraus plagt als durch handfeste äußere Einflüsse. Als Krimi liest sich das ganz gut, die sympathische Protagonistin ist ebenso sensibel, wie sie nüchtern und skeptisch denken kann. Mit versponnener Frömmigkeit hat sie wenig am Hut. Die Erfahrungen der Menschen, die sie um Hilfe bitten, nimmt sie aber erst einmal ernst, auch wenn sie deren Interpretationen nicht immer teilt.

Das Interessante daran ist, dass es diese Deliverance Consultans tatsächlich gibt bei den Anglikanern. Die Bischöfe haben klare Richtlinien für diesen Dienst verfasst, die unter anderem vorsehen, dass auch ärztlicher und psychiatrischer Rat eingeholt wird. Rickman erfindet zwar seine Geschichten und die konkreten Personen, aber er hat seine Hausaufgaben gemacht und den Hintergrund recherchiert. Immer wieder spielen theologische und pastorale Erwägungen eine Rolle, ab und zu zitiert er aus einschlägiger Literatur. Ob es Geister bzw. Dämonen tatsächlich „gibt“, bleibt zwischen den Zeilen weitgehend offen. Aber offenbar geht er, wie ja auch die Anglikanische Kirche, davon aus, dass diese Fragen nichts völlig Absurdes sind und dass es eine Anlaufstelle dafür braucht.

Wenn diese Einschätzung zutrifft, dann stellt sich die Frage, an wen man sich hier bei uns wenden würde. Wo findet ein evangelischer Pfarrer kompetente Unterstützung, wenn er das Gefühl hat, dass ein seelsorgerliches Problem nicht mit den gängigen psychologischen und (pastoral-)theologischen Kategorien bearbeitet werden kann, wenn er fremdartige Erfahrungen anderer nicht pauschal als Wahn abqualifizieren möchte? Und was ist mit den vielen Menschen bei uns, die aus anderen Kulturen stammen, in denen die mythische Matrix noch ganz lebendig ist?

Beim Lesen habe ich mich unter anderem gefragt: Wohin geht man hier bei uns mit solchen Erlebnissen – zum Weltanschauungsbeauftragten? Genügt es, Menschen primär zu informieren? Gibt es ein offizielles Forum, in dem dieses Themenfeld diskutiert und konkrete Hilfsangebote auf den Weg gebracht werden? Warum machen die – ich schätze mal: ebenso gebildeten und aufgeklärten – Engländer so etwas Heikles und setzen sich damit anscheinend lieber öffentlicher Kritik aus, als das unübersichtliche Feld anderen, meist obskuren Akteuren zu überlassen, die sich mit einer ungesunden Faszination für alles „Übernatürliche“ oder ihren unreflektierten und oft mit allerlei Ängsten und Vorurteilen befrachteten Dämonologien nur allzu gern darauf stürzen würden?

Eins jedenfalls lässt sich schon jetzt sagen: Rickmans Pfarrerin ist keine schlechte Werbung für die CofE. Vielleicht hilft ja auch die Romanlektüre schon ein bisschen, das verlegene Schweigen in den Kirchen etwas aufzuweichen?

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